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Aufsatz in den »Deutschen Stimmen«. 24. 8. 1919
In den »Unterhaltungen am Abendtisch«, jenen gedankenvollen Überlegungen Peter Käuzleins, ist der tiefe Eindruck geschildert worden, der von der Persönlichkeit des vierten Kanzlers ausging und der ihm viele persönliche Freunde, namentlich in den Kreisen der deutschen Intellektuellen, warb. In der Tat ist gerade bei Bethmann der Mensch und die Persönlichkeit von dem Staatsmanne nicht zu trennen. Den Vorzügen seiner Persönlichkeit, in privatem Maßstab gemessen, entspringen zum Teil seine politischen Fehler. Allerdings war auch die Persönlichkeit und ihr äußerer Eindruck ein ganz anderer, als ihn sich die meisten vorstellen. Der Außenwelt erschien Bethmann Hollweg vielfach als der ruhige, abgeklärte Philosoph, den großzügige Objektivität über den Hader der Parteien wegtrug, und der sich sein Urteil über Dinge und Personen nach der Weltanschauung formte, der er anhing. Nichts ist falscher als dieses Bild des leidenschaftslosen, objektiv kühlen Beobachters der Dinge. Mindestens falsch, wenn es den Bethmann der Zeit kennzeichnen will, in welcher ihm die Kanzlerwürde Deutschlands anvertraut war. In dieser Zeit lebte in ihm eine bis zu vulkanischen Ausbrüchen sich steigernde, ihn beherrschende Erregtheit, die namentlich dann den ganzen Mann gefangennahm, wenn er glaubte, daß der Kampf gegen ihn als Person geführt würde. Ein bekannter politischer Schriftsteller, der den Reichskanzler sprechen wollte, fand ihn in höchster Erregung im Zimmer auf- und abgehend, weil ihn ein nationalliberaler Geschichtsprofessor in Leipzig in einer Artikelserie angegriffen hatte. Auf das Bitterste beklagte er sich einmal Bassermann gegenüber darüber, daß die Witzblätter ihn karikierten oder seine Person in falschem Licht erscheinen ließen. In den Sitzungen des Hauptausschusses versuchte er vergeblich, die innere Erregung durch fortwährendes Rauchen zu dämpfen; an der Art, wie seine Gesichtszüge sie widerspiegelten, ersah man deutlich, wie leidenschaftlich ihn der dort ausgetragene Kampf bewegte. Das ist der Kanzler, wie ihn der englische Botschafter, Sir Goschen, schildert, der auf den Tisch schlägt und der seinen Gegenpartner gar nicht zu Worte kommen läßt, und der in heißen, in ihrer Tragweite von ihm nicht erfaßten Sätzen seine Anklagen hinausstößt.
Diese Leidenschaftlichkeit seines Wesens entsprang guten Charaktereigenschaften. Der Staatsmann Bethmann war von einem strengen Verantwortlichkeitsgefühl erfüllt, auf ihm lastete wie ein Alp die Sorge um Deutschlands Zukunft. Der kühlen Realpolitik, die in dem Foreign Office in London ebenso zu Hause ist, wie in den Diplomatien aller anderen Länder, war er aber schon deshalb nicht gewachsen, weil er da die Auffassungen des Privatmannes als Maßstab anlegte, wo es sich um große Politik handelte. Ein Beispiel dafür ist die in seinem Buch angeführte Klage, daß es ihm als ein ungewöhnlicher diplomatischer Brauch erschienen sei, daß Privatgespräche amtlich ausgebeutet würden. Man bedenke die Situation: Vor dem Beginn des Weltkrieges spricht der Kanzler des Reiches mit dem englischen Botschafter über den Gesamtkomplex der politischen Fragen. Er erörtert die von England in den Vordergrund gestellte Frage der belgischen Neutralität, bezeichnet diese im Vergleich zu dem furchtbaren Ereignis eines deutsch-englischen Krieges als einen Fetzen Papier, »a scrap of paper«, und glaubt, daß dieses Gespräch den Charakter einer privaten und persönlichen Aussprache haben könne, anstatt als selbstverständlich anzunehmen, daß jedes Wort dieser Unterredung Weltbedeutung erlangen könne!
Denselben Fehler begeht der Kanzler in seiner ersten Rede, in der er Deutschland mit der Schuld an Belgien durch das unglückselige Wort vom »Unrecht an Belgien« behaftet, das der englischen Propaganda geradezu in die Hände spielte und die Grundlage für den ganzen gegen Deutschland geführten Presse-Feldzug der Entente lieferte.
Bethmann selbst bemüht sich, in seinen »Betrachtungen zum Weltkrieg« darzulegen, daß der ganze englische Diplomatenkreis längst einen Vorwand suchte, um in einen Weltkrieg einzugreifen, in den Deutschland hineinmanövriert werden sollte, er bringt dafür überzeugende Beweise vor. Aber gerade wenn er davon überzeugt war, daß England nur einen Vorwand suchte, um sein imperialistisches Streben der Vernichtung Deutschlands hinter sentimentalen Floskeln zu bergen, dann durfte er niemals jenes verhängnisvolle Wort sprechen. Er irrt sich, wenn er in seinen Betrachtungen behauptet, daß die unermeßlichen Nachteile, die seine Rede Deutschland gebracht hat, nur in der Vorstellung seiner politischen Gegner existierten. Die Verantwortlichkeit, die er selber fühlte, hieß es auch ziemlich unpolitisch auf andere übertragen, wenn er das Eingreifen Englands in den Weltkrieg deshalb nicht annahm, weil er glaubte, »daß auch England, vor die allerletzte Entscheidung gestellt, die Erhaltung des Weltfriedens höher schätzen werde, als seine Freundschaften«. Er sieht überall bei seinen Feinden auch da noch die Ehrlichkeit, wo die Feinde selbst sich gar nicht mehr die Mühe geben, die Anerkennung dieser Ehrlichkeit zu beanspruchen. Eine dem ehemaligen englischen Kriegsminister Haldane nahestehende Seite legte in Veröffentlichungen in der englischen Presse dar, daß es bei den Berliner Besuchen Haldanes Aufgabe gewesen sei, die Deutschen bei guter Laune zu erhalten, während England seine Rüstungen für den Kriegsfall vollendete. Trotzdem sagt Bethmann: »Meinerseits neige ich auch heute zu der Ansicht, daß auf englischer Seite ein ehrlicher Verständigungsversuch vorlag.« Dieselbe politische Treuherzigkeit zeigt sich bekanntlich auch in der Denkschrift zum deutschen Weißbuch, in der gesagt war, England habe Schulter an Schulter mit uns für den Frieden gearbeitet. Jetzt ist Bethmann in seinen Betrachtungen gezwungen, dieses Anerkenntnis zurückzunehmen, und zwar, wie er sagt, auf Grund der eigenen amtlichen Veröffentlichungen unserer Gegner. Beinahe naiv mutet es dabei an, wenn er davon spricht, daß in der englischen Publizistik diese Darstellung des deutschen Weißbuches mehrfach als deutsche Anerkennung englischer Friedensliebe verwertet worden sei. An einer anderen Stelle sagt Bethmann, daß er sich wohl bewußt sei, einer geschickten Regie nicht fähig zu sein. Allerdings! Auf der einen Seite die Selbstanklage wegen des an Belgien begangenen Unrechts, auf der andern Seite die für feindliche Propaganda ebenso verwertbare Äußerung von dem »scrap of paper« und dann in dem amtlichen deutschen Weißbuch die Anerkennung für den grimmigsten Feind, daß er ehrlich für den Frieden gearbeitet habe. Mehr an ungeschickter Regie war in den ersten Tagen des Weltkrieges wohl nicht möglich. Es bedurfte nicht der Geschicklichkeit eines Lord Northcliffe, um Deutschland von feindlicher Seite aus ins Unrecht zu setzen, nachdem sein eigener Kanzler dem Feinde derartig die Waffen dazu geliefert hatte.
Zu den Fragen der weltpolitischen Regie gehörte die Frage der Kriegserklärung an Rußland. Bethmann stellte es so dar, als wenn er sich als Politiker in dieser Frage dem Urteil der militärischen Instanzen, namentlich des Generals von Moltke, gebeugt hätte, der für die Kriegserklärung gewesen wäre, weil unser für den Zweifrontenkrieg berechneter Mobilmachungsplan die sofortige Vornahme kriegerischer Handlungen vorsah. »Seiner Ansicht habe ich mich angeschlossen.« Ist Bethmanns Rolle bei dieser Kriegserklärung wirklich eine so passive gewesen? Soviel ich weiß, hat der Kanzler in jenen unheilschwangeren Tagen gegenüber seiner nächsten Umgebung gar kein Hehl daraus gemacht, daß er sich von der Kriegserklärung gegen Rußland große Vorteile in bezug auf die Stellung der Sozialdemokratie zum Kriege verspreche, vielleicht in Erinnerung an den bekannten Ausspruch Bebels, der auch die Flinte über die Schulter nehmen wollte, wenn es sich darum handelte, gegen den russischen Zarismus zu marschieren. Der verstorbene Ballin hat seinen Freunden gegenüber die Szene geschildert, wie der Kanzler den bewährten Geheimen Rat Kriege, den Chef der juristischen Abteilung im Auswärtigen Amt, ersuchte, die Kriegserklärung an Rußland zu formulieren, während Ballin selbst ihm davon abgeraten habe. Wiederholt ist auch in der Presse ohne Widerspruch Bethmanns behauptet worden, daß Herr von Tirpitz zu denen gehört habe, die den Kanzler gemahnt hatten, sich mit der Kriegserklärung an Rußland nicht zu überstürzen. Die Darlegung Bethmanns befriedigt daher in diesem Punkte nicht. Gerade weil es feststand, daß Rußland den Krieg gegen Deutschland wollte, gerade weil wir uns in jenen Tagen de facto bereits im Kriegszustand mit Rußland befanden, war es unverzeihlich, uns mit dem Odium dieser Kriegserklärung und ihren Folgen auf unsere Bündnisverträge zu belasten.
Wer Bethmanns Stellung zu den Fragen der innern Politik kennt, auf die er in seinen Betrachtungen selbst nur kurz eingeht, der weiß, wie nahe ihm solche Gedankengänge lagen, die in den Mitteilungen Ballins angedeutet sind. Er wollte die Sozialdemokratie zur positiven Mitarbeit im deutschen Staatsleben erziehen. Schon als Staatssekretär des Innern hatte er ein tiefes Verständnis für die Bedeutung, welche die gewerkschaftliche Mitarbeit am Staatsganzen für die Aplanierung der sozialen Gegensätze und für eine verständige Fortentwicklung der deutschen Politik haben konnte. Ich entsinne mich eines Abends, den ich im Hause des Staatssekretärs von Bethmann Hollweg zubrachte und an dem er seiner großen Freude darüber Ausdruck gab, mit mir, in dem er einen Vertreter des einseitigen Arbeitgeber-Standpunktes zu sehen glaubte, in dieser Auffassung übereinzustimmen. Nur irrte er darin, daß er glaubte, in den Augusttagen 1914 einen besonderen Anreiz nötig zu haben, um die Sozialdemokratie für die Zustimmung zu den Kriegskrediten und, was wichtiger war, für das begeisterungsvolle Eintreten für Deutschlands Recht zu gewinnen. Wer jene Tage vor seinem Geiste neu erstehen läßt, der weiß, daß es damals keinen Abgeordneten gab, der es hätte wagen können, sich gegen den Krieg auszusprechen; die Woge der Volksleidenschaft würde über ihn hinweggebraust sein. Fragen der innern Politik lagen damals dem Deutschen weltentfernt und hätten bei niemandem Interesse gefunden. Erst später, als es sich zeigte, daß wir einen langen, langen Krieg würden führen müssen, da tauchten diese Fragen auf, und man überlegte in den Kreisen der Regierung, was geschehen müsse, um die Sozialdemokratie bei der Stange zu halten und zu gewährleisten, daß die Volkseinheit bis zum Ende des Krieges erhalten bleibe. Über die Stellung Bethmanns zu diesen Fragen werden wohl die nächsten Bände seiner Betrachtungen Auskunft geben. Aber schon hier seien einige Bemerkungen gestattet, zumal der frühere Kanzler im ersten Teile seiner Betrachtungen die preußische Wahlrechtsfrage erwähnt, allerdings nur insoweit, als er die vor dem Kriege liegenden Kämpfe um die Reform des preußischen Wahlrechts berührt. »Mit der Reform des preußischen Wahlrechts hoffte ich ein Haupthindernis gesunder Entwicklung aus dem Wege zu räumen. Die Reform scheiterte an dem mit einer Taktik der Überraschungen verbundenen Widerstand der Konservativen und an Schwierigkeiten, die die Nationalliberalen in parteipolitischem Interesse erheben zu müssen glaubten. Die Modalitäten aber, unter denen das Gesetz fiel, machten jede baldige Erneuerung des Versuches, weil aussichtslos, unmöglich.«
Es lohnt sich, bei diesen wenigen, aber inhaltsschweren Sätzen, mit denen Bethmann hier die Frage der einstigen Kämpfe um das preußische Wahlrecht erwähnt, zu verweilen, und zwar deshalb, weil sie ein bezeichnendes Licht auf Bethmanns Persönlichkeit werfen. Was aus diesen Sätzen spricht, ist doch nichts anderes als entschlußlose, kampfesmüde Resignation. Wie anders würde ein Bismarck den Kampf für eine Reform des Wahlrechts durchgeführt haben, wenn es für ihn gegolten hätte, ein »Haupthindernis gesunder Entwicklung aus dem Wege zu räumen!« Eine einzige Auflösung des preußischen Abgeordnetenhauses mit der Parole der Reform des Wahlrechts hätte dem Kanzler, wenn er die ihm zur Verfügung stehenden Mittel anwendete, jeden Erfolg gebracht, den er brauchte. Nicht nur das Zentrum, sondern auch die Nationalliberale Partei hätte ihm dabei Gefolgschaft leisten müssen, denn der Einfluß des wahlrechtsgegnerischen Teils der Nationalliberalen Fraktion des Preußischen Abgeordnetenhauses wäre auf einem Parteitage, sobald die Frage der Abschaffung des Dreiklassen-Wahlrechts in die Debatte geworfen worden wäre, minimal gewesen. Nur mußte im Volke die Überzeugung wurzeln, daß die Regierung gewillt war, den Kampf mit rücksichtsloser Entschlossenheit zu führen. Die Führung dieses Kampfes mußte in den Händen des Kanzlers liegen. Gewiß waren die Widerstände groß und gewaltig, aber es galt, ihnen nicht auszuweichen, sondern sie zu überwinden. Davon merkt man auch in den jetzigen rückblickenden Betrachtungen keinen Hauch. Der Kanzler Bethmann war vollkommen davon überzeugt, daß dem Staate durch die konservative Politik schwere Wunden geschlagen würden, aber er hatte nicht die Kraft, seine Überzeugung den Widerständen zum Trotz zum Siege zu führen.
Dieselbe Wesensart des Kanzlers zeigt sich auch in seinem Buche in andern entscheidenden Fragen. In lapidarem Stil gibt Bethmann ein Bild seiner Auffassung der Flottenfrage. Wörtlich sagt er darüber: »Der Reichstag hat für die Marine seit der Annahme des grundlegenden Flottengesetzes stets eine freigebige Hand gehabt. Seegeltung war ein Zauberwort, dem auch mancher jener Parlamentarier nicht widerstand, deren Kritik sich sonst bis auf die kleinsten Positionen des Etats erstreckte. Im Lande wuchs mit der zunehmenden Entfernung von der Wasserkante der Schimmer der Romantik, der alles Seemännische umgab. Die Flotte war das Lieblingskind Deutschlands, in ihr schienen sich am lebendigsten die vorwärtsstrebenden Kräfte der Nation darzustellen. Leistungen modernster Technik und sorgfältig erwogener Organisation wurden mit Recht bewundert. Zweifel eines engeren Kreises von Sachverständigen, ob wir mit dem Bau von Großkampfschiffen überhaupt auf dem richtigen Wege waren, kamen gegenüber einer fanatischen, im Dienste der herrschenden Richtung disziplinierten Publizistik nicht auf. Bedenken über die schwere internationale Belastung, die sich aus unserer Flottenpolitik ergeben hatten, wurden durch eine robuste Agitation niedergehalten. In der Flotte selbst war nicht überall das Bewußtsein wach, daß sie nur Werkzeug, nicht aber bestimmender Faktor der Politik zu sein hatte. Ihre Leitung lag seit langen Jahren in der Hand eines Mannes, der über sein Ressort hinaus politische Autorität beanspruchte und das politische Denken weiter Kreise nachhaltig beeinflußte. Wo Differenzen zwischen der Marine und der politischen Leitung sich andeuteten, trat die öffentliche Meinung fast ohne Ausnahme auf die Seite der ersteren. Erwägung der internationalen Kräfteverhältnisse galt leicht als schwachmütige Rücksichtnahme auf das Ausland.«
Wer zwischen den Zeilen liest, wird keinen Augenblick darüber zweifeln, daß Bethmann zu denen gehörte, die Gegner einer starken Flottenpolitik waren. Trotzdem machte er sie mit, weil er nicht die Kraft in sich fühlte, sich der öffentlichen Meinung zu widersetzen. Gegen ihn standen nach seinen eigenen Worten die Romantik, die alles Seemännische umgab und die Flotte volkstümlich mache, ferner »eine fanatische Publizistik im Dienste der herrschenden Richtung, eine Agitation und eine Persönlichkeit, die das politische Denken weiter Kreise nachhaltig beeinflußte«. Mit andern Worten: Das Schiff des Kanzlers wurde in die Richtung getrieben, die die Wogen der öffentlichen Meinung angaben. Er selbst wußte nicht das Schiff dahin zu steuern, wohin es seiner Meinung nach gelangen mußte. Auch hier keine kräftige eigene Politik, sondern dieselbe müde Resignation, die ihn in der Wahlrechtsfrage nicht vorwärtsbrachte.
Dieselbe Situation hat sich schließlich für ihn in der Frage des unbeschränkten Unterseeboot-Krieges ergeben. Er hat für diesen unbeschränkten U-Bootkrieg im Hauptausschuß des Reichstages am 30. Januar 1917 mit allen Mitteln seiner Beredsamkeit gekämpft. Politische Feinde, die auch seinen Charakter anzweifeln, haben ihm hieraus den schwersten Vorwurf gemacht, weil sie behaupteten, daß er gegen seine Überzeugung gesprochen habe, um im Amte zu bleiben. Man wird hierauf zurückkommen müssen, wenn diese Fragen im Zusammenhang der Veröffentlichungen von Bethmann und Helfferich weiter zur Debatte stehen werden. Diejenigen, die sich bemühten, in die Seele des Kanzlers einzudringen, haben eine andere Charakteristik von ihm gegeben. Sie schilderten ihn als den mit einem schweren Verantwortlichkeitsgefühl ringenden Mann, dem bei jedem Schritt, den er vorhatte, die Gründe und Gegengründe einer Aktion so plastisch vor Augen standen, daß er aus Furcht vor einem falschen Schritt entschlußlos wurde. Das mag den Menschen Bethmann als Träger der Gewissenhaftigkeit entlasten, es belastet aber aufs schwerste den Politiker; denn nichts Schlimmeres gibt es zu schwankender Zeit als den schwankend gesinnten Leiter eines Staates und eines Volkes.
Dieses Schwanken zeigt sich vor allem in jenen Fragen der inneren Politik, die uns schließlich zerrissen haben. Wir sind in die Revolution hineingetrieben worden, ohne daß bis zum 9. November 1918 an dem Dreiklassen-Wahlrecht in Preußen etwas geändert war. Es wäre eine Tat gewesen, wenn der Kaiser am 1. August 1914 mit einer großen politischen Geste das gleiche Wahlrecht in Preußen als Äquivalent für die von jedem Bürger geforderte gleiche Leistung des Kriegsdienstes proklamiert hätte. Man hätte ebenso den Grundsatz verfechten können, daß während eines Krieges auf Leben und Tod alle Fragen der innern Politik zu schweigen hätten. Bethmann ging einen andern Weg. In allgemeinen Redewendungen und dabei in großen verheißungsvollen Worten sprach er von dem gewaltigen innern Erlebnis des Krieges, das die alten Formen sprengen und Neues gestalten müsse. Er wies dadurch dem Denken des Volkes geradezu den Weg politischer Reformen, ohne sie jedoch rechtzeitig in Angriff zu nehmen. Als sie in Angriff genommen wurden, geschah es in halber Weise, so daß die Agitation dadurch nicht entgiftet werden konnte, bis schließlich die letzten Monate des Krieges eine Zersetzung der politischen Parteiarbeit im Innern sahen, die die Vorstufe zu jenem Zusammenbruch der Seelenstimmung des deutschen Volkes darstellte, die uns zur Revolution und mit der Revolution zum Frieden von Versailles geführt hat.
Bei all dieser Kritik soll nicht verkannt werden, wie große Schwierigkeiten die innere Struktur des alten Deutschland einem Kanzler in den Weg legte. Fürst Bülow hat einmal in einer Unterredung mit Bassermann zum Ausdruck gebracht, daß das Bild seines persönlichen Wirkens deshalb vielfach in den Augen der Öffentlichkeit ein schiefes sei, weil man nicht bedenke, wie schwer sich das Reich angesichts der bundesstaatlichen Zersplitterung auf der einen Seite, des Fehlens einer sicheren Parlamentsmehrheit auf der andern Seite und schließlich wegen des unsichern Faktors des Kaisers und seiner Umgebung regieren ließe. »Wenn man wissen wollte, was ich heute leisten kann, dann hätte man mir eine genügende Spanne Zeit geben sollen, um in Art eines englischen Ministerpräsidenten, gestützt auf eine Mehrheit im Parlament, meine Ideen auch wirklich durchführen zu können.« Das Unglück der deutschen Politik liegt in jenen 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, in denen die staatenbildende Politik eines Bismarck kein Verständnis im Parlament fand. Dadurch wurde der Kampf für das neue Preußen ein Kampf des Königs und des Kanzlers gegen sein Parlament, dadurch entstand auch später eine Reichsverfassung, die vielfach auf die Person des Kanzlers zugeschnitten war und die uns nach außen die große Zeit Deutschlands brachte, solange ein Bismarck an der Spitze der Reichspolitik stand und das vertrauensvolle Zusammenwirken zwischen dem alten Kaiser und seinem Kanzler anhielt, die aber mehr und mehr versagte, als die Epigonen an die Stelle des Großen traten und das unter Bismarck niedergehaltene Parlament, das nie das Bewußtsein politischer Verantwortlichkeit in sich trug, zu dieser Verantwortlichkeit herangezogen werden mußte. Hätten wir auch nur 50 Jahre lang das parlamentarische System in Deutschland und Preußen gehabt, dann wäre den Nachfolgern Bismarcks das Regieren leichter geworden. So waren die Gewalten, die regieren sollten, völlig unausgeglichen, und der in unserer Verfassung liegenden Schwierigkeiten konnte nur ein überragender Kanzler Herr werden. Diese überragende Persönlichkeit war Bethmann nicht, zumal zu den Fehlern falscher politischer Orientierung und des Mangels an politischem Instinkt auch jene dem Kampf ausweichende Resignation trat, die sich in allen Phasen seines Wirkens zeigt. Dazu trat ein gewisses eigensinniges Beharren auf dem einmal von ihm eingeschlagenen Weg und die Empfindlichkeit über jede sachliche Gegnerschaft, die als persönlich von ihm gedeutet wurde. Es schien, als wenn Bethmann als einstiger primus omnium von Schulpforta auch für die Zeit seiner politischen Wirksamkeit das Bewußtsein in sich trug, der erste zu sein, und es als Anmaßung ansah, wenn ihm Kritik da begegnete, wo er glaubte, den rechten Weg gefunden zu haben.
An verschiedenen Stellen beschäftigt sich Bethmann in seinem Werke mit der Nationalliberalen Partei. Hierbei unterliegt auch er, der sich sonst in seinen »Betrachtungen« von jeder Leidenschaftlichkeit fernhält und zu Objektivität zu zwingen sucht, leider dem Schlagwort. So spricht er davon, daß bei den Nationalliberalen der Einfluß der Großindustrie überwogen habe, und macht ihnen beispielsweise zum Vorwurf, daß sie bei Behandlung der marokkanischen Frage für engbegrenzte industrielle Interessen die Politik des Landes hätten in Anspruch nehmen wollen. An anderer Stelle wird das Wort Großindustrie durch das Schlagwort der Schwerindustrie ersetzt. Bethmann weiß, daß zu jener Zeit, als die marokkanische Frage im Reichstag erörtert wurde, die Nationalliberale Fraktion durch Bassermann und mich vertreten war. Gerade zu jener Zeit führten die sogenannten schwerindustriellen Kreise einen ganz ausgesprochenen Kampf gegen Bassermann und mich, der in einer heftigen Rede Dr. Bäumers im Preußischen Abgeordnetenhaus und in aggressiven, rein persönlich zugespitzten Angriffen des Generalsekretärs des Zentralverbandes deutscher Industrieller, Bueck, zum Ausdruck kam. Die beiden Nationalliberalen Fraktionen des Reichstages und Landtages traten 1908 zu einer Sitzung zusammen, um einen Ausgleich herbeizuführen, ohne daß dieser Versuch einen praktischen Erfolg hatte. Wie sehr diese Gegensätze empfunden wurden, das hat mir sachliche und persönliche Gegnerschaft gezeigt, mit der mich einzelne Vertreter der deutschen Schwerindustrie im Kriege und bis jetzt nach dem Kriege bekämpft haben. Denselben Angriffen, wenn auch nicht mit gleicher Heftigkeit, war Bassermann, der als süddeutscher Demokrat verschrien wurde, bis zum Kriege stets ausgesetzt. Es geht daher wahrlich nicht an, wie Bethmann es in seinen Betrachtungen tut, die Stellung Bassermanns und meine Stellung zu Fragen der auswärtigen Politik als Ausfluß schwerindustrieller Beeinflussung hinzustellen.
Das sind einige Betrachtungen, zu denen Bethmanns Buch den Politiker anregt. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, ein Gegner der Bethmannschen Politik zu sein, und habe das auch zu jeder Zeit offen zum Ausdruck gebracht. Das hindert nicht, das ehrliche Streben und Ringen einer Persönlichkeit anzuerkennen, deren Anziehungskraft auch aus diesem Buche spricht. Die Verhältnisse waren stärker als der Mensch, der, in schicksalsschwerer Zeit auf hohe Warte gestellt, mit ehrlichem Bemühen die Aufgaben erfüllen wollte, die ihm gestellt waren, dessen Kräfte aber an dieser Stelle versagten und nach der Art seiner Persönlichkeit versagen mußten.
Das ist das Bild des Politikers und des Menschen Bethmann, das aus seinem Buche spricht. Ein Wort aber sei noch dem Schriftsteller Bethmann gewidmet. Wer sich seiner Kriegsreden erinnert, der wird wissen, daß es ihm oft gelang, den Ton zu finden, der in der deutschen Seele widerhallte. Das gilt auch von vielen Teilen seiner »Betrachtungen zum Weltkriege«. In einer prägnanten, scharfen Darstellung, die alles Unwesentliche vermeidet, zeigt er sich als ein Meister des Wortes und einer hohen Darstellungsweise und das Schlußkapitel erhebt sich gegenüber unseren Feinden zu anklagender Größe. Für die Worte, die er hier findet, werden ihm noch diejenigen dankbar sein, die den Staatsmann Bethmann bekämpfen mußten, weil sie erkannten, daß seine Politik zum Scheitern verurteilt war.