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1910.

Deutsch-englische Schicksalsgemeinschaft

Reichstagsrede. 15.3.1910

Die weltwirtschaftlichen Verhältnisse kommen in erster Linie zum Ausdruck in dem, was gewissermaßen im Mittelpunkt der gesamten Erörterungen steht, in dem Verhältnis zwischen England und dem Deutschen Reiche. Man hat sich – und ich meine, viel zu einseitig – daran gewöhnt, in den beiden Ländern weiter nichts zu sehen als zwei Mächte, die miteinander ringen um die Welt und die auf Schritt und Tritt sich gegenüberfinden als Wettbewerber und als Konkurrenten. Gewiß mag auf den ersten Augenblick diese Annahme bestechend erscheinen. Es gibt wohl kaum zwei Nationen, deren wirtschaftliche Struktur so verwandt ist wie diejenige Englands und diejenige Deutschlands. Dort ein Industriestaat, so weit fortgeschritten bereits in der Industrialisierung, daß nur noch dreizehn Prozent zur Landwirtschaft gehören; also ein Bild etwa wie bei uns die Teile des Königreichs Sachsen und einige thüringische industrielle Bezirke, aber fundiert auf einem großen, mächtigen Kolonialbesitz. Hier bei uns ein Verhältnis von Industrie und Landwirtschaft wie 2 zu 1, aber 11 Millionen in der Industrie tätig und eine Volkswirtschaft, die angewiesen ist auf einen Milliardenexport, mit dem wir unsere volkswirtschaftlichen Schulden bezahlen müssen.

Meine Herren, ich weiß, es gibt ja in unseren Reihen viele, die da glauben, daß dieses Bild, das das England der Gegenwart bildet, einmal das Bild sein wird, das das Deutsche Reich bieten wird in den nächsten Jahrzehnten. Ich glaube, es gibt kaum einen Stand, der ein solches Interesse hätte, sich gegen eine solche Entwicklung zu wehren, wie die deutsche Industrie. Wir haben gerade vom industriellen Standpunkt aus – das zeigen die Schwierigkeiten unserer Exportpolitik – gar kein Interesse daran, eine forcierte Exportpolitik zu treiben mit der Richtung, die Landwirtschaft in ihrer Bedeutung herabzudrücken oder vollständig alles auf eine Karte des Exports zu setzen und den inneren Markt dabei zu vernachlässigen. Wenn England eine solche Politik getrieben hat, so konnte das England tun, weil England für diese Exportpolitik eine große, mächtige Fundierung hat in seinem weltbeherrschenden Kolonialbesitz. Das haben wir nicht, und das eine ist uns doch stets bedeutungsvoll erschienen, daß in der Zeit vor zwei Jahren, als wir hier litten unter dem Nachlassen der Kaufkraft in Amerika, doch die Wirkungen dieser Weltkrisis sich im Deutschen Reich weniger spürbar machten als in England, daß die Ziffer der Arbeitslosigkeit hier niemals denjenigen Umfang angenommen hat, wie es drüben der Fall war. Wir wissen nicht, ob es uns gelingen wird, dasjenige aus unseren Kolonien wirtschaftlich herauszuholen, was wir erhoffen. Wir wissen nicht, ob in diesem Sinne unsere Kolonien einmal zu denjenigen Faktoren werden, mit denen wir z. B. einen günstigen Handelsvertrag mit Amerika durchsetzen oder unsere Unabhängigkeit vom Rohstoffmarkt erringen. Solange das aber nicht der Fall ist, so lange wäre es für uns verhängnisvoll, etwa eine Entwicklung anzustreben, wie sie England ertragen kann, wie sie für uns perniziös werden könnte.

Meine Herren, dieses Verhältnis zwischen England und Deutschland wird meist nur angesehen – und daraus entspringen so viele schiefe Urteile – unter dem Gesichtspunkt des beiderseitigen Wettbewerbs. Als im vorigen Jahre Fürst Bülow hier die trockenen Ziffern der Statistik über den Güterverkehr zwischen England und Deutschland vortrug, wunderte sich mancher, daß die große Rede der auswärtigen Politik mit einer solchen Betrachtung eingeleitet wurde. Nüchtern sind vielleicht diese Ziffern, aber doch andererseits vielleicht diejenige Sprache, die am eindringlichsten spricht, und die zeigt, daß wir in Deutschland zehn Prozent der gesamten englischen Ausfuhr aufnehmen, und daß, wenn wir den Verkehr in Betracht ziehen, der zwischen England und seinen Kolonien und dem Deutschen Reiche besteht im gegenseitigen Austausch der Güter, es sich um einen Milliardenaustausch handelt, an dem England mit seinen Kolonien noch mehr beteiligt ist, als das Deutsche Reich. Wenn daher in der englischen Wahlagitation das Moment gebraucht wird, daß man dem englischen Arbeiter sagt: Du wirst um ein Pfund Sterling reicher, wenn es uns gelingt, Deutschland wirtschaftlich zu schwächen, – dann ist das nicht nur aufhetzend, sondern es ist sachlich falsch.

Jede Politik, die jemals bewußt oder unbewußt in England getrieben würde, mit dem Endziele, Deutschland wirtschaftlich herunterzudrücken, würde sich in der englischen Handelsbilanz geltend machen. Sie würde in einer Verminderung der Kaufkraft Deutschlands zum Ausdruck kommen und in einer Senkung des Standard of life des englischen Arbeiters, und zweifelhaft ist mir und ungewiß, ob der englische Markt im Ringen um neu entstehende Kulturgebiete das wieder gewinnt, was er verlieren könnte, wenn Deutschland mit seinen wirtschaftlichen Quellen, Deutschland in seiner Konsumtionskraft ihm gegenüber geschwächt wird.

Wenn diese Anschauung einmal in beiden Ländern geltend würde, daß das, was sich entwickelt hat, auf der Grundlage des fair play tatsächlich geworden ist, daß wir in keiner Weise durch eine England gegenüber irgendwie wirtschaftspolitisch oder politisch unfaire Politik zu derjenigen Stellung auf dem Weltmarkt gekommen sind, auf die wir es in den letzten 30 Jahren gebracht haben, dann wird das, glaube ich, vieles auslösen können von derjenigen Spannung, die manchmal zwischen den beiden Völkern gelegen hat. Es ist vielleicht auch ein Fehler, daß manchmal in Überschätzung dessen, was bei uns geworden ist, und in einer Verkleinerung der relativen Ziffern diese deutsche Entwicklung so dargestellt wird, als wären wir nun an Stelle Englands getreten oder wollten über Nacht seine Stellung auf dem Weltmarkt einnehmen. Die Ausfuhr Englands nach seinen Kolonien ist z. B. seit 1896, wenn wir die absoluten Ziffern nehmen, um 45 Millionen Pfund, unsere Ausfuhr nach unseren Kolonien um 4,4 Millionen Pfund gestiegen. Nach außereuropäischen Ländern ist die Englands um 20 Millionen, die unsrige um 13,6 Millionen Pfund gestiegen. Worauf das beruht, was bei uns vorwärtsschreitende Entwicklung ist, das ist der Verkehr nach europäischen Ländern, wo allerdings einer englischen Steigerung um 62 Millionen Pfund eine deutsche um 86 Millionen Pfund gegenübersteht. Das ist aber daraus zu erklären, daß wir nach diesen Ländern günstigere Frachtverhältnisse haben.

Was beiden Ländern in der Zukunft bevorsteht, das ist die große Aufgabe, für ihre gesamte wachsende Bevölkerung Nahrungsmöglichkeit zu schaffen, jenes alte Menschheitsproblem, auf dem gleichen Boden eine immer weiter wachsende Zahl von Menschen zu ernähren, möglichst zu ernähren in einer besseren Art, als frühere Zeiten das gesehen haben.

Und so begegnen wir uns in China, wir begegnen uns in Kleinasien, wir begegnen uns auf allen denjenigen Gebieten, wo wir sehen, daß Völker zur Kultur aufsteigen, daß mit dieser aufsteigenden Kultur ihre Bedürfnisse wachsen an Wohnung, Kleidung usw., und wir, die wir in unserer Existenz darauf angewiesen sind, daß wir vom Überschuß dessen, was bei uns erzeugt wird, abgeben, wir haben beide ein Lebensinteresse daran, diese Völker emporzuentwickeln und uns unsererseits unsern Anteil zu sichern. Würde nicht sowohl der Weltfriede als die wirtschaftliche Entwicklung beider Länder am besten dadurch gesichert, daß sie beide Schulter an Schulter und Hand in Hand ah unter denselben Bedingungen für die Zukunft kämpfend sich über dasjenige verständigten, was uns die nächsten Jahrzehnte an Möglichkeiten des Güteraustausches mit der Welt geben?

Meine Herren, es ist schon früher bei Erörterung dieser Frage mit Recht die Auffassung vertreten worden, daß eine wirtschaftspolitische Entente zwischen diesen beiden Ländern viel wichtiger wäre als eine Verständigung über das Maß der Rüstungen, von der der Freiherr von Hertling sagte, daß der Beginn der Erörterung dieser Frage in beiden Parlamenten vielleicht das Ende des Anfangs einer deutsch-englischen Verständigung sein könnte. Eine derartige Entente in der gegenseitigen Weltwirtschaftspolitik würde von selber zu einer Detente in der Völkerpolitik führen, und wir würden damit auch, wenn wir dasjenige aus den Beziehungen beider Länder herausschaffen, was von Exaltados auf dem einen oder anderen Gebiete geleistet wird, den Grund für eine nationalpolitische Verständigung legen.

Wir stehen andererseits aber auch mit aller Entschiedenheit auf dem Standpunkt, den Fürst Bülow bei der Debatte über die Flottenabrüstung hier vertreten hat, daß wir uns das selbstverständliche Recht wahren wollen, über unsere eigenen Angelegenheiten nicht mit dem Auslande zu debattieren. Unter diesem Gesichtspunkte, den der Kollege Bassermann noch kürzlich bei der Beratung des Etats zum Ausdruck gebracht hat, stehen wir auch denjenigen Anregungen gegenüber, die da glauben, auf dem Wege einer derartigen formalen Verständigung dasjenige aus der Welt zu schaffen, was unserer Meinung nach in erster Linie durch eine solche wirtschaftliche Verständigung zu erreichen wäre.

Meine Herren, wie weit die Fragen der Weltwirtschaft heute unsere ganze auswärtige Politik beeinflussen, das hat ja die Rede des Herrn Grafen Kanitz gezeigt. Unsere ganzen Debatten im Deutschen Reichstag, das, was man so oft in der Öffentlichkeit beklagt, daß die rein politischen, staatsrechtlichen Fragen gegenüber den wirtschaftlichen Interessen zurücktreten, das tritt ja auch hier zutage. Politik und Völkerpolitik ist heute in erster Linie Weltwirtschaftspolitik. Von diesem Gesichtspunkte aus möchte ich doch die Frage aufwerfen, ob die Tradition, die wir heute noch in bezug auf unseren diplomatischen Nachwuchs aufrechterhalten, tatsächlich die richtige ist, ob sie dem Rechnung trägt, was inzwischen anders geworden ist in der Welt. Gewiß, Herr Freiherr von Hertling sagte einmal an dieser Stelle, hundert Jahre, nachdem das deutsche Bürgertum diese großen Erfolge in gewerblicher Tätigkeit errungen hat, da wäre eine Adelsfeindschaft antiquiert. Das ist durchaus zuzugeben. Eine Adelsfeindschaft hat, glaube ich, als solche stets nur in wenigen Köpfen bestanden. Wir wollen nicht bekämpfen die Heranziehung des Adels. Was wir bekämpfen, ist die Zurücksetzung tüchtiger bürgerlicher Elemente; auf diesem Gebiete sollte es gar keinen Unterschied zwischen den einzelnen Parteien und den einzelnen Fraktionen geben, Das ist nicht Partei- und Fraktionspolitik, das ergibt sich eben ganz nüchtern aus jener Änderung der Verhältnisse, die hier eingetreten ist.

Ich möchte zur Bekräftigung dessen noch eins anführen. Herr Freiherr von Schoen sagte voriges Jahr: Ich kenne keinen Unterschied zwischen Adel und Bürgertum. Gewiß, wir haben das feste Vertrauen zu ihm, daß er bestrebt ist, das durchzuführen. Daß aber gegenwärtig noch eine Art Gardeprinzip auch in bezug auf die Diplomatie herrscht, das bezeugt einem ein Blick in das Staatshandbuch, das zeigt, daß alle Botschaften nur mit Adligen besetzt sind, und zwar nicht nur in bezug auf die Persönlichkeiten der Botschafter, sondern auch in bezug auf das Botschaftspersonal, in bezug auf die Herren von der Legation, die dort vertreten sind; das geht bis in die Konsulate herunter. Bei denjenigen Generalkonsulaten, die in großen Städten sind, ist der Adelige Konsul, in der Provinz ist der Bürgerliche Konsul. Das zeigt, daß doch hier ähnliche Bestrebungen vorhanden sind, gegen die wir uns beim Heere wenden, und wenn vor hundert Jahren die Verhältnisse anders lagen, damals der Gesandte der persönliche Vertreter seines Monarchen war, damals die gesellschaftliche Repräsentation noch eine ganz andere Rolle spielte, als es gegenwärtig der Fall ist, so ist das doch anders geworden. Was heute an den Brennpunkten des wirtschaftlichen Verkehrs verhandelt wird, sind vielfach Verhandlungen über Bahnbauten, Eisenbahnkonzessionen, Verhandlungen darüber, wer die Stahlschienen liefert, wer die elektrische Einrichtung in Konstantinopel besorgt, wem die Telephonanlagen zur Ausführung übergeben werden. Die wichtigsten Staatsakte gegenwärtig sind die Handelsverträge, die die Nationen untereinander abschließen, und ob unter diesen Gesichtspunkten der hohe Adel prädestiniert ist, uns in diesen Beziehungen zu vertreten, kann man bezweifeln, ohne andererseits im geringsten gegenüber den Persönlichkeiten, dem Wissen und den Bestrebungen derjenigen etwas einzuwenden, die von uns an diese Exportstellen gesetzt sind. Es gibt ein Wort, das Goethe aus dem Englischen übernommen hat, das heißt: Das Kind ist der Vater des Mannes. Damit will er wohl sagen, daß diejenigen Eindrücke, die in der Kindheitsstube eines Menschen erwachsen, ihn sein ganzes Leben hindurch beherrschen und seinem Wesen und Tun das Gepräge geben. Wenn in einer Zeit des Milliardenaustausches der Güter wir vertreten sein müssen in der Welt, so können wir erwarten, daß auch etwas von der kaufmännischen Kinderstube in diejenigen gelegt wird, die drüben Verträge abzuschließen haben, von denen das Wohl und Wehe eines großen Teils des deutschen Volks nachher mit abhängt.

Wenn man glaubt, das nicht durchführen zu können bei den Gesandtschaften, so möge man dazu greifen, die Handelsattachés und Sachverständigen zu vermehren. Hier darf meiner Meinung nach nicht gespart werden; denn hier gibt es eine Sparsamkeit, die zur volkswirtschaftlichen Vergeudung werden kann, Im vorigen Jahre ist auch von der rechten Seite dieses Hauses der Wunsch ausgesprochen, daß den Männern, die als landwirtschaftliche oder industrielle Sachverständige hinausgehen, eine Sicherheit gegeben werde für die Zukunft, daß man sie nicht kommissarisch für einzelne Jahre beschäftige, sondern, um die richtigen Persönlichkeiten zu finden, ihnen auch die Möglichkeit und die Garantie gebe, dauernd im Staatsdienst beschäftigt zu werden. Wir können sonst nicht diejenigen Persönlichkeiten finden, die wir unsererseits fordern müssen. Ich möchte bei der Gelegenheit darauf hinweisen, daß die Anerkennung über unsere Handelssachverständigen im Ausland in den Kreisen der deutschen Industrie eine einmütige ist; es ist wiederholt zum Ausdruck gebracht worden, welche rege Förderung wir denjenigen Persönlichkeiten verdanken, die uns von dort wertvolle Informationen gebracht haben. Um so mehr sollte man dieses Institut ausbauen und dafür sorgen, daß in höherem Maße noch dasjenige geschieht, was bisher geschehen ist.

Ich weiß nicht, ob von irgendeiner Partei des Hauses beabsichtigt worden ist, den Fonds für allgemeine, nicht kontrollierte Ausgaben, der von einer Million auf 1 300 000 Mark erhöht werden sollte, die dann abgestrichen wurden, wieder herzustellen nach der Regierungsvorlage. Es ist auch hier eine ganz falsche Sparsamkeit, der Regierung nicht diejenigen Mittel an die Hand zu geben, die sie unzweifelhaft gebraucht, um beispielsweise der Vergiftung der öffentlichen Meinung gegenüber Deutschland mit allen möglichen Mitteln entgegenzutreten. Mir sind erst vor kurzem Mitteilungen aus Ägypten zugegangen, wie dort gegen uns gehetzt wird, daß nur alle Mitteilungen gebracht werden, die geeignet sind, die Verhältnisse in Deutschland, die Staatspolitik Deutschlands, in ungünstigem Lichte erscheinen zu lassen, und wir mit unseren großen kommerziellen Interessen unterhalten ein Wochenblättchen dort; wir können keine Tageszeitung gründen, weil eben diejenigen, die dort Träger eines solchen Unternehmens sein könnten, die Mittel nicht allein besitzen. Wir haben doch gar keinen Grund, hier zu verheimlichen, daß wir von unserer Regierung erwarten, daß sie in solchen Fällen einspringt. Dazu ist eine Regierung da; das macht das Ausland genau so. Deshalb können wir aussprechen, daß wir das unsererseits erwarten. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn dieser Posten wieder eingestellt würde, auch wenn damit dem Herrn Reichsschatzsekretär ein Wermutstropfen in den Freudenbecher seiner Sparsamkeitsgedanken fallen sollte. An diesen Regiekosten eines Exportstaates sollte man jedenfalls nicht sparen.


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