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Zum Jahrestage der Revolution

Aus einem gleichnamigen Aufsatz in den »Deutschen Stimmen«. 9. 11. 1919

Gibt es aus dieser Trübnis keinen Ausblick in die Zukunft? Sollen wir hoffnungslos verzagen und lediglich im Traum der besseren Vergangenheit über die Gegenwart hinwegzukommen versuchen? Nein, das soll nicht sein! Nur müssen wir, wenn wir von Zukunft sprechen, mit anderem Maß messen, als mit dem Maßstab des Einzelmenschen. Stehen wir denn überhaupt am Ende der Entwicklung der Dinge in Deutschland, in Europa, in der Welt? Viele sehen die Zeit, die wir durchlebt haben, nur unter dem Gesichtspunkte des Krieges und glauben, ein neues Zeitalter mit einer Art Ewigkeitsdauer habe seit dem Frieden von Versailles begonnen. Eine solche Auffassung wird den Dingen in ihrer Gänze nicht gerecht. Schon der Weltkrieg selbst war doch nur die Fortsetzung der beiden Balkankriege, die ihm vorausgegangen sind, war doch in seinen Konstellationen undenkbar ohne den italienisch-türkischen Krieg, der das Präludium für die großen weltpolitischen Auseinandersetzungen bildete und seinerseits an den Burenkrieg anschloß, der ebenso wie der vorgenannte von weltpolitisch imperialistischen Ideen eingegeben war. Gewiß, dieser militärische Kampf ist vorläufig ausgekämpft, Deutschland hat keine militärischen Mittel, das Schicksal zu wenden, und ist im Innern sterbensmüde und matt. Aber war denn das militärische Ringen nicht wiederum ein Teil einer großen Umwälzungsbewegung in der Welt, die weit über den Kampf der Waffen hinausging? Törichter Menschenwitz will einzelne Menschen verantwortlich machen für den Ausbruch solchen Weltgeschehens, Als wenn nicht die großen Grundtatsachen der Entwicklung des letzten Jahrhunderts die Bedingungen dazu geschaffen hätten. Der Aufstieg Deutschlands zum reichen mächtigen Siebzig-Millionenvolk vor allem. Gegen dieses Deutschland kämpfte England, mit England im Bunde kämpften die Vereinigten Staaten, weil wirtschaftlich mit der Entente durch Milliardenkredite verbunden und in Deutschland den weltwirtschaftlich stärksten Nebenbuhler bekämpfend. Nunmehr aber beginnt zunächst eine neue Periode wirtschaftlicher Entwicklung, in der wir die Entente nicht mehr als eine Einheit sehen werden. Schon steht das einst von der Entente vergötterte Italien wie ein geprügeltes Kind seinen Ententegenossen gegenüber. Schon hört man zwischen all den Triumphreden der französischen Kammer deutlich den Angstschrei vor der Gefahr des wirtschaftlichen Niederbruchs heraus. England gewiß steht mächtiger da, denn je ein Weltreich auf Erden. Deutschlands wirtschaftliche Kraft liegt am Boden, seine Handelsflotte ist faktisch von den Meeren verschwunden. Aber eine amerikanische Handelsflotte ist entstanden, stärker als die deutsche es je war, und amerikanische ungeschwächte Kapitalkraft bedroht Englands weltwirtschaftliche Expansion mehr, als es Deutschlands Entwicklung jemals getan hätte. England, Amerika und Japan stehen sich nicht als Dreibund gegenüber zur Beherrschung der Welt, sondern als ein Konzern, in dem die tiefsten wirtschaftlichen und politischen Gegensätze schlummern und eines Tages zum Ausbruch kommen können.

Ideen reifen langsam, aber sie haben ein zähes Leben. Fünf Jahre hindurch hat man vom Selbstbestimmungsrecht der Völker in allen Sprachen und in allen Erdteilen gesprochen. Als es zur Tat werden sollte, wurde es niedergestampft in den Friedensbedingungen von Versailles und St. Germain. Aber den Geist kann man nicht töten. Wir sind mit unterlegen durch die Kolonialvölker, die England zu Hilfe rief aus allen Erdteilen, aber die politische Wirkung dieser tatsächlichen Gleichberechtigung von Farbigen und Weißen in der Ententearmee im Zusammenhang mit der Idee des Selbstbestimmungsrechtes ist noch nicht bis zum Ende gediehen. Ungeklärt sind bis heute die Verhältnisse auf dem Balkan, ungeklärt der jüdisch-palästinische Staat, ungeklärt das Schicksal des Mohammedanismus, ungeklärt die Zukunft Rußlands, das als Volk und Wirtschaft nicht auf ewig ausgelöscht werden kann durch einen unglücklichen Krieg oder durch den Bolschewismus. Wohin man sieht, ragen Probleme der Neubildung von Staaten und Völkern. Das Auge sieht nichts Abgeschlossenes, sondern Werdendes, nach Neubildung Ringendes in Wallung und Gärung. Unwillkürlich wendet man den Blick zurück zu jener Periode der Geschichte, die mit der französischen Revolution beginnt und mit dem Wiener Kongreß zeitlich endet. Damals ging die Revolution Europas von der Idee aus. Das große Schauspiel der europäischen Umwälzung begann mit der Verkündung der Menschenrechte, führte einen französischen König auf die Guillotine, ließ Paris und Frankreich die Schreckensherrschaft eines Danton und Marrat erleben, sah Napoleon als Konsul und Kaiser aufsteigen, sah Preußens Fall und Österreichs Demütigung, sah ein Spiel mit Kronen wie mit Bällen und endete nach Leipzig in Wien auf der einen, in Sankt Helena auf der anderen Seite. Diesmal wurde die Welt zuerst erschüttert durch die großen gewaltigen militärischen Eruptionen, dann aber schufen die Erlebnisse des Krieges die geistige Revolution der Völker. Die russische Revolution war das erste Fanal einer Erhebung der Masse gegen die alten Verhältnisse. In raschem Taumel kam man von der Beseitigung des Zarentums über den Versuch einer konstitutionellen Verfassung zur Diktatur des Proletariats unter dem Bolschewismus. In Deutschland führte dieselbe Bewegung zur demokratischen Republik. Auch hier scheint die Entwicklung nicht abgeschlossen. Gegen die demokratische Republik kämpft in Deutschland der Kommunismus, gegen den Kommunismus in Rußland kämpfen die Vertreter der alten Gewalten. Noch zeigt keines der siegreichen Länder die gleichen Erscheinungen, aber niemand zweifelt wohl daran, daß der Boden in Italien aufgewühlt ist von politischen Leidenschaften eines Volkes, das sich um den Erfolg des Sieges betrogen fühlt. Niemand kann vorbeigehen an den starken Kämpfen, die in England um die Sozialisierung des Bergbaues geführt werden, niemand kann vorbeigehen an den starken Kämpfen um die Macht, die in England die alte verbrämte Oligarchie der herrschenden Parteiführer gegen den Dreibund der großen Gewerkschaften führt, in deren gewerkschaftlichen Forderungen der politische Unterton immer deutlicher vernehmbar wird. Von der Leidenschaft der sozialen Kämpfe in Amerika ist nur wenig an unser Ohr gedrungen, aber was wir hören, spricht dafür, daß das Land, welches am längsten am Manchestertum festgehalten hat, auch am stärksten durch das gewaltige Erwachen der Arbeiterklassen erschüttert werden kann. Noch herrscht in Frankreich Clemenceau, noch berauscht man sich an der Feier des Sieges. Wie aber die Stimmung des Volkes sein wird, wenn man erfährt, daß Deutschland nicht alle Schulden Frankreichs zahlen kann, daß auch Frankreich finanziell und wirtschaftlich zerrüttet aus dem Krieg hervorgeht, daß noch kein Garant für die an Rußland gegebenen Milliarden da ist, das vermag ebensowenig jemand zu sagen, wie jemand Auskunft darüber zu geben vermag, ob das polnische Volk, das bisher staatenbildende Kraft nicht gezeigt hat, diesmal in der Lage sein wird, einen polnischen Staat zu erhalten. Alles fließt, alles ist in Neubildung und Gärung begriffen. Sollen wir glauben, daß in all den Zeiten, die noch kommen, in den Umwälzungen, die noch kommen, Deutschland nichts anderes sein wird als der Paria unter den Nationen, als der Vasall der Sieger? Nein, das wird nur dann sein, wenn wir uns aus dem Niederbruch des 9. November nicht zu erheben vermögen. Aber der Feierrausch wird vergehen, die Gesundung wird kommen, denn im innersten Kern ist das Volk gesund. Bei allen Anklagen, die gegen den 9. November erhoben werden, wollen wir doch eines nicht vergessen: daß das deutsche Volk während der fünf Jahre des Krieges so unendlich viel physisch zu erdulden hatte, daß der Fieberrausch nach dem Niederbruch aller Hoffnungen psychologisch verständlich war. Noch ist alles dunkel und düster im Grau der Novembertage vor uns. Aber die Sonne wird einmal durchbrechen, wenn wir den Weg zurückfinden zu dem, was an dem alten Deutschland innerlich gesund und unvergänglich war. Die Anzeichen dazu zeigen sich bereits. Die Produktion in den Kohlenbergwerken fängt an zu steigen, die Streikhetzer finden weniger Anhang, in Massenabstimmungen wird die Akkordarbeit wieder gutgeheißen, der Drang nach Ordnung und Autorität ist namentlich auch bei den Frauen allgemein. Wir werden ein Volk der harten Arbeit bleiben. Die leichte Genußfreude, das sanguinische Temperament des Romanen war uns nie eigen. Wir hatten keine Gentry, die bei uns, etwa wie in England, ausruhte auf dem, was die Vorfahren an Vermögen hatten. Über unserem Leben stand in der Vergangenheit der letzten Jahrzehnte das Wort der römischen Legion: sine missione nascimur, ohne Urlaub wurden wir geboren. Das hat uns hart, rauh, abstoßend und in vielem unausgeglichen gemacht, das hat die Abneigung gegen den Deutschen erweckt bei den anderen, das wird so bleiben. So karg, wie die Natur den deutschen Osten ausgestattet hat, so karg und starr wie die Dünen an der Ost- und Nordsee, so puritanisch wie ein kalvinisches Gotteshaus, so wird wohl das Leben sein, das wir zu führen haben. Mindestens wir, die lebende Generation. Alles, was wir einst groß gesehen haben an unserem Vaterlande, sehen wir nur noch durch die Schatten unserer Erinnerung. Aber die große Zeit, die schöne Zeit unseres Lebens verdanken wir denen, die vor uns mitgeschaffen hatten, dieses Preußen-Deutschland zur Größe durchzuhungern und durchzuführen. Jetzt gilt es, aus Trümmern ein neues Reich zu bauen, in dem unsere Söhne und Enkel wohnen sollen. Wenn wir zurückkehren zu den alten Ideen deutscher Arbeitslust, deutscher Sitte, deutscher Ehrfurcht vor allem Großen, deutscher Selbstachtung und Selbstbesinnung, deutschen Ordnungssinns, deutscher Autorität und jenem tiefen Inbegriff deutscher Freiheit, der nicht im Ausleben des Ichs, sondern in der Einordnung des Ichs unter die Allgemeinheit die wahre Freiheit sieht, dann werden wir auch in diesem unserem Leben eine Wegstrecke zurücklegen können zu jener Entwicklung unseres Vaterlandes, die uns einst in einem langen Zeitraum wieder zur Größe wird führen können. Nicht auf dem Weg über kosmopolitisches Denken, sondern nur auf dem Wege deutscher Wesensart. Der Weg ist lang und dornig. Nur der Geist, der unverrückbar an ein fernes schönes Ziel glaubt, vermag die Lebenskraft sich zu erhalten, die ihn über den Alltag des durch den 9. November geschaffenen Deutschland hinwegführt. Aber wie es der Geist ist, der sich den Körper baut, so wird auch dieser Geist sich den Körper des neuen Deutschland zu bauen vermögen, nicht in der Feier, sondern in der Überwindung des Irrgeistes des 9. November.


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