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Politik ist das Geschick, die Gunst des Augenblickes zu nutzen, der Mut, widrige Verhältnisse zu meistern, das Talent, den Zeitgeist der lebenden Generation dienstbar zu machen für das Glück kommender Generationen des eigenen Volkes; Politik ist vor allem die Gabe, die seelischen, intellektuellen und materiellen Kräfte des eigenen Volkes zusammenzufassen, und aus ihnen heraus unter Berücksichtigung der Gegenwart seherisch Zukunft zu gestalten.
Die ersten Jugendeindrücke Stresemanns und sein erstes Hervortreten in der Öffentlichkeit standen beide in ihrer Art unter dem Zeichen von Zeiten, die um die Gestaltung neuer Ideen rangen. Er war am 10. Mai 1878 als der jüngste Sohn einer Familie geboren, deren Leben nur wenig Ruhestunden hergab, wenige Stunden geistigen Zusammenhanges zwischen Eltern und Kindern. Seine ersten Eindrücke bildeten sich zu einer Zeit, in der er selbst in seiner Familie Zeuge davon werden mußte, wie durch die Entwicklung der Großbetriebe der Mittelstand zerrieben wurde, wie durch die Machtentfaltung der Großbrauereien der Mittelstand, der bisher in selbständiger Tätigkeit den Zwischenbetrieb in der Hand gehalten hatte, zugrunde gerichtet wurde.
Der erste, für das ganze Leben nachhaltige Einfluß ging in geistiger Beziehung von der Bibliothek des Großvaters aus. Dort fand er insbesondere die Kampfliteratur aus dem Jahre 1848, in dem die kühnsten Köpfe in einem tiefen Idealismus, dem nur die Erkenntnis der Realitäten nicht zur Seite stand, um die Einheit Deutschlands rangen. Zu dieser Literatur gehörten Bücher wie das von Karl Streckfuß »Kinkels Verteidigungsrede vor den Geschworenen in Bonn«, das Stenogramm des Waldeck-Prozesses und Flugblätter aus der damaligen Zeit, die Waldecks Freispruch feierten: »Trotz Ohm und Goedsche und trotz Hinckeldey, der Mann des Volkes, Waldeck, er ist frei!«
Man hat späterhin einen Widerspruch in der machtpolitischen Einstellung Stresemanns, in seinem Eintreten für die schwarz-weiß-rote Fahne und für die Monarchie zu seinem überzeugten Eintreten für die Ideen von 1848 sehen wollen. Sehr zu Unrecht. Was damals Stresemann in sich aufgenommen hat, ist ihm Leitstern fürs Leben geblieben, Freiheit nach außen, freiheitliche Gestaltung der Verfassung nach innen und über allem die nationale Idee. Es ist kein Zufall, daß Stresemann seine Kriegsreden und Aufsätze, in denen er eintrat für den unbedingten Willen zum Siege und für die freiheitliche Ausgestaltung der Verfassung, herausgegeben hat unter dem Titel: »Macht und Freiheit«, denn das, was am stärksten auf den werdenden Politiker einwirkte, war der begeisterte Wille zu einem nationalen und freiheitlichen Empfinden, wie ihn die Idealisten des Jahres 48 zum Ausdruck brachten. Darum wurde ihm der Liberalismus der Träger für den Kampf um die Erhaltung der deutschen Einheit, um die deutsche Flotte und die Sicherung der deutschen Macht; was ihm vor Augen blieb, waren die Demokraten Konrad Kretz, der in der Verbannung noch seine von glühender Vaterlandsliebe getragene Hymne an Deutschland sang: »Kein Baum gehörte mir in deinen Wäldern«, Georg Herwegh, Freiligrath, Dingelstedt und ihre Gesinnungsgenossen, deren von tiefem nationalen Freiheitssinn erfüllte Gedichte heute weit eher als alldeutsch denn als »demokratisch« gelten würden.
Und noch ein anderes, heute wohl verschollenes Buch hat einen nachhaltigen Einfluß auf das junge Gemüt ausgeübt, Adolf von Bergs »Das Leben Napoleons«. Hier fand es die Verbindung zu den großen Geschehnissen europäischer Politik, hier wurde es zuerst angeregt zum Nachdenken über die psychologischen und machtpolitischen Bedingungen im Steigen und Stürzen eines der Großen der Weltgeschichte.
Das curriculum vitae, das der Abiturient Stresemann 1897 einreichte, zeigt aber, daß er auch den Strömungen des Tages nicht fern stand. Der Kampf, der um Stöcker und seine Ideen entbrannt war, hatte ihn auf den Plan gerufen. In diesem curriculum vitae betont Stresemann, daß er der Tagung des Protestanten-Vereins beigewohnt habe und auf dem Boden eines freien, liberalen Protestantismus stände, daß er in der starren Dogmenlehre nicht die Zukunft und die Aufgabe der protestantischen Kirche sehen könne. Professor Hammann, der Pädagoge, der auf die Jugendentwicklung Stresemanns wohl den nachhaltigsten Einfluß gehabt hat, ist in seiner Abschiedsrede für die Abiturienten auf diesen jugendlichen Trotz des Primaners eingegangen, und in ihr klingt ein Drittes auf, das Stresemann durch sein Leben begleitet hat: die Beziehung zu Goethe. An ihn mahnt Hammann mit dem Hinweis, daß letzten Endes nur der der Versöhnung teilhaftig werden kann, der »immer strebend sich bemüht«.
Im ganzen überwogen zur Zeit des Abiturs bei Stresemann noch die wissenschaftlichen Interessen, und so gibt er selbst an, sich dem Studium der Geschichte und Literatur, vielleicht der Philologie, zuwenden zu wollen. Entsprechend seinen Anschauungen zog es ihn, der in dem geschichtlich gewordenen Deutschland wurzelte, der in seiner Lektüre Fritz Reuter in Gedanken auf die Festung begleitet hatte, Kinkel und Schurz aus dem Vaterlande hatte entweichen sehen, der in den Zeitromanen Spielhagens leidenschaftlich den Kampf zwischen dem vormärzlichen Deutschland und dem Deutschland Bismarcks miterlebt hatte, in den Kreis der Burschenschaften, wo er Gleichgesinnte zu finden hoffte.
Hier mußte er bald erkennen, daß sich die Burschenschaften von ihrem Ausgangspunkte weit entfernt hatten. Burschenschaftler hatten sich an dem Empfang des antisemitischen Agitators Ahlwardt beteiligt, als er im feierlichen Zuge von studentischen Korporationen durch das Brandenburger Tor eingezogen war. An Stelle der urburschenschaftlichen Idee war eine Überschätzung der Äußerlichkeit eingezogen, und der wissenschaftliche Abend trat zurück hinter der Betonung des Mensurstandpunktes. Eine reaktionäre Entwicklung hatte es dahin gebracht, daß die Burschenschaften ihre alten Traditionen vergessen hatten und sich gewissermaßen als Korps zweiter Klasse fühlten. Der Ruf nach Reformen führte zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Burschenschaftsverbandes, kurz »Reformburschenschaften« genannt. Ihm gehörte Stresemann zunächst als Mitglied der Berliner Burschenschaft Neo Germania und späterhin der Leipziger Burschenschaft Suevia an. Beide wählten ihn zu ihrem Sprecher, und hier hatte er zuerst Gelegenheit, in Rede und Schrift praktisch für Ideen einer wenn auch im Rahmen begrenzten Politik zu kämpfen. Er rang auf der einen Seite einen Antrag des damaligen Sozialdemokraten Paul Lensch nieder, der zum Ausdruck brachte, daß die Burschenschaften sich jetzt einsetzen müßten für den vierten Stand und die Idee des Sozialismus, wie sie sich einst eingesetzt hätten für den dritten Stand und die Demokratie. Auf der anderen Seite bekämpfte er antisemitische Tendenzen, getreu dem liberalen, burschenschaftlichen Grundsatz, daß maßgebend für einen Menschen nicht Herkommen und Stand, sondern Denken, Fühlen und Wollen seien. Er trat in jenen Tagen, als in der Öffentlichkeit der Kampf zwischen dem jugendlichen Kaiser und Bismarck wogte, für Bismarck ein und legte gleichzeitig im Einverständnis mit 15 Mitgliedern der Burschenschaft zum 50. Jahrestage einen Kranz am Grabe der Märzgefallenen nieder, der die Inschrift trug: »Den Kämpfern für Freiheit, Ehre und Vaterland.«
In dieser Zeit begann Stresemanns schriftstellerische Tätigkeit. Die verantwortliche Schriftleitung der »Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung« mußte er zwar niederlegen, als ihm von der Polizei bedeutet wurde, daß Unmündige noch nicht das Recht hätten, verantwortlich zu zeichnen. Die Arbeiten aus dieser Zeit geben ein Bild der Gedankengänge, in denen sich Stresemann damals bewegte. Er schreibt über Thomas Morus und dessen politischen Roman »Utopia«, über Fragen der Studentenschaft, über David Friedrich Strauß als Lyriker, über protestantische Orthodoxie, Bismarck, Tagespolitik, geschichtliche Betrachtungen und bei Besprechung des Buches »Maurertum und Menschheitsbau« über das ethische Wollen und Sollen des Menschen.
Sein eigentliches Studium war jedoch mittlerweile auf ein anderes Gebiet gelenkt worden. Durch einen Alten Herrn der Burschenschaft, der selbst das Beispiel gab, wurde Stresemann darauf hingewiesen, daß man berufliche Wirksamkeit mit der Liebe für Literatur in den Feierstunden des Lebens sehr wohl vereinigen konnte. Stresemann änderte seinen Lebensplan, hörte in Berlin bei Schmoller, Wagner und Jastrow, später in Leipzig bei Bücher Nationalökonomie und belegte Vorlesungen über Finanzwirtschaft, Staatsrecht, Völkerrecht, Geschichte und Literatur, wobei aber mehr und mehr die Nationalökonomie das Vorrecht beanspruchte. Sein Wunsch, das Studium mit einer großen theoretischen Arbeit abzuschließen, wurde nicht erfüllt. Vielmehr entsprach es der Einstellung von Bücher, bei dem er promovierte, daß die Doktorarbeiten Zusammenhang mit dem praktischen Leben und eigene Erkenntnis zeigen sollten. So kam Stresemann zu seiner Doktorarbeit über die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts, einer Arbeit, die insofern charakteristisch ist, als sie zeigt, wie eine beliebige Frage des täglichen Lebens dem Studenten Anlaß gibt, über allgemeine Fragen der Organisation und wirtschaftlichen Struktur nachzudenken. Stresemann selbst befriedigte diese Arbeit nicht, und so erschien fast gleichzeitig in der »Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft« (»Der Einfluß der Überproduktion auf die Währungsfrage«) sein erster größerer wirtschaftlicher Aufsatz: »Die Entwicklung der Warenhäuser und ihre wirtschaftliche Bedeutung«. Schon vorher hatte er in dem Seminar von Karl Bücher eine besondere Arbeit der Währungsfrage gewidmet, in die der damals theoretisch viel umkämpfte Gedanke der Gold- und Silberwährung, der Doppelwährung, hineinspielte.
Zweiundzwanzigjährig trat Stresemann in die praktische nationalökonomische Arbeit ein, zunächst als Assistent in die Geschäftsführung eines industriellen Fachverbandes, des Verbandes deutscher Schokoladenfabrikanten in Dresden. Der Verband kämpfte damals vergeblich gegen die Übermacht des Zuckerkartells, das die zuckerverbrauchende Industrie in Abhängigkeit zwang. Eingaben an die Behörden und Polemik in der Presse waren erfolglos geblieben. Stresemann veranlaßte die Gründung einer kartellfreien Fabrik durch die Interessenten, und noch ehe die Fabrik im Rohbau fertig stand, erklärte sich das Zuckerkartell für besiegt.
Daneben übernahm Stresemann die Geschäftsführung des Bezirksvereins Dresden-Bautzen des Bundes der Industriellen. Es war in der Zeit der wirtschaftlichen Interessengegensätze, die durch die Ära Caprivi eingeleitet wurde. Zwei Gruppen der Industrie standen sich insbesondere gegenüber, der Zentralverband Deutscher Industrieller (dieser in seinen zollpolitischen Bestrebungen unterstützt durch den Bund der Landwirte) und der Bund der Industriellen. Der Zentralverband Deutscher Industrieller, in dem die großen Kohlen- und Eisensyndikate Westdeutschlands zusammengefaßt waren, verfocht die Interessen der Rohstoffindustrie und suchte durch Zollpolitik und Vertrustung eine Monopolstellung auf dem innerdeutschen Markt zu gewinnen, während der Bund der Industriellen die Interessen der verarbeitenden Industrie wahrnahm und mit seinen Bestrebungen in erster Linie auf den Export und die Gewinnung billiger Rohstoffe eingestellt war. Die Zusammenfassung seiner Kräfte war für den Zentralverband mit seinen wenigen kapitalkräftigen Gliedern wesentlich einfacher als für den Bund, dem es bisher nicht gelungen war, tausende von mittleren, kleinen und kleinsten Betrieben einheitlich zu organisieren. Am 15. Januar 1902 übernahm Stresemann den Bezirksverein Dresden-Bautzen, am 21. Februar desselben Jahres ist dieser bereits mit dem anderen sächsischen Verein Leipzig-Zwickau-Chemnitz zusammengeschlossen zum »Verband Sächsischer Industrieller« als Landesverband des Bundes der Industriellen. Stresemann selbst hat sich später gern der Anfänge dieses Verbandes erinnert, der zusammen mit dem Verband der Schokoladenindustrie ein einziges, nicht heizbares Zimmer besaß, in dem die Würde des leitenden Beamten durch eine spanische Wand betont wurde. Der Verband verfügte zu Beginn über einen Etat von 3600 M und 180 Mitglieder. Nach zwei Jahren überschritt die Mitgliederzahl das erste Tausend, und nach zehnjährigem Bestehen umfaßte er 5000 Mitglieder mit etwa 500 000 Arbeitern. Unermüdlich war der junge Geschäftsführer in seiner organisatorischen Arbeit, die bei stärkerem Anwachsen auch viel Takt und diplomatisches Geschick verlangte, um die verschiedenen Wünsche der in dem Verbande vereinigten Großindustrie und Kleinbetriebe, der Schutzzöllner und Freihändler, der Männer konservativer und demokratischer Richtung zu einem einheitlichen Willen zusammenzufassen. Das Beispiel der sächsischen Industriellen rief die der anderen deutschen Landesteile auf den Plan, und unter Stresemanns Mitwirkung wurden gleiche Verbände in Thüringen, Schlesien, Württemberg und Süddeutschland gegründet. Stresemann selbst arbeitete führend mit in der Berliner Zentrale des Bundes der Industriellen, um den sich nach zehnjähriger Arbeit etwa 45 000 Industriebetriebe scharten. Seine Organisation war auf dem Grundsatz aufgebaut: Stärkung der Zentrale bei weitgehender Dezentralisation im einzelnen, entsprechend dem bundesstaatlichen Charakter Deutschlands.
Je größer die Bedeutung des Bundes wurde, um so bedeutsamer wurden dessen Entschlüsse für das gesamte wirtschaftspolitische Leben Deutschlands. Ein hartnäckiger Streik in Crimmitschau zwang zur Stellungnahme zu der Frage Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft. Am 15. September 1905 hielt Stresemann auf der deutschen Arbeitsnachweis-Konferenz zu Bremen seinen grundlegenden Vortrag über »Gesellschaften zur Entschädigung bei Arbeitseinstellungen«. Im Jahre darauf erfolgte die Gründung der »Gesellschaft Sächsischer Industrieller zur Entschädigung bei Arbeitseinstellungen«, die späterhin, als sie auch außersächsische Betriebe aufnahm, in den »Deutschen Industrie-Schutzverband« verwandelt wurde. Dieser umfaßte bereits nach sechsjähriger Tätigkeit 3000 Firmen, die einen Jahreslohn von 245 Millionen auszahlten. Die Industrie stand, wie Stresemann einmal ausführte, vor der großen Zweifelsfrage: »Versöhnung oder Kampf mit denjenigen, die als Arbeiter dem Arbeitgeber gegenüberstehen, und in die man hineingehämmert hat die Idee des Klassenhasses und -kampfes, so daß sie das Gemeinschaftliche der Interessen nicht erkennen können, sondern in dem Arbeitgeber nur einen Feind sehen, den es niederzuringen gilt. Wir haben uns hier auf den Standpunkt gestellt, der meiner Meinung nach der allein richtige sein kann, den Standpunkt, der, wenn wir ihn konsequent durchführen, uns die Gewähr geben kann und wird, daß wir nicht überrannt werden, wenn wir uns unberechtigten Forderungen gegenübersehen, nämlich auf den Standpunkt des gleichen Rechtes für beide Teile, aber unter der Wahrung der Staatsautorität. Übersetzt meine ich damit: Koalitionsrecht, Anerkennung für den Arbeitnehmer, ebenso aber auch Ausnutzung des Koalitionsrechtes durch den Arbeitgeber und Schutz für beide Teile.«
Damit ist der grundlegend neue Gedanke ausgesprochen, den Stresemann in der Arbeitgeberschaft verfocht, das Recht der Arbeiter, sich zu koalieren, und der Grundsatz, die Gewerkschaften anzuerkennen und mit ihren offiziellen Vertretern zu verhandeln. Selbstverständlich trug das Verfechten dieser Ansicht Stresemann die Feindschaft aller derer – und es war zunächst die Mehrzahl – ein, die die rücksichtslose Herr-im-Hause-Politik vertraten, und auch derer, die wohl mit ihrer eigenen Arbeiterschaft, aber nicht mit den Vertretern der Gewerkschaften verhandeln wollten. Über das Recht und die Moral des Koalitionsgedankens bei der Arbeiterschaft hat sich Stresemann einmal im Industrie-Schutzverband ausgesprochen: »Es sind nicht die schlechtesten Elemente der Arbeiterschaft, die verstanden haben, die Alltagsempfindung des zunächst persönlich bedeutsam erscheinenden Vorteils der Sparung einer Summe kleiner einzuschätzen, als den großen Solidaritätsgedanken der Zusammenfassung der Arbeiterkräfte. Wenn ich eine Folgerung aus dieser Opferwilligkeit der Arbeiterschaft gezogen habe, dann habe ich sie nur dahin gezogen, den Industriellen zu empfehlen, dasselbe Maß an Opferwilligkeit und Leistungsfähigkeit für ihre Organe und für ihre politischen Ideale anzuwenden, wie es hier der Arbeiter vielfach unter Verfolgungen und Schwierigkeiten seinerseits getan hat. Ich habe diese Freiheit des Koalitionsgedankens deshalb stets hochgehalten und an die Spitze alles sozialpolitischen Denkens gestellt, weil ich in der Zusammenfassung aller Kräfte zur Überwindung des persönlichen Egoismus die Vorbedingung für das Staatsgefühl erblicke.«
Es ist dies ein typisches Beispiel, wie Stresemann praktisch an die großen Fragen der Entwicklung vom Gesichtspunkte eines liberalen Nationalgefühls herantritt. Über allem die Frage: Was nützt es dem Staatsgedanken?, dann aber Betonung des freien Rechts der Einzelnen, sich zur Gruppe zusammenzuschließen. Wesentlich sind weiterhin die beiden anderen Forderungen, die Stresemann aus dem grundsätzlichen Recht der Koalitionsfreiheit zog: das Recht des freien Menschen, sich von solchen Koalitionen fernzuhalten, also die Pflicht des Staates, gegen den Koalitionszwang der Arbeiterschaft und der Sozialdemokratischen Partei zu kämpfen, weiterhin auch das Recht der Arbeitgeber, sich in gleicher Weise zu solchen Koalitionen zusammenzuschließen. Bei diesen Kämpfen war die Arbeiterschaft keineswegs der schwächere Teil, verfügten doch die Gewerkschaften im Jahre 1913 über ein Vermögen von 65 Millionen und eine Jahreseinnahme von 71 Millionen. Überdies war, solange die Streikklausel nicht allgemein bestand, der Schaden, den ein Unternehmer durch den Streik litt, nicht nur zu bemessen nach den Tagen und Wochen, in denen die Produktion ruhen mußte, sondern auch nach dem Ausfall künftiger Bestellungen, die durch die scheinbare Unzuverlässigkeit des Lieferanten herbeigeführt werden konnte. Trotzdem ist der Deutsche Industrie-Schutzverband seinen Verpflichtungen immer gerecht geworden, was nicht zum mindesten darin seine Ursache hatte, daß Stresemann immer betonte, besser als ein Sieg in einem Streik ist die Vermeidung des Streikes, und daß er wohl anerkannte, daß es berechtigte Streiks gäbe, in denen eine Unterstützung des Arbeitgebers nicht im allgemeinen Interesse läge.
Bei der Aussprache über das Pluralwahlrecht in Sachsen, für dessen Einführung sich der Bund der Industriellen eingesetzt hatte, obwohl es für ihn nicht denselben Erfolg brachte wie das Dreiklassenwahlrecht, hat Stresemann einmal den Leitsatz ausgesprochen, der über seiner ganzen wirtschaftspolitischen Tätigkeit steht: »Wenn wir aber trotzdem dem Pluralwahlrecht zustimmten, so taten wir es, weil wir uns sagten, daß jede einzelne Bewegung eines Standes auf die Dauer Schiffbruch erleiden muß, wenn sie alle Dinge, die an sie herantreten, nur mit dem Auge des Standes ansieht und sich nicht darum kümmert, was andere Stände dazu sagen. Man kommt damit nicht durch; denn wir haben so viel verschiedene sich bekämpfende Interessen in Deutschland, daß, wenn das jeder täte und die Regierung dem tatenlos zusähe, überhaupt eine Gesetzgebung in Reich und Land unmöglich wäre. Wir sind deshalb auch auf dem Gebiete der Wirtschafts- und der Sozialpolitik niemals in dem Sinne allein Vertreter der Industrieinteressen gewesen, wie viele andere Organisationen, die uns deshalb auch angreifen, und die wiederholt darauf hingewiesen haben, daß bei uns diese Rücksicht auf die allgemeinen Interessen zu weit ginge.«
Dem sozialpolitischen Programm setzt Stresemann einen Satz voraus: »Wichtiger noch als die Sozialpolitik ist für den deutschen Arbeiter in erster Linie die Schaffung von Arbeitsgelegenheiten; denn bei aller Hochachtung dessen, was in der Sozialpolitik geleistet wird, gilt es zunächst, für den gesunden Arbeiter, für den Menschen auf der Höhe des Lebens so viel Arbeitsgelegenheit zu schaffen, daß er sich und seine Familie vorwärts bringen kann.« Innerhalb der durch diesen Grundsatz gesteckten Grenzen trat Stresemann dafür ein, daß die Industrie selbst mitarbeiten solle an der bestmöglichen Ausgestaltung der sozialpolitischen Gesetzgebung. Maßgebend hierfür war ihm weniger der rein praktische Gesichtspunkt für die Industrie, daß sie bei tätiger Mitarbeit die Möglichkeit hätte, eine Überspannung der Sozialpolitik zu verhindern und die Interessen der Wirtschaft in Einklang zu bringen mit denen der Sozialpolitik, als der Wunsch, die arbeitende und abhängige Masse durch bessere Gestaltung der Grundlagen des Lebens dem Staate zurückzugewinnen. Vielfach klingt aus Stresemanns Reden das Bedauern, daß die Gewerkschaftspolitik zumeist auf sozialistischer Grundlage aufgebaut war und somit in dem Staat den Staat anderer und nicht den Staat aller sah. Während seiner wirtschaftspolitischen Tätigkeit trat die Frage des Gesetzes der Pensionsversicherung für die Privatangestellten in den Vordergrund. Für dieses Gesetz trat Stresemann mit allen seinen Kräften ein, denn nachdem ein großer Teil der Arbeiterschaft der damals staatsfeindlich eingestellten Sozialdemokratie verfallen war, wollte er wenigstens ein Abgleiten der Privatangestellten zum Proletariat verhindern, indem er ihnen die Grundlage für eine Lebenshaltung sicherte, die sie weiterhin bei dem Mittelstande und bei den Überzeugungen des liberal eingestellten Bürgertums erhielten.
Die Frage war um so brennender, als die Gründung riesenhafter Warenhäuser, Vertrustung und Syndizierung den kleinen selbständigen Produzenten und Kaufmann von Jahr zu Jahr mehr verdrängten, und die Zahl der selbständigen Existenzen dauernd zurückging. So wenig Stresemann der Ansicht war, daß man die Entwicklung der Wirtschaft durch gesetzgeberische Maßnahmen hemmen könne und dürfe, so sehr hat er sich dafür eingesetzt, alles zu tun, um die kleinen und kleinsten Kräfte im freien Wettbewerbe der Wirtschaft lebensfähig zu erhalten. Er hat den Zusammenschluß der Industrien zu Interessengemeinschaften stets unter dem Gesichtspunkte der Erhaltung des wirtschaftlich Schwächeren aufgefaßt. Dieser Kampf für die Freiheit der Wirtschaft gipfelte späterhin in dem Eintreten gegen Rathenaus die freie Entwicklung des Einzelnen hemmende Sozialisierungsideen und in seinem großen Vortrage »Staatssozialismus oder freie Wirtschaftsordnung«, den er im Juni 1918 im Niederösterreichischen Gewerbeverein hielt.
Heranziehung und Erziehung aller Kreise des Volkes zur Mitarbeit am Staate war sein Ziel. In der Jubiläumstagung des Verbandes der Sächsischen Industriellen wies er 1912 auf die Stein-Hardenberg-Gesetzgebung hin, die den Staat rettete, indem sie »dem Einzelnen Patriotismus dadurch einimpfte, daß sie ihm Aufgaben gab, die er gewissermaßen als Mann der Tat der Allgemeinheit und dem Staate zu leisten hatte, und daß sie ihn selbständige Funktionen ausführen ließ, so daß er den Staat nicht mehr als den Feind ansah, der der gegebene Gegner des einzelnen Bürgers sein mußte«. In praktischer Arbeit bewies Stresemann, daß es ihm ernst war um die Idee der Volksgemeinschaft. Die Gründung einer Industriepartei lehnte er ab, weil er fürchtete, daß durch sie die Klassen- und Interessengegensätze verschärft werden könnten. Den Angriffen der Landwirtschaft gegen die Industrie begegnete er nicht mit Gegenangriffen, sondern mit dem Wunsche gegenseitiger Achtung und gegenseitigen Verständnisses; er, den man zum einseitigen Vertreter der Industrieinteressen abzustempeln versuchte, erklärte: »Wenn wir uns in Zollfragen auf der einen Seite gegen eine Abschließungspolitik wehren, die die Entwicklung der letzten Jahrzehnte vollständig verleugnen würde, so sind wir andererseits der Meinung, daß wir keinen Grund haben, die an sich schon vorwärtsschreitende Entwicklung zum Industriestaat zu forcieren auf Kosten der deutschen Landwirtschaft. Daß wir vielmehr alles das, was wir im Inlande an Kaufkraft haben, erhalten sollen, nicht nur im Interesse der Landwirtschaft, sondern im Interesse der Allgemeinheit und nicht zuletzt im Interesse der Industrie selbst.« Den Wert der Landwirtschaft sah Stresemann nicht zuletzt darin, daß das flache Land das Menschenreservoir darstelle, aus dem die Städte gespeist würden, daß die Landbevölkerung die wertvollsten Kräfte für das Heer liefere.
Seine Ideen vertrat Stresemann in einer Folge von Reden und Vorträgen im ganzen Deutschen Reiche, auf Reisen in Österreich, Ungarn, in den Vereinigten Staaten, Kanada, in Reden auf der Weltausstellung in Brüssel, legte sie in grundsätzlichen Aufsätzen und polemischen Artikeln in der von ihm begründeten Zeitschrift »Die Sächsische Industrie« und anderen Zeitungen und Zeitschriften dar. Die Aufsätze dieser Jahre wurden schon vor dem Kriege in dem Sammelwerk »Wirtschaftspolitische Zeitfragen« zusammengefaßt.
Längst hatte Stresemanns wirtschaftspolitische Tätigkeit in die hohe Politik übergegriffen. Er war Begründer und erster Vorsitzender des Deutsch-Kanadischen Wirtschaftsverbandes, des Österreich-Ungarischen Wirtschaftsverbandes und Vizepräsident der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft und arbeitete führend mit am Deutschen Flottenverein, dem Deutschen Schulschiffverein und an dem »Verband Deutscher Arbeit«. Zusammen mit Ballin gründete er 1913 den Deutsch-Amerikanischen Wirtschaftsverband, aus dem die Deutsche Welthandelsgesellschaft entstehen sollte, die, vom Bund der Industriellen zum Zentralverband Industrieller die Brücke schlagend, das gesamte Gebiet der Industrie und des Handels umfassen sollte. Der Ausbruch des Krieges führte an Stelle dessen zur Begründung des Kriegsausschusses der deutschen Industrie, dessen Vizepräsident Stresemann war.
Auch für die politische Entwicklung Stresemanns galt unwillkürlich das Goethewort: »Gehe vom Häuslichen aus und verbreite dich, so du kannst, über die ganze Welt«. In Sachsen lebten zur Zeit, als Stresemann in das wirtschaftspolitische Leben eintrat, 74 % der Bevölkerung von Industrie und Handel, nur 10,7 % von der Landwirtschaft. Trotzdem saßen in den Ständekammern des Königreiches fast ausschließlich Vertreter der Landwirtschaft, und in allen wirtschaftlichen und politischen Fragen gaben sie den Ausschlag. Es war eine Forderung der Gerechtigkeit, daß die Berufsgruppe, die für das wirtschaftliche Leben ausschlaggebend war, die die meisten Steuern zahlte, die die höchste Bevölkerungszahl umfaßte, entsprechenden Anteil an der gesetzgeberischen Arbeit erhielt. Die Nationalliberale Partei als solche war in Sachsen gouvernemental eingestellt und fand nicht die Initiative, gegen die bestehende Ordnung vorzugehen. Stresemann hatte sich früher schon der von Friedrich Naumann geführten nationalsozialen Gruppe genähert, deren Ziel Volkskaisertum hieß und deren Wirken vor allem der Gewinnung der arbeitenden Klassen für Staat und Kaisertum durch soziale Reformen galt. Der Übergang Naumanns zum unbedingten Freihandelsprinzip brachte es zum Bruch zwischen ihm und der Vereinigung. Nunmehr schloß sich Stresemann der Dresdner Gruppe des Nationalliberalen Reichsvereins an, die eine entschiedene Vertretung des Liberalismus innerhalb der damals weit rechts stehenden Nationalliberalen Partei anstrebte, und trat in Wort und Schrift dafür ein, daß die Industrie sich den Platz in der sächsischen Politik erkämpfte, der ihr zukam. Was er in den Nachkriegsjahren gegenüber der Kritik von industrieller Seite hervorhob, daß es mit der Kritik nicht getan sei, daß er vielmehr vermisse, daß eben diese Industriellen nicht selbst in die Regierung gingen, um ihre Erfahrungen in den Dienst der Gesamtheit zu stellen, das klang hier in Sachsen erstmalig auf. Dabei übersah er nicht den großen Unterschied zwischen der englischen und deutschen Industrie, übersah nicht, daß es dort eine industrielle Gentry gab, die, auf sicherem Besitz ruhend, sich der Politik widmen konnte, während der deutsche Kaufmann – und darin liegt dessen Stärke und Schwäche – sich selten zu solcher Saturiertheit durchzuringen vermochte. Innerhalb weniger Jahre gelang es Stresemann, den reaktionären Einfluß des Bundes der Landwirte in Sachsen einzudämmen. Die Zweite Kammer, in der dieser bisher eine Zweidrittelmehrheit gehabt hatte, sah einen liberalen Präsidenten, im Dresdner Wahlkreise siegten die Liberalen in einem früher konservativ vertretenen Kreise mit 104 Wahlmännern gegen 6 der Konservativen, im Stadtverordnetenkollegium erhielten die Liberalen statt zwei Sitzen die Mehrheit. Stresemann selbst wurde im November 1906 in die Stadtverordnetenversammlung gewählt, und am 6. Februar 1907 wählte der Wahlkreis Annaberg den Neunundzwanzigjährigen zum Mitglied des Reichstages. Dieser Wahlkreis hatte ihm die Kandidatur auf Grund einer Rede auf dem Parteitag in Goslar angetragen, die Stresemann zunächst in Gegensatz zu Bassermann brachte, dem Führer der Nationalliberalen Partei. Bassermann selbst beglückwünschte jedoch das junge Mitglied des Reichstages als einer der ersten, und von dieser Zeit an verband die beiden Männer eine immer enger werdende Freundschaft, die erst der Tod trennte.
Die erste große Rede im Reichstag richtete sich gegen die Lieferungs- und Preispolitik der großen Syndikate und trug Stresemann um so mehr die Gegnerschaft des Zentralverbandes und dessen Generalsekretärs Bueck ein, als der junge Abgeordnete gleichzeitig für ein Verhandeln mit den Gewerkschaften und für Abschluß von Tarifverträgen eingetreten war, ein für die damaligen Begriffe der Schwerindustrie geradezu revolutionäres Vorgehen. In außenpolitischer Hinsicht sah Stresemann den Weltkrieg kommen, und wenn er auch, wie in seinen Reden in Chicago und Torronto, für eine Verständigung mit England eintrat, so wirkte er gleichzeitig mit allen Kräften für eine Stärkung von Heer und Flotte, um für den drohenden Weltkrieg gerüstet zu sein, nahm regen Anteil an den Veranstaltungen des Flottenvereins und ließ es sich vor allem angelegen sein, der Arbeiterschaft die Notwendigkeit der Rüstungen vor Augen zu führen. Nach Ablauf der Wahlperiode wurde Stresemann nicht wieder gewählt. Schon in Annaberg hatte man ihm nahegelegt, bei seiner Wahlagitation die Frage der Rüstungsausgaben nicht in den Vordergrund zu stellen, weil die Wählerschaft nur an die Kosten dächte und lieber dem Kandidaten ihre Stimme gäbe, der sich gegen eine Erhöhung der Steuern aussprechen würde. Stresemann hatte dieses Ansinnen in Annaberg abgelehnt und tat es auch bei seinen späteren Kandidaturen, denn er wollte nur auf Grund der von ihm als richtig und notwendig erkannten politischen Forderungen gewählt werden. Erst um die Jahreswende 1914/15 zog Stresemann als Abgeordneter des Wahlkreises Aurich wieder in den Reichstag ein. Vom Felde her hatte Bassermann dem Wahlkreis gedrahtet, daß er Stresemanns Kraft nicht entbehren könne.
Die Kriegspolitik war der Nationalliberalen Partei durch ihre Gegensätze vorgezeichnet: Nationaldeutsche Politik unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände nach außen hin und Förderung der Volksgemeinschaft im Innern. Dementsprechend waren die Beziehungen Stresemanns zur Heeresleitung die denkbar besten. Es ging damals sogar fälschlich das Gerücht um, daß eine unmittelbare Fernsprechleitung zwischen Stresemann und der Obersten Heeresleitung bestände. In Wirklichkeit hat er Ludendorff während des Krieges nur einmal im Hauptquartier und einmal in Berlin gesprochen. Er schlug damals dem General vor, einen Sozialdemokraten zum Munitionsminister zu ernennen, und Ludendorff erklärte sich damit einverstanden, wenn nur die Heimatfront dadurch gestärkt würde. Dem später schriftlich ausgedrückten Wunsche Stresemanns, die Leute, die sich bei ihrer Weigerung, innere Reformen durchzuführen, auf die Oberste Heeresleitung beriefen, abzuschütteln, kam Ludendorff nicht in der notwendigen Form nach. Wenn der Abgeordnete schon vor dem Kriege bei aller notwendigen Kritik sich immer bemüht hatte, dem leitenden Staatsmanne die Arbeit bei der Führung der Staatsgeschäfte zu erleichtern, ein Grundsatz, an dem er festgehalten hat, bis er selbst Kanzler wurde, so galt dies während des Krieges in noch höherem Maße gegenüber der Heeresleitung. Die Grenze war in beiden Fällen dort gezogen, wo dem Volksganzen Gefahr drohte. Als im Parlament einmal die Frage aufgeworfen wurde, ob der Reichstag mehr für das Heer oder das Heer mehr für den Reichstag geleistet habe, betonte Stresemann, daß Heer, Reichstag und Volk eine untrennbare Einheit seien. Er bekämpfte deshalb Übergriffe einzelner Militärs gegen die Bevölkerung, indem er sagte: »Unterschätzen Sie das eine nicht und mißverstehen Sie es nicht: das Volk liebt das Heer und vergöttert seine siegreichen Heerführer, will aber nichts von militärischem Absolutismus wissen.« Für das Heer galt ihm der Grundsatz, daß der Geist ersetzen müsse, was ihm zahlenmäßig fehle. Darum galt sein Wirken der geistigen Einigung von Heer und Volk zu einheitlichem Gefüge und einheitlichem Siegeswillen. In einer der entscheidenden militärischen Fragen, der des U-Bootkrieges, trat Stresemann, allerdings im Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben der Marineleitung, für deren Wünsche ein. Er unterschätzte dabei nicht die große Gefahr einer amerikanischen Kriegserklärung, wie er überhaupt jeder Kriegserklärung, und wenn es sich um Guatemala und Honduras handelte, mit Besorgnis, wenn auch nicht mit Mutlosigkeit, entgegensah, denn mit jeder neuen Kriegserklärung wurde Deutschlands Aufgabe, sich den überseeischen Markt wiederzugewinnen, erschwert. Deshalb wachte Stresemann im Parlament darüber, daß, soweit es irgend möglich war, die wenigen Verbindungen, die der deutsche Außenhandel noch hatte, auch von den Behörden sorgfältig gepflegt würden. Das größte Gewicht legte er auf die bis dahin von der Reichspolitik vernachlässigte Beziehung zu den Auslanddeutschen, in denen er schon damals einen der wertvollsten Aktivposten für die Außenpolitik der Nachkriegszeit erkannte. Er erinnerte Wilson an die Lobeshymne, die er selbst bei seinen Wahlreden den Deutschamerikanern gespendet hatte, er wies auf die baltischen Lande hin, in denen die Großgrundbesitzer schon vor der russischen Revolution sich bereiterklärt hatten, ein Drittel ihres Besitzes zur Besiedelung mit deutschen Bauern herzugeben, wenn dafür das Deutschtum im Baltikum gesichert würde. Er berichtete im Reichstag, wie ihn in den Ratsstuben in Riga die Stimmung der Meistersinger umfangen hätte, er wies immer wieder auf die Leistungen und Erfahrungen des deutschen Kaufmannes in Übersee hin und verlangte, daß die Reichsgesetzgebung beizeiten dafür Sorge trüge, diese Vorposten des deutschen Außenhandels bald wieder in ihre Funktionen einzusetzen. Gegenüber den Drohungen der Entente, nach dem Kriege durch wirtschaftliche Bündnisse den Wirtschaftskrieg fortsetzen zu wollen, beschäftigte ihn die engere Verbindung der Verbündeten Deutschlands, der Naumannsche Gedanke »Mitteleuropa«, ja, schon im Jahre 1916 warf er im Reichstag den europäischen Gedanken auf: Wir hören heute auch weiter mahnende Stimmen eines gewissen Europäertums, die das Problem Europa-Amerika vor uns aufrollen und den Gedanken vor Augen führen, wie denn eigentlich das Verhältnis dieser beiden Erdteile nach dem Frieden sein soll. Wenn wir einmal von alledem absehen, was unsere Feinde uns zugefügt haben, wenn wir noch einmal den gemeinsamen Begriff Europa uns vorstellen, müssen wir doch das eine anerkennen: Nach diesem Kriege wird Europa ein aus tausend Wunden blutender, zuckender Körper sein. Ihm steht das nicht nur ungeschwächte, sondern gestärkte Amerika gegenüber, für das niemals das Goethewort richtiger gewesen ist: »Amerika, du hast es besser als unser Kontinent, der alte!«
Die Kenntnis der großen wirtschaftlichen Probleme der Welt, die Stresemann sich durch seine Tätigkeit in der Industrie erworben hatte und durch seine Mitarbeit an den außen- und innerpolitischen Fragen der Wirtschaft, befähigte ihn, die großen weltpolitischen Probleme zu verstehen, die der Weltkrieg stellte. Solange die nach außen gerichtete Handelspolitik ruhen mußte, sollte im Inlande wenigstens alles geschehen, um die deutsche Wirtschaft für den Augenblick konkurrenzfähig zu gestalten, in dem Deutschland wieder in Wettbewerb mit anderen Staaten treten konnte. Die Kriegswirtschaft machte eine immer stärkere Monopolisierung der Rohstoffe in der Hand des Staates notwendig. Durch die Zentral-Einkaufs-Genossenschaft und ähnliche Gründungen wurde der Wettbewerb des freien Kaufmannes unterbunden, ja, es tauchte der Gedanke der Verstaatlichung der Rüstungsindustrie auf. Stresemann wandte sich gegen jede Verstaatlichung, soweit diese nicht unbedingt durch die Kriegsnotwendigkeiten geboten war, und warnte die Regierung dringend, den deutschen Kaufmannsgeist stillzulegen, der allein fähig wäre, durch Mut und Unternehmungsgeist des einzelnen wieder aufzubauen, was der Krieg zerstört habe. »Im allgemeinen«, führte er aus, »arbeitet der Privatbetrieb mit viel geringeren Unkosten als der Staatsbetrieb, und wenn Sie plötzlich vom Privatbetrieb zum Staatsbetrieb übergehen mit all der bureaukratischen Engherzigkeit, die ihm eigen sein muß, die in der Natur der Sache liegt, die darin liegt, daß der Staatsbetriebsleiter nicht die Initiative, nicht die freie Verfügung hat wie der Generaldirektor oder Leiter eines Privatbetriebes, so werden Sie manchmal dasjenige erleben, was wir im Frieden gesehen haben: daß man über die hohen Preise des Kohlensyndikats klagt, daß aber die staatlichen Gruben ebenso teuer produzieren und ebenso teuer verkaufen wie diese privaten Institutionen. Hier können wir also sehr leicht zu Ergebnissen kommen, die Ihnen vielleicht vom Standpunkt der Sozialisierung der Wirtschaft erwünscht sind, die aber nicht den finanziellen Effekt haben, den Sie erreichen wollen.«
Bei allen politischen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die Stresemann vertrat, behielt er im Auge, daß der Krieg nicht Selbstzweck sein dürfe, sondern nur Mittel zur Wahrung der gefährdeten Lebensinteressen des Reiches. Gerade wegen dieser Einstellung auf die Zukunft galt ihm das Nächstliegende als das Wichtigste: der Sieg. Man hat nach der Revolution Stresemann angegriffen, weil er felsenfest an den Sieg geglaubt habe. Der Sozialdemokrat David kritisierte Stresemanns Kriegspolitik einmal dahin, sie hätte eigentlich nur drei Begriffe gehabt: Aushalten! Aushalten! Aushalten! Stresemann hat sich dieses Siegeswillens niemals geschämt, sondern ist im Gegenteil auch nach dem Zusammenbruch stolz darauf gewesen. Er hat erkannt, daß dieser Krieg ein Krieg der Nerven wäre, und daß derjenige den Krieg verloren habe, der fünf Minuten zu früh die Waffen an die Wand stelle. Noch in seiner letzten Rede im Kriegsreichstag ruft er dem Volke zu: »Ich hoffe und möchte wünschen, daß niemals eine Situation käme, in der die Männer an unserer Spitze oder auch das Volk selber in ihrer Lebensbeichte über das, was sie während des Krieges getan haben, sich an die Worte der Lebensbeichte erinnern würden, die Ulrich v. Hutten in dem Werke von Konrad Ferdinand Meyer mit den Worten ablegt:
Mich reut der Tag, der keine Wunde schlug,
Mich reut die Stunde, die nicht Harnisch trug,
Mich reut, ich streu mir Aschen auf das Haupt,
Daß ich nicht fester stets an Sieg geglaubt.«
Stresemann selbst reiste unermüdlich im Lande umher, um der Heimat das Rückgrat zu stärken. Er rang in Wort und Schrift darum, daß die Seele der Deutschen nicht matt würde, den Sieg zu wollen, das bedeutet, an den Sieg zu glauben. Die Vertreter der deutschen Regierung wies er darauf hin, daß die Reden der feindlichen Staatsmänner in ihrem ganzen Aufbau dazu bestimmt seien, auf die Psyche zu wirken, den deutschen Siegeswillen zu schwächen, den feindlichen zu stärken, und forderte von der deutschen Regierung eine gleiche Aktivität. Noch nach dem Kriege wies er in Gesprächen auf Clemenceau hin, der in der Pariser Kammer erklärte: »Es steht gut, wir werden siegen!«, als schon die deutschen Geschosse in die französische Hauptstadt fielen. Stresemanns Grundsatz war: Es ist der Geist, der sich den Körper baut! Wenn der Krieg gewonnen werden sollte, so galt es, den Willen des Volkes stählern zu machen.
Das sittliche Recht, an Heer und Volk die Forderung zum Durchhalten zu stellen, besaß Stresemann um so mehr, als er den Frieden erstrebte. Allerdings glaubte er nicht, daß Friedensresolutionen wie die Erzbergersche die Friedensbereitschaft der Gegner fördern könnten. Auf der anderen Seite lehnte er es ausdrücklich ab, im einzelnen darzulegen: »das und das muß errungen werden, sonst ist der Krieg verloren«. »Die Friedenssehnsucht«, führte er an anderer Stelle aus, »die in der Welt vorhanden ist, ist sicher adäquat der Kulturhöhe der Völker. In einem solchen Kriege ist zu viel vernichtet, als daß nicht die Frage aufgeworfen werden könnte, ob es denn richtig ist, daß die höchsten Anstrengungen des Menschengeistes nur auf Zerstörung gerichtet sein sollten.« Der Siegeswille war um so mehr berechtigt, als dieser Krieg für Deutschland lediglich ein Verteidigungskrieg war. Lange ehe im Volk das Bewußtsein für die Wichtigkeit der Kriegsschuldfrage erwacht war, hat sich Stresemann ihrer angenommen. Wenn die Entente ihre Propaganda auf dem angeblichen Unrecht an Belgien aufbaute, so klagte er die Entente an wegen des völkerrechtswidrigen Bruches der griechischen Neutralität, und der Behauptung, daß Deutschland die anderen friedlichen Staaten überfallen habe, setzte er entgegen: »Wann haben wir denn jemals einen Drang nach weltpolitischer Expansion durch unsere Politik tatsächlich zum Ausdruck gebracht? Wann haben wir denn jemals die Verlegenheit anderer Völker benutzt, um Deutschland größer zu machen? Als Rußland mit Japan im Kampfe um seine Existenz lag, da konnte der Zar sein letztes Regiment von der ostpreußischen Grenze wegnehmen, weil er unseres Friedenswillens sicher war. Als England mit den Buren im Kampfe lag und auch einen Existenzkampf, zum mindesten um sein Prestige, führte, sind wir es da etwa gewesen, die aus seiner Verlegenheit Nutzen für uns herausholen wollten? Wir haben Marokko nicht als Kriegsgrund angesehen; wir haben zugesehen, wie ganz Nordafrika verteilt wurde; wir sahen in den letzten Jahrzehnten ein großes französisches Kolonialreich entstehen: Tunis, Algerien, Marokko; wir sahen, wie Italien Tripolis nahm; wir sahen, wie in Persien Interessensphären zwischen England und Rußland verteilt wurden. Immer haben wir Frieden gehalten, immer konnte die Welt sich auf die unbedingte Friedensliebe des Kaisers und des deutschen Volkes verlassen.« Daraus, daß uns diese Friedensliebe so vergolten worden ist, folgerte Stresemann, daß man je nach den Möglichkeiten, die ein Sieg gäbe, Sicherungen für Deutschland scharfen müsse. Allerdings sprach er sich immer gegen eine Eroberungspolitik aus, weshalb gegen ihn noch nach dem Kriege der Vorwurf der Lauheit erhoben wurde, er war vor allem Gegner davon, fremdsprachige Volksteile in den Reichsverband aufzunehmen. Er strebte nichts anderes an, als daß ein siegreicher Friede den Wiederaufstieg Deutschlands ermöglichte. Deshalb stellte er die Notwendigkeit einer kolonialen Tätigkeit in den Vordergrund und dachte an zwischenstaatliche Abmachungen betreffend den sozialpolitischen Schutz der arbeitenden Klasse, wodurch Deutschland die Möglichkeit gesichert würde, in seiner Sozialpolitik fortzufahren, ohne deshalb an Konkurrenzkraft einzubüßen.
Wichtig war es für ihn, daß er Wilson persönlich kennengelernt hatte und sich ein eigenes Urteil über ihn und seine politische Phraseologie bilden konnte. Er berichtet im Reichstag über das Zusammentreffen mit Wilson in Boston und New York: »Die Empfindung, die man damals von ihm hatte, als eines weltfremden Stubengelehrten, der die Welt draußen so ansieht, wie ein Chemiker auf seine Retorte blickt, trifft, glaube ich, vielleicht sein Bild am besten. Seltsam ist die graue Theorie, die ihn umgibt. Er kennt Europa nicht, aber er hält sich für berechtigt, es über die Staatsformen zu belehren, innerhalb derer seine Völker zu leben hätten. Er spricht von den Völkern, deren Schicksal von einer »kleinen Schicht einflußreicher Menschen« bewegt würde. Vielleicht denkt er dabei an die Vereinigten Staaten und an die Macht der Trustmagnaten, an die Macht der Leute, die dort die Wahlgelder für die Präsidentenwahl geben. Wenn er aber mit derartigen Äußerungen auf europäische Staaten oder auf uns hinzielt, dann war es schon damals nötig, ihm das Wort zuzurufen: Hände weg von unserem inneren Leben, in diese inneren politischen Gegensätze hat niemand als Präceptor Germaniae sich einzumischen!«
Gerade weil Stresemann zu einem tragbaren Frieden strebte, hielt er es für einen Fehler, vorzeitig Trümpfe fortzugeben, die Deutschland in der Hand hielt. Deshalb sprach er sich dafür aus, daß man Belgien als Faustpfand behielte, bis man sich an den Friedenstisch setze; deshalb hielt er die Proklamation des Königreichs Polen für den schwersten politischen Fehler Bethmann Hollwegs. Er konnte sich 1916 der optimistischen Wertung dieser Proklamation nicht anschließen: »Wenn man sagte: Die polnische Frage steht doch in dem Augenblick da, wo Polen vom russischen Joch frei war, so ist es doch etwas ganz anderes, ob man sich jede Freiheit für die künftigen Entschließungen vorbehielt oder von vornherein sich in diesem wichtigen Komplex der allgemeinen Friedensbedingungen Fesseln auferlegte.«
Stresemanns Freund Bassermann prägte über die Politik der deutschen Regierung einmal den bitteren Satz: »Wir haben die beste Armee und führen den schlechtesten Krieg.« Stresemann und die Nationalliberale Partei mußte Bethmann Hollweg bekämpfen, weil sie bei ihm weder den unerläßlichen politischen Führerwillen noch diplomatische Qualitäten fanden. Er hatte das unglückliche Wort vom »Unrecht an Belgien« geprägt, das die Feinde zu einer furchtbaren Waffe gegen Deutschland schmiedeten; er hatte die Polenpolitik inauguriert. Seine Politik trug die Hauptschuld, daß das Volk im Innern zerspalten war. Daß Stresemann ihm menschlich gerecht wurde, beweist sein Aufsatz »Bethmann Hollweg«.
An dem Platze Bethmanns hätte Stresemann gern Bülow gesehen, der die Parteien zur Volksgemeinschaft hätte sammeln können, dessen internationalem Ruf als Diplomat und dessen Ansehen im Ausland es vielleicht gelungen wäre, Friedensbesprechungen einzuleiten. Aber Bülows Berufung scheiterte an der Hofkamarilla. Stresemann wollte den Frieden, aber solange dieser nicht zu haben war, den Sieg. Er setzte sich für Bülow ein; er sprach Kühlmann das Vertrauen dafür aus, daß er in Brest-Litowsk die Dreistigkeiten der russischen Unterhändler geduldig ertragen und dadurch Deutschland nicht mit dem Odium belastet habe, seinerseits die Friedensverhandlungen abgebrochen zu haben. Aber er bekämpfte Kühlmann, als dieser vor dem Augenblick, in dem das Heer zum größten – man glaubte – entscheidenden Angriff eingesetzt wurde, davon sprach, daß Waffen nicht den Sieg erringen könnten.
Die Aufrechterhaltung des Siegeswillens hatte zur Voraussetzung die Zusammenfassung aller Deutschen zur bewußten Volksgemeinschaft. Wie Stresemann innerhalb des Parlaments für den Burgfrieden unter den Parteien eintrat, so für den Frieden zwischen den einzelnen Berufsständen, so vor allem für den Burgfrieden zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Ausführungen des Abgeordneten Schiele, daß die Landwirtschaft für das Reich wichtiger sei als die Industrie, beantwortete Stresemann mit dem Goethewort: »Die Deutschen sind doch komische Menschen, sie sollten sich freuen, zwei so tüchtige Kerle zu haben.« Und als die »Deutsche Arbeitgeber-Zeitung« im Jahre 1916 erneut den Standpunkt vertrat, daß man den Industriellen nicht zumuten könne, mit Gewerkschaftsbeamten zu verhandeln, bestritt Stresemann der Zeitung auf das heftigste das Recht, im Namen der deutschen Industrie zu sprechen und wies stolz darauf hin, daß der Deutsche Industrie-Schutzverband schon im Frieden mit den Gewerkschaften verhandelt habe und in 60 % der Fälle Streiks habe vermeiden können. »Der soziale Burgfrieden«, fuhr Stresemann fort, »ist so wichtig wie der Burgfrieden der politischen Parteien.« Wo allerdings die Gewerkschaften selbst den Burgfrieden nicht halten wollten, fand er gleich scharfe Worte gegen sie. Im März 1917, als Stresemann die Unduldsamkeit der Deutschen untereinander geißelte, sagte er im Reichstag: »Wie weit der Geist der Unduldsamkeit geht, habe ich staunend am 1. August 1916 erfahren, wo die Vertreter der Gewerkschaften zwar, was ich begrüßte, geneigt waren, zusammen mit dem Bund der Landwirte, mit dem Zentralverband Deutscher Industrieller einen Aufruf an das deutsche Volk zu unterzeichnen, aber nicht geneigt waren, mit den wirtschaftsfriedlichen Arbeitern auch nur auf derselben Unterzeichnungsliste eines Aufrufs zum Durchhalten im Volke zu stehen. Dabei kämpfen doch die Anhänger dieser Organisation mit ihrem Leib und Blut genau so im Schützengraben wie die gewerkschaftlichen Arbeiter und haben deshalb nicht verdient, als Parias hier in der Zeit des Krieges behandelt zu werden. Tief bedauere ich die gesunkene Staatsautorität, die darin zum Ausdruck kommt, daß die Regierung sich diesem Begehren gebeugt hat, das meiner Meinung nach gegen die vitalsten Grundsätze der Gerechtigkeit verstößt.«
Dieser Geist der Gerechtigkeit gegenüber allen Volksgenossen gab Stresemann die Überzeugung ein, daß zu innerpolitischen Reformen geschritten werden müsse, daß es nicht angängig sei, ein Volk, das draußen in allen Schichten Schulter an Schulter kämpfe, vor der Wahlurne in Klassen einzuteilen. Es ließ sich darüber streiten, welcher Weg hier zu beschreiten war; die Regierung konnte sagen: Wir sind entschlossen, eine Neuordnung im Innern durchzuführen, aber während des Krieges müssen alle inneren Streitigkeiten ruhen; sie konnte das andere tun und entschlossen während des Krieges die Reformen in Angriff nehmen. Bethmann tat keines von beiden, sondern warf durch Versprechungen, denen keine Taten folgten, den Zankapfel ins Volk, gab den Unzufriedenen das Recht, Reformen zu fordern, und ließ aus Unentschlossenheit der Regierung Stück für Stück ihrer Autorität aus den Händen reißen, anstatt freiwillig und mit großer Geste dem Gesamtvolke die Mitverwaltung an dem Staate zu geben, für den das ganze Volk kämpfte. Stresemann verlangte Reformen für Verwaltung und Verfassung. Er tat es aus dem Bewußtsein innerer Notwendigkeit und aus dem Bewußtsein der Zweckmäßigkeit. Der Kriegsausbruch und grobe Fehler noch während des Krieges hatten bewiesen, wie ungenügend unsere Politik, insbesondere unsere Diplomatie gewesen war. Stresemann machte auf einer Reise in der Türkei die schmerzliche Erfahrung, daß Deutsche sich mit ihren Bundesbrüdern in französischer Sprache unterhalten mußten, weil die deutsche Schulpolitik der französischen unterlegen gewesen war; er wies darauf hin, daß von allen Gesandtschaften und Botschaften nur die in Lima, Assuncion und Adis Abeba mit Bürgerlichen besetzt waren, wobei er besonders betonte, daß es bei der Überlieferung des Adels an sich naturgemäß sei, daß dieser im diplomatischen Dienst stark vertreten sei, aber daß es den Bürgerstolz kränke, wenn der Bürgerliche erst geadelt werden müsse, um an höherer Stelle verwandt zu werden. Er bekannte sich gerade für den auswärtigen Dienst zu dem Grundsatz: Freie Bahn dem Tüchtigen! Dabei verlangte er, daß auch dem Unbemittelten die Laufbahn offen stehen sollte, forderte die Einstellung von Wirtschafts- und Pressesachverständigen und die Aufhebung der Trennung zwischen der diplomatischen und Konsulatskarriere. Ähnliche Forderungen stellte er für das Heer. »Der Staat«, faßte er 1917 im Reichstag seine Forderungen zusammen, »muß seine Stellung zum Volk revidieren. Die neue Zeit fordert ihr neues Recht. Wenn wir wieder einen Fehler machen würden in der inneren Politik, wie er im Jahre 1815 gemacht worden ist, dann würde das uns und unsere zukünftige Entwicklung auf das allerschwerste schädigen.« Stresemann erinnerte an die Reformen des Freiherrn vom Stein und gegenüber dem sich breitmachenden Partikularismus an dessen Wort: »Ich kenne nur ein Vaterland, und das heißt Deutschland!«
Im Vordergrund aller Reformen stand die Frage der Wahlrechtsänderung in Preußen. Das Herrenhaus, das sich ablehnend verhielt, mahnte Stresemann an die Zeiten von Fichte und Gneisenau und fragte eindringlich: »Sollen wir denn daran vorbeigehen, daß nun diese große, mächtige Arbeiterbewegung eingesetzt hat, daß sie dank der Erziehung durch diesen Weltkrieg doch ein Fundament unseres Volkslebens geworden ist, an dem zu rütteln heute bedeutet, diesen ganzen Staat in Gefahr zu bringen?« Die Frage des preußischen Wahlrechts, das erkannte Stresemann, war nicht nur eine preußische, sondern in viel höherem Sinne eine deutsche Frage. »Unstimmigkeiten«, führte er aus, »mit kleineren Bundesstaaten sind erträglich und rühren nicht an den Lebensnerv des Deutschen Reiches und des deutschen Volkes; aber ein klaffender Widerspruch zwischen Reichspolitik und preußischer Politik ist auf die Dauer nicht zu tragen. Unsere ganze deutsche Reichsverfassung ist auf die Führung und auf die Vertretung des Reiches durch Preußen zugeschnitten. Als der König von Preußen die deutsche Kaiserkrone annahm, mußte er die spezifisch preußische Eigenart seines Staatsgebildes opfern; das ist auch ganz klar zum Ausdruck gekommen in der Zeit, in der zum erstenmal diese Kämpfe zwischen deutscher Einheit und Preußens Einzelstellung bei uns nach Gestaltung rangen. Ich erinnere Sie daran, daß 1866, als sich zum erstenmal die Konturen des kommenden einigen Deutschen Reichs nach der Auseinandersetzung mit Österreich abzeichneten, es damals Dingelstedt war, der dem König von Preußen in einem Gedicht zurief:
Wag's um den höchsten Preis zu werben
Und mit der Zeit, dem Volk zu gehen,
König von Preußen, Du mußt sterben,
Als deutscher Kaiser aufersteh'n.
Deshalb war ja damals dieser Kampf der altpreußischen Seele mit dem Reichsgedanken ein Kampf, den niemand in seiner Seele mehr durchgekämpft hat als der alte König Wilhelm I., der sich darüber ganz klar war, daß von dem Augenblick an, in dem er die deutsche Kaiserkrone trug, ein ganz gesondertes preußisches Eigenleben neben dem Reichsleben nicht mehr möglich sei.« Stresemann trat ausdrücklich auch deshalb für Reformen ein, weil er fürchtete, »daß wir eine sehr viel weitergehende Demokratisierung, weitergehend, als meinen eigenen Freunden erwünscht ist, dann erhalten, wenn das gleiche Wahlrecht jetzt scheitert«. Wir finden hier dasselbe Prinzip, das Stresemann früher in seinen sozialpolitischen Maßnahmen und späterhin als Reichskanzler und Außenminister in seinen außenpolitischen Handlungen verfolgt hat: den Tatsachen ins Gesicht schauen, und danach die Initiative ergreifen, um nach Möglichkeit selbst das Gesetz des Handelns vorzuschreiben! Dabei war nicht einmal innerhalb der Nationalliberalen Partei Einigkeit über die Wahlrechtsfrage vorhanden. Friedberg hatte sich zunächst stark gegen sie ausgesprochen, und als gerade er berufen wurde, die Reformen in Preußen durchzuführen, bat er Stresemann, das stellvertretende Ministerpräsidium in Preußen zu übernehmen, weil ihm, der sich schon früher für Reformen ausgesprochen habe, es leichter sein würde, sie durchzuführen. Stresemann sah sich gezwungen, die Berufung abzulehnen, weil ihm die Fühlung mit der preußischen Landtagsfraktion fehlte. Im Hinblick auf die inneren Reformen hatte er um so mehr Berechtigung, die Initiative zu fordern, als er genau wußte, daß man den Zeitströmungen nur innerhalb der Grenzen unbedingter Staatsautorität entgegenkommen dürfe. Als 1918 der Streik der Munitionsarbeiter ausbrach, stellte er sich den Forderungen der Gewerkschaften, daß ihnen für Abbruch des Streiks gewisse außenpolitische Garantien gegeben würden, mit den Worten entgegen: »Wenn erst das Parlament durch die Straße ersetzt wird, wenn einem streikenden Bruchteil der Arbeiterschaft einer Stadt in Deutschland Garantien für die künftige Politik der Regierung gegeben werden sollen – meine Herren, auf dieser schiefen Ebene kommen wir zur Herrschaft der Bolschewiki auch in Deutschland, und davor möge uns Gott in Gnaden bewahren.«
Stresemanns Streben nach Reformen war getragen von dem Treitschkeschen Grundsatz, daß es Zeiten gibt, in denen das natürliche Gefühl der Massen eine Macht im Leben des Staates wird. Er wünschte, »daß das natürliche Gefühl der deutschen Massen nicht eine Macht im Staate wird, sondern eine Macht in der Hand des Staates«. Er wünschte, Staat und Volk zu einer Einheit zusammenzuschweißen.
Die Verantwortung, die während der Kriegszeit auf Stresemann lastete, war um so schwerer, als er nach Bassermanns Tode 1917 zum Führer der Nationalliberalen Partei gewählt wurde, was ihn veranlaßte, sein Amt als Syndikus des Bundes der Sächsischen Industriellen, der ihn zum Ehrenmitglied ernannte, niederzulegen. Bassermann selbst, dessen Freundschaft mit Stresemann im Laufe der politischen Arbeit politisch und persönlich immer enger wurde, hatte in ihm den gegebenen Nachfolger gesehen. Man hatte Bassermann die Bezeichnung »der süddeutsche Demokrat« zugelegt, womit man ausdrücken wollte, daß er ein Mann der Richtung der achtundvierziger Demokraten sei, und auf dieser Basis hatten sich Bassermann und Stresemann gefunden.
Diese Basis war es auch, die es Stresemann ermöglichte, nach dem Niederbruch Deutschlands und beim Ausbruch der Revolution einen festen Standpunkt einzunehmen. In geschichtlichen Traditionen wurzelnd, konnte er sich weder den Leuten anschließen, die plötzlich eine neue politische Ethik entdeckt hatten, die alles Vergangene leugneten und nur in Gegenwart und Zukunft das Heil Deutschlands sehen wollten, noch jenen, die sich um die »Kreuzzeitung« scharten, mit ihr die Devise »Mit Gott für König und Vaterland« im November 1918 strichen und die Verantwortung für die weitere Entwicklung anderen überließen.
Schon vor der Revolution waren Einigungsverhandlungen zwischen der Fortschrittlichen Volkspartei und der Nationalliberalen Partei angebahnt, um das Bürgertum, das staatserhaltend, aber nicht konservativ gesinnt war, in einer gemeinsamen Partei zu sammeln. Die für den 17. November 1918 angesetzte Einigungsverhandlung mußte infolge des Ausbruches der Revolution verschoben werden. Sobald als möglich wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen, zumal bekannt wurde, daß sich in den Demokraten eine neue dritte Partei bilden wollte, und man eine Zersplitterung der Mittelparteien befürchtete. Diese Partei war in ihrer Gründung stark beeinflußt von der Gruppe des »Berliner Tageblattes«, von Theodor Wolff, Nuschke und Carbe. Auch mit dieser Gruppe wurden Verhandlungen aufgenommen, die jedoch an der grundsätzlich verschiedenen Einstellung zwischen ihr und der Mehrheit der Nationalliberalen und eines kleinen Teils der Fortschrittlichen Volkspartei zum nationalen Bekenntnis scheiterten. Schon der erste Satz in dem demokratischen Entwurf für einen Aufruf zur gemeinsamen Parteibildung, das deutsche Volk sei »in einen entsetzensreichen Krieg durch politische Spieler« hineingetrieben, zeigte, wie weit die Nationalliberale Partei von der Einstellung der neuen Demokraten entfernt war, die bei ihrer Gründung eine Art Huldigungstelegramm an Wilson schickten, deren Zeitschrift »Demokratie« einen Aufruf Romain Rollands, eine neue Kulturgemeinschaft zwischen Deutschland und Frankreich herzustellen, mit den Worten begrüßte: »Wenn auch die anderen uns verzeihen und entgegenkommen wollen, wir dürfen Verzeihung und Entgegenkommen nicht annehmen, ohne zum mindesten uns selbst bewiesen zu haben, daß wir wirklich und wahrhaftig anders geworden sind.« Im Gegensatz dazu hielt Stresemann und mit ihm seine Partei an den ruhmvollen Traditionen der deutschen Geschichte fest, begrüßte die Heldentat von Scapa Flow als ein Aufflackern nationalen Stolzes, und sah gerade für die bürgerlichen Parteien der Mitte, die die Zeichen der Zeit früher erkannt hatten als andere, die durch die Anträge von Bassermann und Stresemann Reformen gefordert hatten, als das Kaiserreich noch in seiner Macht war, die Aufgabe darin, die Verbindung zu schaffen zwischen der ehrenvollen Geschichte Deutschlands und den schweren Aufgaben der Zukunft, Stresemanns Ansicht nach war es nicht an der Zeit, über die Schuld am Zusammenbruch zu streiten, er warf auch nicht die Schuld in ihrer vollen Schwere auf andere Gruppen und Parteien des Volkes, sondern erkannte, daß die geistige Trägheit des Bürgertums, seine materialistische Einstellung starken Anteil an dieser Schuld hatten, daß dem deutschen Bürgertum der Idealismus verlorengegangen war, während im Sozialismus der deutschen Arbeiterschaft ein gut Teil Idealismus steckte. Das schied ihn von den Konservativen, daß ihre Partei unter Heydebrands Führung zu engherzig war, um sehen zu können und zu wollen, daß neue Zeiten neue Wege erforderten, daß sie sich nicht hatten bereitfinden lassen, durch eine Evolution eine Revolution zu vermeiden. An seinen sozialen Grundsätzen brauchte Stresemann nichts zu ändern, im Gegenteil, die einsichtigen Führer der Sozialdemokratischen Partei, Noske und Ebert, fanden den Mut, einzugestehen, daß sich mit den alten Doktrinen der Partei nichts anfangen lasse, wenn man praktisch regieren wolle, und näherten sich der sozialpolitischen Auffassung der Mitte. Und gerade, wenn Leute wie Scheidemann Mut und Fähigkeit dieser Erkenntnis nicht besaßen, und aus Angst vor Mandatsverlusten zu den Unabhängigen und Kommunisten schielten, war es notwendig, durch eine vernünftige Politik der bürgerlichen Mittelparteien jene Kreise der Arbeiterschaft zu staatspolitischem Denken heranzuziehen, die in der praktischen Arbeit lernten. Wenn es so schon aus inneren Gründen schwer war für die Führer, die Brücke zu schlagen zur Nachbarpartei nach links oder gar nach rechts, so war ausschlaggebend das Drängen der Wählerschaft, die weiterhin die alten nationalliberalen Tendenzen hochhalten wollte und die gegenüber dem Plane eines Anschlusses an die Demokratische Partei sogar mit eigenen Gründungen drohte. In der Sitzung des Nationalliberalen Hauptvereins in Berlin am 12. Dezember 1918 wurde mit 118 gegen 68 Stimmen der Beitritt zur Deutschen Volkspartei beschlossen, und am 15. desselben Monats nahm der Zentralvorstand den Antrag seines Präsidenten an, die Nationalliberale Partei unter dem Namen »Deutsche Volkspartei« fortzuführen. Die Bereitwilligkeit, die Mittelparteien auf liberaler Basis zu einigen, ist aber seit 1918 nicht mehr erloschen.
Die Stellung zum Staat war für die neue Partei von selbst gegeben. Offen blieb die Frage: Mitarbeit an der Regierung oder Opposition? Zu den Grundsätzen des Liberalismus gehört die Betonung des Wertes der Einzelpersönlichkeiten, und damit war die Gegnerschaft gegen eine Parteiwirtschaft gegeben, die »vom Reichskanzler bis zum Nachtwächter« alle Stellen nach der Parteizugehörigkeit besetzte; gegeben war vor allem die Gegnerschaft zu einer Regierung, die von den Traditionen des alten Deutschlands nichts wissen wollte. Gegenüber den Tendenzen der Linksparteien hat Stresemann damals vielleicht schärfer als jemals immer wieder auf die Kräfte hingewiesen, die in Deutschlands alter Geschichte ruhen, vor allem auf den Opfermut, die Selbstlosigkeit und Unbestechlichkeit, die der Ruhmestitel des deutschen Beamten und Soldaten waren.
In Weimar sprachen sich Stresemann und seine Partei gegen den Verfassungsentwurf von Preuß aus, hauptsächlich aus zwei Gründen: In der Verfassung sollte die Republik ein für allemal als das einzig Mögliche für Deutschland »verankert« werden. Das widersprach zu stark den Stresemannschen Anschauungen von einem deutschen Volkskaisertum; diese Verfassung, und das war vielleicht das Schlimmere, holte die Farben schwarz-weiß-rot ein. Hier zeigte sich der Gegensatz zwischen den radikalen Demokraten und denen, die an den nationaldemokratischen Grundsätzen von 1848 festhielten. Die einen nahmen dem Volke wegen mißverstandener Erinnerungen die schwarz-weiß-rote Fahne, unter der Deutschland geeint und zur Größe aufgestiegen und unter der es den schwersten aller Kriege geführt hatte, bis es, die Stirn wund von Lorbeer, zusammenbrach. Stresemann hielt gerade, weil ihm die Ideale des 1848er Jahres nicht historisches Wissen, sondern gegenwärtige Pflicht waren, an den Farben fest, unter denen die Einheit Deutschlands vollzogen worden war.
Niemals aber hat Stresemann dem Staate den Kampf angesagt, oder dem Staate die Mitarbeit grundsätzlich verweigert, weil ihm die Staatsform nicht paßte. Von Anbeginn betonte er: In diesem neuen Reich darf das Parlament nicht stärkeren Einfluß auf die Regierung ausüben wollen als früher, sondern muß sich mit der Kontrolle begnügen, denn es steht der Regierung nicht als einer anderen Macht im Staat gegenüber, vielmehr ist die Regierung vom Parlament gebilligt, und so muß das Parlament ihr auch vertrauensvoll die Freiheit des Handelns gewähren.
Auch dem Friedensvertrag von Versailles setzte Stresemann sein Nein! entgegen. Als die Fraktion der Volkspartei sich zu dem Nein entschloß, tat sie es in vollem Bewußtsein der Verantwortung, die sie auf sich nahm, denn in dem Augenblick konnte man noch nicht wissen, ob dadurch nicht die Gesamtabstimmung der Nationalversammlung Nein! lauten würde. Trotzdem brachte Stresemann zum Ausdruck, daß er den Parteien, die mit Ja! stimmten, bei der ungeheuren Verantwortung, die durch diese Stimmabgabe auf den Einzelnen und die Parteien gelegt wurde, daraus einen moralischen Vorwurf nicht machen wolle und könne. Der entscheidende Punkt in der Liquidierung des Krieges lag nach Stresemanns Ansicht weniger in Versailles denn im Wald von Compiegne, als Deutschland sich waffenlos machte. Er erkannte die mannhaften Bemühungen des Grafen Brockdorff-Rantzau, für Deutschland zu retten, was zu retten war, an und bekämpfte Erzbergers Haltung, der von vornherein erklärte, letzten Endes würden wir doch alles unterschreiben. Aber wenn auch der Friedensvertrag unterzeichnet wurde, so stellte Stresemann seit Weimar eine These in den Mittelpunkt aller Erörterungen: Wir haben uns nicht auf Gnade und Ungnade ergeben, sondern im Vertrauen auf die bindenden Versprechungen unserer Gegner. Der Vertrag ist aufgebaut auf einem Bruch völkerrechtlicher Bindungen. Auch glaubte er nicht daran, daß Versailles einen Schlußpunkt unter die Entwicklung setzen könne. Er erinnerte an den Wiener Kongreß, der einen gewissen Abschluß der Umwälzungen des achtzehnten Jahrhunderts brachte, und mit dem gleichzeitig die große Revolutionsperiode des neunzehnten mit ihren geistigen und sozialen Kämpfen begann. »Töricht, wer da annimmt, daß die Ratifizierung des Friedens von Versailles jetzt den Schlußpunkt unter die ganze Entwicklung der Welt setzt.«
Wenn aber Deutschland sich wieder emporringen sollte, so mußte die Grundlage der unerschütterliche Glaube an die Aufgaben sein, die dem deutschen Volke auf Grund seiner Vergangenheit, seiner Geschichte, seiner Kultur gestellt waren, das Vertrauen, daß es der deutschen Zähigkeit gelingen müsse, wieder hochzukommen, getragen von der Festigkeit jenes Glaubens, von dem Bismarck sagte, daß er auch in der Politik Berge versetzen könne. In diesem Sinne rief Stresemann einmal Wirth zu: »Wer ohne Hoffnung ist, der soll die Hand von der Politik lassen.«
Wenn eingangs gesagt ist, daß der Staatsmann zur Führung der Politik die seelischen, materiellen und intellektuellen Kräfte seines Volkes zusammenfassen müsse, so war diese Voraussetzung für die Politik nach dem Kriege nicht gegeben. Die materiellen Kräfte waren nach dem Kriege zerrüttet und verfielen von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, zuletzt von Tag zu Tag, bis es dem Kabinett Stresemann gelang, den Wiederaufbau unserer Wirtschaft und Währung einzuleiten. Die Psyche des deutschen Volkes, erschüttert durch den jähen Sturz von Siegeshoffnung in tiefste Niederlage, gequält und gedemütigt durch das ehrverletzende Vorgehen des Feindbundes, in seinem Verständigungswillen, seinem Vertrauen und seinen Hoffnungen immer wieder enttäuscht, bäumte sich auf und wollte nichts wissen von Verhandlung und Verständigung mit Gegnern, zu denen es kein Vertrauen mehr hatte. Stresemann erkannte die psychische Berechtigung dieser Stimmungen wohl an. Er hat auch ausgesprochen, daß es ein leichtes für einen großen Redner wäre, der populärste Mann in Deutschland zu werden, wenn man die Massen, in denen das unterdrückte und gequälte Nationalgefühl auflodert, um sich scharte, aber er sah, daß diesen Weg derjenige nicht gehen dürfe, der es gut mit seinem Lande und seinem Volke meine, der nicht an heute und morgen, sondern an die Zukunft dächte. Solange Stresemann nicht in der Regierung war, auch noch als die Volkspartei sich in Opposition befand, sprach er im Reichstage aus, daß jeder Außenminister notgedrungen eine unpopuläre Politik treiben müsse, eine Politik, die vielleicht von der Intelligenz, nicht aber von der Seele des Volkes verstanden würde.
In Erkenntnis der Schwierigkeiten für die Regierung suchte Stresemann sie in ihrer Arbeit nach Möglichkeit zu unterstützen und begrüßte jede Initiative. Er bekämpfte jedoch die sogenannte Erfüllungspolitik, die zunächst geführt wurde, weil man glaubte, durch bedingungsloses Erfüllen aller Wünsche des Gegners ihn versöhnlich zu stimmen, späterhin, wie der Reichskanzler Wirth erklärte, um durch die Erfüllungspolitik die Absurdität der Erfüllungspolitik zu beweisen. Den Unterschied zwischen Wirthscher und Stresemannscher Politik zeigten die Verhandlungen des Abgeordneten mit Lloyd George, von dem Stresemann forderte, daß er die bestimmte Zusage für die Räumung von Düsseldorf und Duisburg geben solle und für ein Eintreten Englands dafür, daß die deutschen Interessen in Oberschlesien entsprechend den Ergebnissen der Abstimmung berücksichtigt würden. Als das Londoner Ultimatum Deutschland von neuem die Zahlung einer Goldmilliarde auferlegte, lehnte Stresemann dieses Ultimatum ab, weil die Aufbringung dieser Milliarde nur mit Mühe bewerkstelligt werden konnte, weil ihre Zahlung ein Aufhalten des Währungsverfalles fast unmöglich machte. Daß man durch bedingungslose Zahlung den Gegner nicht gefügig machte, bewies die der Abstimmung hohnsprechende Entscheidung über Oberschlesien. Überdies wurde beim Gegner durch die Bereitwilligkeit Deutschlands zu Zahlungen der falsche Eindruck eines unerschöpflichen Reichtums erweckt. Außerdem war das Frankreich Poincarés durch Zahlungen nicht zu befriedigen, vielmehr war dessen Zweck, aus Deutschland möglichst viel herauszuholen, um dann trotzdem sein Jahrhunderte altes, durch kein irgendwie geartetes Recht begründetes Ziel, die Rheingrenze, anzustreben. Jetzt kamen Stresemann seine wirtschaftspolitischen Kenntnisse zustatten. Unbeirrt durch die Tagesfragen, unbeirrt durch die politischen Kämpfe, die ihn oft genug zu heißer Empörung entflammten, verfocht er schon vor dem rechtswidrigen Einbruch der Franzosen in das Ruhrgebiet die These von der Schicksalsgemeinschaft der europäischen Völker, die These, daß der Ruin Deutschlands den Ruin auch der anderen Völker Europas bedeute, und damit den Grundsatz, daß nur ein Wiederaufbau Deutschlands, das heißt eine Revision der französischen Politik, den Verfall der französischen Wirtschaft abwenden könne, den Stresemann schon zu einer Zeit prophezeite, als Frankreich die unbestrittene Führung in der europäischen Politik hatte. Längst klang das Wort von den »Siegerstaaten« wie bitterer Hohn, und nur Poincarés Kurzsichtigkeit erkannte die Stunde nicht.
Als unter seiner Regierung die Franzosen wider Recht und Vertrag, selbst unter Mißbilligung ihrer Bundesgenossen, ins Ruhrgebiet einfielen, fand sich das deutsche Volk in einer Einigkeit zusammen, wie sie seit den Augusttagen 1914 nicht mehr gesehen war. Im Reichstag sprach Stresemann gleichzeitig für die Fraktionen des Zentrums, der Deutschnationalen, der Deutschen Volkspartei, der Demokraten, der Bayerischen Volkspartei, des Bayerischen Bauernbundes und der Deutsch-Hannoveraner. Seine Worte waren ein flammender Protest gegen Frankreich, ein begeistertes Eintreten für die Volksgemeinschaft. »Je schwerer die Not uns alle bedrückt, um so treuer müssen und wollen wir zusammenhalten. Gegensätze des politischen Denkens und religiöser Empfindung müssen zurücktreten gegenüber dem trotz allem stolzen Gefühl, Deutscher zu sein und seinem Volkstum die Treue zu halten.« Ihm schien die Stunde gekommen, in der auch die Gegner der einmal gegebenen Verfassung von der Bevölkerung an Rhein und Ruhr lernen mußten, daß, wer Deutschlands Zukunft will, sich nicht an der Verfassung stoßen, sondern an den Staat glauben und ihm dienen soll. Als der Ruhrkampf seine Höhe schon überschritten hatte, faßte er dieses Bekenntnis zu Deutschlands Zukunft in die Worte zusammen: »Wenn mancher die heutige Zeit für hoffnungslos ansieht und wenn manche diesen Staat schmähen, manchmal glauben, dieser Staat und dieses Reich hätten keine Existenzberechtigung mehr in sich und ständen in Gefahr des Verfalls, dann tröste ich mich mit dem einen: Wenn dieses Reich, daß dem Einzelnen nichts geben kann an Glanz und Größe, sondern ihm nur Not und Elend und Demütigung in der Welt gibt, trotzdem Hunderttausende veranlaßt, Heim und Hof zu verlassen, um die Treue zu Deutschland zu bekennen, so brauchen wir an der Zukunft dieses Vaterlandes nicht zu verzweifeln.«
In der gleichen Rede formulierte er die Ziele des passiven Widerstandes: »Die Bevölkerung führt diesen Kampf für ganz bestimmte deutsche Ziele. Sie führt ihn für die ungeschmälerte Erhaltung des deutschen Bodens, sie führt ihn für unsere politische und wirtschaftliche Wiederverfügung über das deutsche Ruhrgebiet, sie führt ihn für die Wiederherstellung vertragsmäßig international festgelegter Zustände im Rheinland und in der Pfalz, sie führt ihn für eine Lösung der Reparationsfrage in einem Sinne, daß uns bei größten Opfern und harter Arbeit doch die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Existenz verbleibt und die für jedes Volk unerläßliche Möglichkeit späterer Weiterentwicklung. Schaffe man uns die Tatsachen in Europa, dann kann man die Akten schließen über den Widerstand an der Ruhr, der nichts anderes gewesen ist als der stumme Aufschrei eines unerhört gequälten, geknechteten Volkes.«
Wenige Tage nach dieser Rede, im August 1923, wurde Stresemann als Reichskanzler und Außenminister an die Spitze der Staatsgeschäfte berufen. Als er das Amt übernahm, stand das Reich auf dem tiefsten Punkte, auf dem es je in seiner Entwicklung gestanden hat. Das Ringen an Rhein und Ruhr wurde mit einer Verbissenheit und Grausamkeit geführt, die an das Mittelalter erinnerte. Die durch das Verhalten der Franzosen zur Verzweiflung getriebene Bevölkerung schritt zu Taten, die, wie Stresemann im Reichstag ausführte, »juristisch zwar zu verurteilen, die aber vor Gott und dem Göttlichen in uns, dem Gewissen des Menschen, durchaus zu verteidigen sind«.
Aber trotz der Erbitterung und des Heldenmutes einzelner war der Kampf aus zwei Gründen verloren: Einmal hatte der passive Widerstand, der zunächst der heldenhafte Aufstand des nationalen Willens gegen fremde Unterdrücker gewesen war, im Verlaufe des Kampfes zu Zersetzungserscheinungen geführt. Wer arbeitete, war ein Landesverräter, und wer nicht arbeitete, wurde von der Reichskasse unterhalten, eine Tatsache, die bald genug demoralisierend auf die Bevölkerung wirkte. Zum anderen war das Reich nicht mehr in der Lage, den Widerstand zu finanzieren; denn von Tag zu Tag sank die deutsche Währung, und eine Stabilisierung war nicht möglich, solange täglich Milliarden und Billionen in das Danaidenfaß an Rhein und Ruhr geworfen werden mußten. Eine Balancierung des Etats war aus diesem Grunde nicht möglich, und auch deshalb nicht, weil das Reich durch die Stillegung der Industrie in den besetzten Gebieten seiner wichtigsten Steuerquelle beraubt war, weil es nicht die Verfügung über seine Eisenbahn und seine Rohstoffe besaß, wodurch auch die Wirtschaft des übrigen deutschen Landes teilweise lahmgelegt wurde. Eher drohte der durch den Ruhrkampf beschleunigte Verfall der Währung das deutsche Volk mitzureißen, in dem sich Auflösungs- und Gärungserscheinungen bemerkbar machten. Ein achtundvierzigstündiger Streik der Reichsdruckerei drohte die gesamten Zahlungen im Reiche in Frage zu stellen. Das Reich war nicht zu retten, wenn es nicht gelang, die Währung zu stabilisieren, einen Etat aufzustellen und auf Grund geordneter deutscher Verhältnisse Auslandskredite zu bekommen, um die deutsche Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.
Überdies benutzte Frankreich die Ohnmacht des Reiches, um verbrecherische Elemente zu veranlassen, unter dem Schutze französischer Bajonette die Rheinische Republik und die Pfalzrepublik auszurufen.
In Sachsen hatten die Kommunisten, denen aus Angst vor den Wählern die Sozialdemokraten nachgelaufen waren, eine kommunistische Regierung gebildet, die von Sachsen aus die bolschewistische Revolution in das Reich zu tragen drohte. In Bayern hatten Hitler und Ludendorff ihre rechtsradikalen Gruppen bei Coburg aufmarschieren lassen, um den Marsch auf Berlin anzutreten und die Regierung zu stürzen. Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß die Pläne Hitlers wie die des sächsischen Ministerpräsidenten Zeigner, wenn sie zur Durchführung gekommen wären, nicht nur den Sturz der Regierung bedeutet hätten, sondern die Auflösung des Reiches, die Vernichtung der Staatsidee und den Triumph Frankreichs.
Hergt hat einmal von Stresemann als dem Fanatiker der Volksgemeinschaft gesprochen und hat hiermit insofern recht, als dieser Gedanke der Inbegriff von Stresemanns politischem Glaubensbekenntnis ist. In einer so verzweifelten Lage, wie Stresemann sie als Kanzler vorfand, zeigte sich die Bedeutung dieser Idee. Stresemann gelang es, was anderen früher mißlungen war: die Zusammenfassung aller Parteien von der Deutschen Volkspartei bis zu den Sozialdemokraten. Mit diesem Kabinett der großen Koalition unter Billigung der Sozialdemokraten verfügte er die Reichsexekutive gegen Sachsen, ließ Truppen einmarschieren und geordnete Verhältnisse herstellen. Als Chef eines Ministeriums, in dem Sozialdemokraten saßen, setzte er die Billigung der Rückkehr des Kronprinzen durch, fand er einen modus vivendi mit Bayern und legte den Grundstein der Stabilisierung der deutschen Währung. Von den Linksparteien wurde Stresemann zum Vorwurf gemacht, daß er gegen Bayern nicht mit gleicher Rücksichtslosigkeit wie gegen Sachsen vorgegangen wäre. Wenn er das nicht getan hat, so lag der Grund darin, daß ein allzu scharfes Vorgehen gegen Bayern die Reichseinheit gefährdet hätte, die wichtiger war als das formale Recht.
Die Sozialdemokratie ist späterhin aus dem Kabinett Stresemanns ausgetreten, weil sie ihren Wählern gegenüber nicht die Verantwortung für den Abbau der Beamtengehälter, für Ungeschicklichkeiten der Reichswehr in Sachsen und vor allem für die Abkehr vom Achtstundentage übernehmen wollte, die Stresemann durchgesetzt hatte. Wenn es dem von ihr gestellten Finanzminister Hilferding trotz seines guten Willens und trotz seiner großen Fähigkeiten nicht gelungen ist, die Stabilisierung durchzuführen, so lag das daran, daß während seiner Amtszeit die Voraussetzungen noch nicht geschaffen waren. Die Eisenbahn, früher die Haupteinnahmequelle der Länder, war zu einer Last für das Reich geworden, ebenso die Post. Beide wurden selbständig gemacht und angewiesen, derart nach wirtschaftlichen Grundsätzen zu arbeiten, daß sie sich nicht nur selbst tragen konnten, sondern darüber hinaus den Etat des Reiches entlasten halfen. Weiterhin mußten die Ersparnismaßnahmen durch Beamtenabbau und rücksichtslose Senkung der Gehälter durchgeführt, mußten vor allem die Steuern, die stets entwertet waren, bis sie in die Hand des Staates kamen, wertbeständig gestaltet werden. Als Stresemann das Kabinett übernahm, waren nur noch 2% der öffentlichen Ausgaben durch Einnahmen gedeckt. Während seiner Regierungstätigkeit wurden die Voraussetzungen für die Stabilisierung der Währung geschaffen. Für die Stabilisierung selbst standen sich zwei Theorien gegenüber. Helfferich wollte die Roggenmark schaffen, deren Wert sich nach dem jeweiligen Preise des Roggens richten sollte. Er dachte dabei an die Lage des Augenblicks, an die Weigerung der Landwirtschaft, zu liefern, wenn sie nicht wertbeständig bezahlt würde. Gegen diese Lösung sprachen sich die Banken aus und befürworteten den Schachtschen Vorschlag der Goldnotenbank. Als Zwischenglied wurde die Rentenmark geschaffen, deren Herausgabe zunächst nicht viel mehr bedeutete als ein Experiment. Die Frage, ob die Rentenmark sich durchsetzen würde, war gleichbedeutend mit der, ob das eigene Volk und das Ausland zu Staat und Regierung Vertrauen besaßen. Der Erfolg hat bewiesen, daß dies der Fall war.
Die ganze Amtsdauer der beiden Kabinette Stresemann betrug nur zwölf Wochen. In dieser Zeit war es gelungen, in Bayern und Sachsen Ordnung herzustellen, das Reich zusammenzuhalten, die Voraussetzungen für den Wiederaufbau der Wirtschaft zu schaffen, vor allem die Verhandlungen mit Frankreich anzubahnen.
Poincaré hatte zwar zugesichert, daß nach Abbruch des Ruhrkampfes Frankreich bereit wäre, über das ganze Problem der Reparation zu verhandeln, aber als der Ruhrkampf – nicht Frankreich zuliebe, sondern aus innerer Notwendigkeit – abgebrochen war, zeigte es sich, daß Poincaré mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften diese Verhandlungen vermeiden wollte. Durch den passiven Widerstand waren die Augen der ganzen Welt auf das Ruhrgebiet und die französische Politik gelenkt. Kam es zu Verhandlungen, dann mußte Frankreich Farbe bekennen, was es wollte: die Rheingrenze oder Reparationen. Stresemanns Taktik mußte dementsprechend darauf gerichtet sein, den Streit mit Frankreich vom politischen auf das wirtschaftliche Gebiet hinüberzuspielen. Während seiner Kanzlerschaft war von maßgebenden Persönlichkeiten in Berlin und maßgebenden Leuten des Rheinlandes der Gedanke ausgesprochen, das Rheinland vom Reich loszulösen und die Wiedervereinigung einer späteren Entwicklung zu überlassen. Das war ein Vorschlag, über den Stresemann mit sich nicht reden ließ, und bei seiner Haltung – das muß hervorgehoben werden – fand er die stärkste Unterstützung bei den Sozialdemokraten. Wenn Stresemann jetzt von der Frage der Rheingrenze ablenkte und Frankreich zwang, über Reparationen zu sprechen, so war er sich dabei wohl bewußt, daß Deutschland schwere Lasten werde auf sich nehmen müssen. Die Grenze deutscher Lasten und die Grenze deutscher Versprechungen war gegeben durch die wirtschaftliche Kraft Deutschlands. Innerhalb dieser Grenze war er bereit, soweit es durchaus sein mußte, das notwendige Lösegeld zu zahlen für die Freiheit der deutschen Brüder an Rhein und Ruhr. Das Merkwürdige war, daß gerade die Kreise die Bereitwilligkeit, Lösegeld zu zahlen, als ein unnationales Gebaren brandmarkten, die ihre Politik darauf aufbauten, später durch deutsches Blut das Gleiche zu erreichen.
Es kam zunächst darauf an, die deutsche Leistungsfähigkeit darzulegen. Teils durch Verschulden der Erfüllungspolitik, teils durch die unerhörte französische Propaganda war im Ausland der Glaube an einen fast unbegrenzten Reichtum Deutschlands verbreitet. Schon deshalb bedeutete es einen Fortschritt, daß unter Führung des General Dawes ein neutrales und unbeeinflußtes Gremium zur Prüfung der deutschen Leistungsfähigkeit zusammentrat. Es gewann weitere Bedeutung dadurch, daß es sich um Vertreter der Vereinigten Staaten handelte, die bisher jede Einmischung in europäische Fragen mit dem Satz: »No European troubles« abgelehnt hatten und sich nun der Klärung der europäischen Verhältnisse annahmen. Auf Grund ihres Gutachtens wurde erreicht, was Stresemann schon vor dem Ruhreinbruch als das nächste Ziel, das er anstrebe, bezeichnet hatte: ein Moratorium für Deutschland und Gewährung internationaler Anleihen. Daß diese durch Garantien der gesamten deutschen Wirtschaft und Garantien des Staatseigentums gesichert wurden, bedeutete insofern eine innerdeutsche Gerechtigkeit, als an Stelle der Spezialpfänder an Rhein und Ruhr nunmehr das gesamte deutsche Volk die Garantien zu stellen hatte. Das Gutachten machte zur Voraussetzung die Wiederverfügung des Reiches über Eisenbahn, Post, Zölle und Steuern im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Die Annahme des Dawes-Gutachtens war also der Beginn der Befreiung der besetzten Gebiete, denn nachdem der Deutsche Reichstag sich für Annahme des Dawes-Gutachtens erklärt hatte, mußte Frankreich sich zur Räumung des Ruhrgebietes und der Sanktionsstädte Düsseldorf und Duisburg bereitfinden.
Die Schwierigkeit bei den Besprechungen mit Frankreich lag darin, daß Frankreich sich hinter die Sicherheitsfrage verschanzte, wenn es seine politischen Ziele im Auge hatte. Es galt deshalb, Frankreich auch diesen Vorwand zu nehmen. Schon Cuno hatte einen, wenn auch nicht glücklichen, Versuch gemacht, einen Gottesfrieden am Rhein abzuschließen. Stresemann nahm mit glücklicherer Hand diese Bemühungen wieder auf, die nun von Frankreich mit der Frage des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund verkettet wurden, nachdem schon vorher der englische Ministerpräsident Deutschland zum Eintritt eingeladen hatte. Die deutsche Regierung formulierte daraufhin die Bedingungen, unter denen sie bereit wäre, den Eintritt zu vollziehen. Entsprechend der ganzen Linie der Stresemannschen Politik wurden zwei Punkte hervorgehoben. Erstens: Deutschland muß so gestellt werden, daß ihm die Großmachtstellung zugesichert wird, die ihm im Rate der Völker zukommt, das heißt, ein ständiger Ratssitz, der Deutschland den am meisten bevorzugten Völkern der Erde gleichstellt. Und zweitens: Deutschland lehnt die Anerkenntnis seiner Schuld am Kriege ab. Von Gegnern des Locarnopaktes ist daraus, daß das Inkraftbleiben des Versailler Vertrages ausdrücklich festgelegt wurde, gefolgert worden, daß die Regierung damit eine erneute Anerkennung der deutschen Kriegsschuld ausgesprochen hat. Dies zu tun, hätte für Stresemann einen Bruch mit seiner ganzen bisherigen Politik bedeutet. In allen großen Reichstagsreden ist er immer wieder gegen die Kriegsschuldlegende aufgetreten, hat die Äußerungen von Nitti und Lloyd George zitiert, hat Poincaré und Frankreich aufgefordert, sich einem neutralen Schiedsgericht zu unterwerfen, wenn sie wirklich glaubten, daß ihre Behauptung von der Schuld Deutschlands richtig wäre, hat auf die Veröffentlichungen der Vorkriegsakten des Auswärtigen Amtes und des russischen Außenministeriums und der von Deutschland aufgefundenen Akten des belgischen Außenministeriums hingewiesen und die anderen Völker aufgefordert, ihre Archive zu öffnen, wenn wirklich sie ein gutes Gewissen hätten. Es war für jeden, der Stresemanns Politik kannte, eine Selbstverständlichkeit, daß er den Anlaß der europäischen Verständigung benutzen würde, um die Unwahrhaftigkeit der Behauptung deutscher Schuld am Kriege zurückzuweisen. Die dritte der Fragen, die die Verhandlungen von Locarno beherrschten, war durch den Paragraph 16 der Völkerbundssatzung gegeben. Das entwaffnete Deutschland war nicht in der Lage, sich in kriegerische Verwicklungen gegen seinen Willen hineinziehen zu lassen, und hatte noch weniger Veranlassung, die Rolle des Vorpostens in einem etwaigen Kriege der Westmächte gegen Rußland zu übernehmen. Deshalb mußte es für den Fall einer Völkerbundsexekutive sicherstellen, daß seiner besonderen militärischen und geographischen Lage gebührend Rechnung getragen wird.
Locarno bedeutet den Beginn einer europäischen Verständigung auf gleicher Basis, der Entpolitisierung der Gegensätze und eine Überführung auf das Gebiet gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen. Aus einem Bund der europäischen Mächte gegen Deutschland wurde ein Pakt der europäischen Mächte mit Deutschland. Mit diesem Pakt ist der Besetzung deutschen Gebietes der Boden entzogen. Daß es Aufgabe der Regierung sei, diesen Grundsatz durchzusetzen, hat Stresemann seither oft genug ausgesprochen.
Dem Locarnopakt trat der Berliner Vertrag zur Seite, der das freundnachbarliche Verhältnis zwischen. Deutschland und Rußland betonte und damit die Tatsache, daß alle Befürchtungen nichtig seien, daß Deutschland sich einer russenfeindlichen Politik verschrieben hätte.
Die erste Folge des Locarnopaktes war die Räumung der ersten Rheinlandzone durch die Engländer. Gewiß war diese Räumung zu fordern Deutschlands gutes Recht. Aber noch zwei Jahre vorher hatte Poincaré erklärt, daß die Besatzungsfristen noch nicht zu laufen begonnen hätten, und daß Frankreich die Kölner Zone besetzen würde, falls England sie räumen sollte. Die Räumung war Deutschlands Recht, aber dem Rechtsstandpunkte zum Siege verholfen zu haben gegenüber dem Machtstandpunkt, das ist Stresemanns Verdienst.
Der Locarnopakt, der in London unterzeichnet wurde, sollte erst mit dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund in Wirksamkeit treten. Dieser sollte im Frühjahr 1926 in Genf erfolgen. Der einzige Punkt der Geschäftsordnung dieser Völkerbundstagung war die Aufnahme Deutschlands. Da meldeten sich auf Grund früherer Ansprüche Spanien und Brasilien und auf Grund deren Ansprüche weitere Mächte. Die deutsche Delegation unter Führung Luthers und Stresemanns stellte sich demgegenüber auf den Standpunkt, daß Deutschland vor seinem Eintritt keine grundlegende Änderung in der Zusammensetzung des Völkerbundsrates zulassen könne, da dadurch die Umstände geändert wären, unter denen Deutschland sein Aufnahmegesuch übermittelt habe. Den gleichen Standpunkt nahm die Delegation ein, als Polen einen ständigen Sitz für sich beanspruchte. Die Genfer Verhandlungen verliefen zuletzt durch das Veto Brasiliens ergebnislos, und es lag die große Gefahr vor, daß durch die Festigkeit der deutschen Vertreter das Odium des Mißlingens auf deren unbeugsame Verfechtung ihres Grundsatzes geworfen wurde. Stresemann hat wohl erkannt, welche Gefahr darin liegen konnte, die in Deutschland nur zu oft unterschätzte Weltmeinung gegen das Reich aufzubringen, und darum war es trotz allem ein bedeutsamer diplomatischer Erfolg, daß die Locarno-Mächte beschlossen, ihren Vertrag aufrechtzuerhalten und die Rückwirkung für das Rheinland eintreten zu lassen, auch wenn dieser Vertrag noch nicht in Geltung wäre. Man hat aus den damaligen Vorgängen in Genf die Folgerung ziehen wollen, daß der Völkerbund und die Völkerbundspolitik an sich verfehlt wäre. Stresemann wies demgegenüber darauf hin, daß die Idee des Völkerbundes nicht deshalb zu verurteilen sei, weil der Mechanismus einmal versagt habe, und eine Politik nicht deshalb falsch, weil sich ihr Hindernisse in den Weg stellen.
Es erhob sich die Frage, ob man die Verhandlungen brüsk abbrechen solle, wozu das Verhalten Brasiliens vielleicht eine Berechtigung gegeben hätte. Der Zusammenstoß mit Polen und Brasiliens Veto zeigten die Schwäche in der Konstruktion des Völkerbundes. Gerade darum war es nötig, die in Locarno angesponnene Politik um so stärker zu gestalten. Es war deshalb für Deutschland trotzdem ein Erfolg, daß die Locarnomächte beschlossen, ihren Vertrag aufrechtzuerhalten und die Rückwirkung für das Rheinland eintreten zu lassen, auch wenn dieser Vertrag formell noch nicht in Geltung wäre.
Innerhalb Deutschlands setzte bis in die Reihen der Deutschen Volkspartei hinein eine scharfe Kritik am Völkerbund und eine Negierung seiner Institution ein.
Die Ergebnisse der Herbsttagung 1926 in Genf haben aber die ersten Früchte der auf lange Sicht eingestellten Politik gebracht. Die Art, wie die deutschen Vertreter bei ihrem Eintritt in den Völkerbund begrüßt und umjubelt wurden, zeigt am besten, welchen gewaltigen Weg im Aufstieg der Weltmeinung, der Achtung und Schätzung der Völker Deutschland in den sieben Jahren seit Versailles zurückgelegt hat. Die Aufnahme, die Deutschland im Rate der Völker fand, beweist, daß weitschauende Politik richtig handelte, als sie den Bogen nicht überspannte.
Die Genfer Tagung fand ihren Ausklang im Zwiegespräch von Thoiry. Die gemeinsame Erkenntnis, daß eine wirtschaftliche Gesundung Europas nur Hand in Hand gehen kann mit der politischen, wurde der Ausgangspunkt, neue Wege zu suchen, um zunächst die Folgen der Nachkriegspolitik zu beseitigen, und es steht zu hoffen, daß auf dem so bereiteten Felde sich die Keime für eine neue Entwicklung des gesamten Europa zur Blüte entwickeln werden.
Auch hier zeigen sich die durch die ganze Entwicklung Stresemannscher Politik gehenden Prinzipien: Tatsachenmut, Mut zum Handeln, Glaube an Zukunft und Vaterland. Es sind die gleichen Eigenschaften, die es dem jungen Syndikus in Dresden ermöglichten, die schwachen wirtschaftlichen Verbände mit dem Willen zur Tat und zur Macht zu erfüllen und sie zum Siege zu führen, die den Außenminister veranlaßten, in seinem Memorandum zielbewußt den Weg einzuschlagen, der zu Deutschlands Freiheit und zur Befriedung Europas allein führen kann und wird.
Wir stehen noch mitten im Streite der Ideen und Tatsachen, wie denn Politik immer Kampf ist, sittlich aufgefaßt, ein Kampf um die Wege zu höherem Menschentum. Daß diesem Kampfe um Vaterland und Menschentum Stresemanns Lebenswerk gilt, des mögen die nachstehenden Reden und Schriften Zeuge sein.