Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von dieser Stunde an konnte Leo das hurtige Wühlen seiner Feinde auf jedem Schritte seiner Bahn bemerken. Wohin er auch ging – sie waren vor ihm schon dagewesen, oder doch ganz gewiß bald nach ihm an Ort und Stelle. Der Wirth des Hotels, in welchem er Wohnung genommen, kündigte ihm schon am nächsten Tage mit höflichem Bedauern, aber es sei ihm unmöglich, in seinem Hause einen Gast zu haben, der Arbeiter mit nägelbeschlagenen Stiefeln in seinem Zimmer empfange; auch wolle und könne er nicht verschweigen, daß mehrere seiner vornehmsten Gäste sich geradezu geweigert hätten, mit dem Herrn Doctor unter einem Dache zu wohnen und an Einem Tische zu speisen. Leo zog in einen anderen Gasthof, wo ihm dasselbe Lied gesungen wurde; endlich fand er in einem Hotel garni, dessen ehrsame Wirthin sich um die Welthändel nicht bekümmerte, wenigstens für den Augenblick ein Unterkommen.
Und das war noch nicht Alles. Die liberalen Zeitungen brachten Berichte über die Arbeiterdeputation, in welchen seine Protectorrolle, wie man es nannte, auf das Entschiedenste verurtheilt, ja auf das Grausamste verhöhnt wurde. Endlich erzählte das Feuilleton eines reactionären Blattes, dessen Talent in der Verdächtigung des Privatcharakters öffentlicher Personen berüchtigt war, eine pikante Geschichte von einer Krähe, die es sich in dem Nest eines Edelfalken bequem gemacht habe und endlich, nachdem man ihr die gestohlenen Federn (bis auf einige, die nicht wieder hätten herbeigeschafft werden können) ausgerupft, auf Verwendung des großmüthigen Edelfalken diesmal noch ohne Strafe davongekommen sei.
Leo hatte für diese Gemeinheiten nur ein verächtliches Lächeln, aber mit Zorn erfüllte es ihn, als der Minister von Hey ihn auf sein Gesuch, der Arbeiterdeputation eine Audienz bei dem Könige bewirken zu wollen, mit wenigen dürren Worten abschlägig beschied, und an demselben Tage ein Schreiben von dem General von Tuchheim eintraf, in welchem derselbe mittheilte, daß er sich leider noch immer unwohl befinde und daher zu seinem tiefsten Bedauern außer Stande sehe, dem jungen Freunde in seinem kühnen und edlen Projecte irgendwie förderlich zu sein.
So kam der Tag, an welchem er die Arbeiterversammlung ausgeschrieben hatte, heran.
Der Morgen fand ihn nach einer schlaflosen Nacht in fieberhafter Erregung. Er konnte sich nicht verhehlen, daß die ungeheure Arbeit dieser letzten Monate vergeblich gewesen war. Wo er auch den Hebel angesetzt hatte, die Last, die er fortwälzen wollte, war unbeweglich geblieben.
Eine tiefe Traurigkeit wollte sich seiner bemächtigen; mit der äußersten Anstrengung gelang es ihm, sich empor zu raffen. Die letzte Scene des Dramas sollte ihn seiner selbst nicht unwürdig finden. Die letzte Scene, ja! Es war vorbei. Hier war seines Wirkens nicht mehr. Von der Versammlung heute Abend hoffte er nichts, wie er denn längst den Glauben aufgegeben, das arme, unwissende Volk könne aus sich heraus, durch eigene Kraft zu Wohlstand und Bildung gelangen. Er wollte nichts, als diese seine Ueberzeugung noch einmal öffentlich aussprechen. Was dann weiter kommen sollte – er wußte es nicht, er dachte auch nicht daran; vorläufig hatte er mit der Gegenwart abzuschließen.
So bereitete er denn Alles zu einer schleunigen Abreise vor. Er ließ von Philipp, dem jungen Diener, der seinen ernsten, schweigsamen Herrn in seiner Weise liebgewonnen hatte und sich ernstlich über dessen Beschluß, die Stadt verlassen zu wollen, betrübte, seine Sachen und Bücher packen, während er selbst seine Papiere ordnete. Es war da nicht eben viel zu thun. Seit Jahren bald hier, bald dort lebend, jeden Augenblick bereit, das schnell errichtete Zelt wieder abzubrechen, überdies fortwährend in hochverrätherische Unternehmungen verwickelt, hatte er längst die Gewohnheit angenommen, jede Zeile, die auch nur im Entferntesten eine andere Person bloßstellen konnte, zu vernichten. Indem er das Wenige, was er noch vorfand, auf den glühenden Aschenhaufen im Ofen warf, kam ihm ein kleines Packet, das sorgfältiger als die übrigen zusammengebunden war, in die Hände. Es waren Silvia's Briefe.
Er wog sie sinnend in der Hand. Nur wenige dünne Blätter – und doch war es ihm, als ob sie ein besonderes Gewicht hätten, wie Goldstücke zwischen anderen Münzen. – Was wird sie sagen, wenn sie erfährt, daß du über Nacht abgereist bist, wie ein Spieler, der seinen letzten Gulden am grünen Tisch verloren hat? Sie ist das einzige Wesen, das dich verstand; das einzige, das dich vermissen wird.
Leo zauderte; dann warf er das kleine Packet in die Flamme. Was soll die sentimentale Regung? Den indischen Priestern ist verboten, zweimal unter einem und demselben Baume zu schlafen, daß auch nicht der Schatten einer Anhänglichkeit, selbst nicht an ein lebloses Wesen, in ihre Seele falle. Laß sie nach Liebe jammern, die ohne einen Spiegel, der ihr Bild verschönernd zurückwirft, nun einmal nicht leben können; laß sie um Freundschaft buhlen, die im Bewußtsein ihrer Schwäche, sich im Dunkel des Lebens fürchten – ich gehöre weder zu den Einen, noch zu den Anderen.
Die Sachen waren gepackt; Philipp hatte sich – mit Thränen in den Augen – verabschiedet; Leo trat an das offene Fenster. Die Luft war lind und weich, der letzte Schein der untergehenden Sonne lag röthlich auf den Dächern der gegenüberliegenden Häuser; auf der breiten Straße ebbete der Strom des geschäftlichen Lebens, während sich die Spaziergänger mehrten und die Kinder aus den dumpfen Hof- und Kellerwohnungen hervortauchten, in der Abendfrische zu spielen.
Das treibt und drängt und geht seinen Geschäften nach, wie sie nun eben sind, und genießt sein Dasein, wie es eben kann! Was fragen sie, im Einzelnen und Einzelsten verloren, nach dem Zusammenhange der Dinge, von dem doch eines Jeden Schicksal bedingt wird! Was kümmert sie der einsame Denker, der in diesen Zusammenhang schaut und aus dem Ganzen heraus dem Einzelnen helfen möchte! Er ist ihnen ein Narr, oder ein Betrüger, und wenn er an ihnen vorüber zum Richtplatz wankt, schreien sie: Kreuziget, kreuziget! Sie wissen nicht, was sie thun, und können es nicht wissen, und so mag ihnen vergeben sein; aber wie sollen die Vergebung finden, die da wissen, daß sie übel thun, und es dennoch thun: die Gelehrten und Klugen, die Pharisäer und Schriftgelehrten; und sie, die Reichen und Mächtigen, die keine Noth zwingt, nur an das eigene, kümmerliche Dasein zu denken, und die dennoch Auge, Ohr und Herz dem Jammer rings um sie her verschließen!
Durch Leo's Erinnerung zogen die Stunden, die er während des Winters in der besten Gesellschaft, welche die Residenz bot, verlebt hatte. Wie oft war er die Seele dieser Gesellschaft gewesen! wie oft hatten sie andächtig seiner Rede gelauscht! wie eifrig seine Bekanntschaft gesucht! wie oft mit begeisterten Worten ihm ihre Billigung, ihre Bewunderung zu erkennen gegeben! Wie mancher bedeutende Mann hatte ihm die Hand gedrückt und ihm zugeflüstert: Ich bewundere Ihre Kühnheit, aber Sie haben Recht! Wie manche geistvolle Frau ihm mit strahlenden Augen zugelächelt: Es ist Alles, wie Du sagst!
Und das war Lug und Trug und aber Lug und Trug gewesen! Ein leeres Spiel des Witzes und der Phantasie, ein schnödes Buhlen mit Empfindungen, die nur die glatte Zunge bekannte, und von denen das kalte Herz nichts wußte! Wenn es mehr gewesen, als das – warum war er jetzt allein – allein und einsam und verlassen?
Nun denn! so fahrt dahin! Ich habe vergeblich versucht, mit Euch Frieden zu machen. Ihr wollt den Frieden nicht – so sei denn Krieg! Krieg zwischen mir und Euch, den Bildungsheuchlern und Wahrheitsfälschern! – Willkommen, meine Freunde! Ich habe gethan, was ich konnte; ich bin bereit, mit reinem Herzen Zeugniß abzulegen für Ihre, für unsere Sache!
Die Männer von Tuchheim waren eingetreten, Leo, der Verabredung gemäß, zur Versammlung abzuholen; aber ihre Zahl hatte sich fast um die Hälfte verringert.
Die Deputation hatte die Zeit, die sie in der Residenz zugebracht, nicht unbenutzt gelassen, sich vielfach in den Fabriken umgesehen, sich mit den Verhältnissen ihrer großstädtischen Kameraden nach allen Seiten vertraut gemacht. Da war ihnen denn so mancher Einblick in den Weltverkehr, in das Verhältniß zwischen Angebot und Nachfrage, das den Arbeitsmarkt regelt, verstattet gewesen; und während sich Einige von ihnen durch diese Beobachtungen und Erfahrungen nur in ihren fatalistischen Ansichten bestärkt hatten, waren Andere wieder schwankend geworden und wieder Andere hatten geradezu erklärt, daß auf diesem Wege überall nichts zu erreichen sei, im Gegentheil ihre Lage nur noch schlimmer werden würde. Am wenigsten aber sei von Leo's Vorschlägen etwas Ersprießliches zu erwarten. Mit der Staatshilfe, die Leo verlangte, habe es gute Wege, und daß der König für seine Person nicht helfen wolle, oder helfen könne, sei ja schon dadurch, daß er die Deputation nicht einmal vorgelassen habe, deutlich ausgesprochen. Ja, wer wisse, ob Leo's Plan nicht ein von der Reaction gelegter Fallstrick und Leo selbst, wie ja einige Blätter geradezu behaupteten, ein Werkzeug im Solde der Reaction sei?
Diese Männer – unter ihnen Johann Brandt, der von Anfang an Leo des Verraths bezichtigt hatte – hatten sich von ihren Brüdern getrennt. Aber auch die Gesichter der Uebrigen waren noch ernster und sorgenvoller als neulich. Sie hatten aus der Heimath böse Nachrichten erhalten. Der Freiherr sei nach Tuchheim gekommen und habe versprochen, sich von jetzt an persönlich um die Arbeiter zu bekümmern und den Uebelständen in den Fabriken gründlich abzuhelfen; aber es gehe das Gerücht, die Angelegenheiten des Freiherrn seien gänzlich zerrüttet, und er werde gezwungen sein, seinen Antheil an den Fabriken an Herrn von Sonnenstein abzutreten. In Folge dessen hätte der größte Theil der Arbeiter es für das Gerathenste gehalten, wieder an die Arbeit zu gehen, umsomehr, da es den Anschein habe, als ob man in kürzester Zeit gegen die Renitenten mit Gewaltmaßregeln einschreiten werde. Bereits sei der Regierungspräsident aus der benachbarten Hauptstadt des Bezirkes zur Untersuchung der Streitigkeiten eingetroffen, mit ihm der Oberstlieutenant von Hey. Ein Bataillon des Regiments sei bereits in den benachbarten Orten einquartiert, und was man von dem Herrn Oberstlieutenant und seinen Leuten zu gewärtigen habe, das wisse man doch wohl noch von dem Bauernaufstande vor acht Jahren.
So seien denn auch sie entschlossen, morgen wieder in die Heimath zurückzukehren; sie hätten es aber für eine Pflicht der Dankbarkeit erachtet, Leo, der sich so viel um sie bemüht, das gegebene Versprechen zu halten und der von ihm angesetzten Versammlung beizuwohnen, um auch ihrerseits für ihn, der so schlimm verleumdet werde, Zeugniß abzulegen.
Das Alles theilten die beiden Männer Leo mit, während sie durch die abendlichen Straßen nach dem weit entfernten Vereinslokale gingen. Der Eine sagte Dies, der Andere Jenes; Leo schritt düster und schweigsam in ihrer Mitte. Es war, als wenn er von allen Seiten an die Erfolglosigkeit seiner Bestrebungen erinnert werden, als ob er den Kelch der Enttäuschung bis auf den letzten bitteren Tropfen leeren sollte.
Das Lokal, in welchen, Leo seine Vereinsabende abhielt und wo auch heute die Versammlung stattfinden sollte, lag in einem obscuren Quartier der gewaltigen Stadt, in einer engen, fast nur von Arbeitern bewohnten Straße. Leo hatte mit Absicht diese Gegend gewählt, dennoch war der erwartete Zufluß ausgeblieben. Der Verein hatte es in den besten Tagen nicht über ein paar hundert Mitglieder gebracht, und auch diese kleine Gemeinde war selten vollzählig gewesen, ja in letzter Zeit noch sichtlich zusammengeschmolzen. Umsomehr fiel es Leo auf, daß heute Abend, je näher man dem Orte kam, ein ungewöhnliches Leben sich in den um diese Zeit sonst ziemlich stillen Straßen regte. Ueberall standen Leute eifrig sprechend vor den Thüren; kleine Trupps von Arbeitern eilten vorüber; in den Bierstuben und Branntweinschenken ertönte aus den geöffneten Fenstern wüster Lärm; eine Menge halbwüchsiger Buben schwärmte pfeifend und schreiend umher; zwischendurch patrouillirten Polizisten, die heute kein Auge für den Straßenunfug zu haben schienen.
An der letzten Ecke stand ein Mann, der auf Leo gewartet hatte, und nun eilig herantrat. Es war ein junger Arbeiter, der sich voller Begeisterung an Leo angeschlossen hatte und von demselben auch besonders ausgezeichnet war. Der junge Mann zog Leo ein wenig auf die Seite und theilte ihm mit hastigen Worten mit: es gingen seltsame Dinge vor; das Vereinslokal sei überfüllt mit Arbeitern, zum Theil der schlechtesten Sorte, die sich keineswegs, den Statuten des Vereins gemäß, an der Eingangsthür in die Listen hätten eintragen lassen, sondern mit Gewalt den Zutritt erzwungen hätten. Auch einzelne besser gekleidete Personen seien darunter, die aber ganz in den Ton der Anderen einstimmten. Die Polizei, die zahlreich zugegen sei, mische sich gar nicht in den Lärm, der von Minute zu Minute größer werde. Alles in Allem sei kein Zweifel, daß man etwas gegen den Verein im Schilde führe und es wohl hauptsächlich auf Leo selbst abgesehen habe. Er für seinen Theil bitte Leo, nicht in dem Lokale zu erscheinen; der Vorsitzende habe dann einen triftigen Grund, die Versammlung zu vertagen und so auf die einfachste Weise die Anschläge der Feinde zunichte zu machen.
Der junge Mann sprach lebhaft, eindringlich im Interesse des Vereins, der ihm ein Heiligthum war, im Interesse Leo's, an dem er mit größter Liebe hing. Aber Leo war nicht in der Stimmung, auf den wohlgemeinten Rath zu hören. Die Erbitterung, mit welcher ihn die Mißerfolge der letzten Tage zum Uebermaß erfüllt hatten, lohte in hellem Zorne auf.
Mit heftigen Worten schalt er den jungen Freund. Was hilft das Zagen und Zaudern! rief er, indem er hastig weiter schritt; zurück können wir nicht mehr: so mag denn kommen, was will!
Ich bin dabei! rief der Arbeiter, an Leo's Seite bleibend, und so wollten auch die Männer von Tuchheim sich nicht von ihrem Führer trennen, sondern drängten mit ihm in das Lokal, das in der That einen Anblick bot, der auch einen Muthigen hätte stutzig machen können.
Der sehr weite Raum, welcher mit seiner breiten Galerie wohl an tausend Personen fassen konnte, war von einer lärmenden, wild durcheinander wogenden Menge erfüllt, deren Treiben um so unheimlicher war, als man auch heute, wie sonst an den Vereinsabenden, nur Einen der drei Kronleuchter an dem einen Ende des Saales, dem Präsidententische und der Rednerbühne zunächst, angezündet hatte, so daß die anderen Theile des Raumes, zumal die Galerien, im Halbdunkel oder ganz im Dunkeln blieben.
Nur mit großer Mühe gelang es Leo, bis zu dem Tische durchzudringen, in dessen Nähe der Vorsitzende des Vereins (ebenfalls ein Arbeiter) nebst einigen von Leo's getreuesten Anhängern rathlos standen. Sie erschraken bei Leo's Anblick und baten ihn auf das Dringendste, sich nicht auf der Rednerbühne zu zeigen; noch habe man ihn offenbar nicht bemerkt, noch könne Alles gut ablaufen.
Aber Leo wollte nichts von diesen Vorschlägen hören; die Versammlung müsse abgehalten werden, der Vorsitzende sollte dieselbe eröffnen.
Mit Widerstreben bestieg der Mann die Plattform; aber was er sprach und selbst den Ton der Glocke, mit welcher er läutete, verschlang der Lärm im Saale.
Gleich nach ihm trat Leo auf die Tribüne.
Und nun erhob sich ein Getöse durcheinander rufender, schreiender Stimmen, ein Pfeifen, Heulen, Stampfen, daß es war, als müsse der Bau über den Unsinnigen zusammenbrechen.
Bleich, aber ohne eine Regung in der Miene, die großen, dunklen Augen ruhig auf das wogende Meer brutaler Gesichter, die zu ihm aufgrinsten und aufdrohten, gerichtet, stand Leo da. – Dies waren die Menschen, für die er arbeitete!
Und während jetzt ein Gefühl bitterster Verachtung allmälig seine Brust erfüllte, war es ihm, als ob eine Stimme dicht an seinen Ohren sagte: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
Und plötzlich war es die Kirche von Tuchheim. Die Orgel brauste, der fromme Gesang fluthete, der Morgensonnenstrahl fiel goldig durch die hohen Spitzbogenfenster, und neben ihm stand ein blauäugiges Mädchen und lispelte, seine Hand ergreifend: Willst du mit aus meinem Buche singen?
Leo reckte den Arm aus; wie durch ein Wunder war es plötzlich so weit still geworden in dem Saale, daß seine ersten Worte, hellen, ehernen Klanges, bis in die fernsten Winkel vernehmbar ertönten.
Und immer stiller wurde es, je länger er sprach; und je stiller es wurde und je länger er sprach, um so mächtiger rauschte der Strom seiner Rede, um so voller tönte seine Stimme, daß es wie ein Zauber die rohen Seelen umfing.
War es nicht eine zaubermächtige Kraft, die dem ernsten, blassen Manne da oben den Muth gab, ein Einzelner, ihnen gegenüber zu treten, die ihn in Stücke zerreißen konnten, wenn sie wollten? Oder war seine Sache wirklich besser, als man ihnen gesagt hatte? Ja, war im Grunde nicht Alles ganz richtig, was er da sagte, von dem Elend, in dem sie versunken wären? dem Elend der Armuth und der Unwissenheit, die sie taub und blind mache, daß sie selbst die von sich stießen, die keinen anderen Wunsch, keinen anderen Gedanken hätten, als ihnen diese Bürde des Elends abzunehmen, daß sie sich aufrichten und aufathmen könnten in dem Licht der Sonne, die für Alle scheine?
War es nicht die reine Wahrheit, was der blasse Mann, dessen Wangen sich allmälig in der Gluth der Begeisterung rötheten, da weiter sprach: daß diese Sonne trotz alledem noch nicht ein einzigesmal im Laufe der Jahrtausende auf ein freies Volk geschienen habe, auf ein Volk, in welchem jedem Einzelnen nicht blos das Recht, sondern auch die Möglichkeit eines menschlichen Daseins gewährt sei? Und daß der Arbeiter der Neuzeit von dem Sclaven des Alterthums, von dem Leibeigenen des Mittelalters sich nur im Namen, aber nicht in der Sache unterscheide? Ja, daß dies vermeintliche Recht zu einem menschenwürdigen Dasein, auf das man den murrenden Arbeiter wieder und wieder verweise, in der Hand des Capitalisten zu einem Fallstrick werde, furchtbarer als die Kette, mit welcher der stolze Römer seine Sclaven fesselte, oder das Joch, mit welchem der finstere Baron des Mittelalters seinen Leibeigenen an die Scholle heftete?
Eine Kette kann man zerbrechen, ein Joch abschütteln, aber ein Recht ohne Wahrheit, das ist wie eine Schlange, in deren tausendfachen Windungen die zäheste Kraft allmälig hoffnungslos erlahmt. Glaubt Ihr, daß ich übertreibe, daß ich Euch nur gegen Eure Herren hetzen will, wie man Euch gegen mich gehetzt hat? Ich will es Euch beweisen Wort für Wort und Buchstab für Buchstab aus dem Gange der Geschichte, aus der Wissenschaft, das heißt: aus der Lehre von dem, was ist.
Glaubt ihm nicht, Leute, er lügt! Jedes Wort, das aus seinem Munde geht, ist eine Lüge!
Der Zauber war gebrochen. Die Stimme, die so rief – es war nicht eines Arbeiters Stimme – wurde verschlungen von dem Toben, das jetzt mit Einem Schlage fürchterlicher als vorher losbrach. Die Anhänger Leo's, die der wunderbare Verlauf der Versammlung mit neuem Muth erfüllt hatte, heischten Ruhe und wollten ihr Hausrecht wahren; eine große Anzahl Anderer, die blos die Neugier oder die Lust am Skandal herbeigeführt, und die Leo's Wort wider Willen ergriffen hatte, schloß sich ihnen an; die größere Menge derer aber, die beinahe schon vergessen hatten, weshalb man ihnen Branntwein und Geld so reichlich gespendet, wollte nun nicht umsonst hierher gekommen sein, und erwiederte Schimpf mit Schimpf und Gewalt mit Gewalt. Im nächsten Augenblicke war das Ganze dieser Menschenmasse ein tobendes, greuliches Chaos, in welchem durch den aufgewühlten Staub hindurch kaum noch etwas Einzelnes: zornglühende Gesichter, geballte Fäuste, drohend erhobene Arme, hin und her wogende Gestalten, sichtbar wurden.
Leo hatte sich, seitdem der Lärm begann, nicht von der Stelle bewegt. Er stand da, die Arme über die Brust verschränkt, mit einer Miene halb des Mitleids, halb der Verachtung.
Da traten ein paar der ihm befreundeten Männer an ihn heran und beschworen ihn, sich wenigstens jetzt zu entfernen.
Eine kleine Thür, die aus dem Saal auf einen Nebencorridor führte, sei noch frei. Man könne von dort leicht auf die Straße gelangen; in der nächsten Minute sei es vielleicht schon zu spät.
Während die Männer noch so sprachen, drang plötzlich ein Knäuel wüster Gesellen an die Rednerbühne heran mit wildem Geschrei, durch das eine Stimme, dieselbe Stimme, die vorhin das Signal zu dem Unfug gegeben, deutlich genug hindurch tönte. Leo fuhr zusammen, als diese Stimme 'sein Ohr zum zweitenmale berührte; er wendete sich hastig um, und sein scharfes Auge erkannte, trotz der Verkleidung, in die sich Jener gehüllt, Ferdinand Lippert, der seinerseits mit wildem Gelächter seinen Todfeind zu verhöhnen und herauszufordern schien.
Bei diesem Anblick loderte in Leo die Leidenschaft, die er so lange mühsam niedergekämpft, in hellen Flammen aus. Mit einem Satze war er von der Rednerbühne herab mitten in dem Haufen, Ferdinand gegenüber, der, als er das zornglühende Antlitz dicht vor sich sah, mit bleichen Lippen hinter seine Gesellen zurücktaumelte. Plötzlich fühlte Leo sich an beiden Armen festgehalten und zurückgerissen. Die Waffen von Polizeisoldaten umblinkten ihn, und ein Officier schrie ihm entgegen: Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!
Sagen Sie Ihren Leuten, daß sie es mit keinem Banditen zu thun haben! rief Leo, indem er die Hände, die ihn gepackt hatten, von sich schüttelte, ich werde Ihnen folgen.
Ende des ersten Theils.