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Achtundfünfzigstes Capitel.

Charlotte war von Herrn von Sonnenstein nach Leo's Wohnung, von dort zu ihres Bruders Anwalt gefahren. Sie hatte Niemand zu Hause getroffen, oder vielleicht: war nirgends angenommen worden. Aber sie empfand nichts von persönlicher Kränkung; sie dachte nur an ihren Bruder, wie schlimm seine Sache wohl stehen müsse, daß man mit seiner Schwester nicht mehr zu sprechen wagte.

Als sie zurück kam, fand sie Doctor Paulus schon vor. Er kam ihr entgegen und führte sie nach dem Sopha. Charlotte fühlte sich sehr angegriffen; sie konnte für des Freundes Aufmerksamkeit nur durch einen schwachen Druck der Hand danken.

Ich entschuldige mein Hiersein nicht, sagte Doctor Paulus, sich zu ihr auf das Sopha setzend: in gewissen Stunden ist es kindisch, mit einander Versteckens zu spielen, und so gestehe ich offen, daß mich und uns Alle die Erklärung Ihres Herrn Bruders in Verbindung mit seiner plötzlichen Abreise mit großer Sorge erfüllt. Vielleicht bin ich im Stande, Ihnen so oder so von Nutzen zu sein, und daß Sie über mich verfügen können, brauche ich wohl nicht zu versichern.

Charlotte nickte dem bewährten Freunde traurig lächelnd zu, und Doctor Paulus fuhr fort: Ich vermuthe, daß Sie ausgewesen sind, um Erkundigungen einzuziehen, Aufklärungen zu erhalten. Haben Sie mehr, als Sie bereits wußten, erfahren?

Man hat mich nirgends angenommen, sagte Charlotte.

Sie waren bei Herrn von Sonnenstein, denke ich, und bei dem Rechtsanwalt Ihres Herrn Bruders?

Ja, und bei Leo – ich meine bei Herrn Doctor Gutmann; ich habe Grund, anzunehmen, daß er meinem Bruder den unseligen Rath gegeben hat, und Charlotte erzählte dem Freunde ausführlich von Leo's eifrigem Verkehr mit dem Freiherrn und wie er erst noch gestern kurz vor der Abreise desselben über eine Stunde dagewesen sei.

Sie sagen mir da wenig, was ich nicht schon wüßte, erwiederte der Doctor: Walter und ich haben mit schmerzlicher Theilnahme diesen immer mehr wachsenden Einfluß Leo's auf Ihren Herrn Bruder verfolgt; ja, ich kann Ihnen noch mehr sagen: jene Erklärung ist aller Wahrscheinlichkeit nach Wort für Wort von Leo abgefaßt: es sind seine Gedanken in der knappsten, energischsten Form, die ihm so wunderbar zu Gebote steht. Ich zweifle keinen Augenblick, daß er seine ganze Ueberredungskunst aufgeboten hat, den Freiherrn zu diesem Schritte zu drängen.

Aber mein Gott, welches Interesse hat er denn daran? rief Charlotte in schmerzlicher Erregung.

Ein sehr großes, erwiederte Paulus, es ist ihm jetzt Alles daran gelegen, die liberale Partei zu demüthigen, unter die Füße zu treten. Zu diesem Zweck nimmt er die Bundesgenossen, wo er sie bekommen kann. Der Freiherr ist ihm nur ein Repräsentant unseres alten Adels, den er so mit in den Kampf zu ziehen sucht, und wäre es auch nur scheinbar. Man stutzt, man fragt, man glossirt, man erwägt das nahe Verhältniß des Freiherrn zu Herrn von Sonnenstein, und der Refrain ist: Ja, ja, die bösen Liberalen! Das ist der einzige Zweck, den Leo im Auge gehabt hat, und diesen Zweck wird er erreichen.

Und darum – darum wird er zum Verräther an dem Manne, dessen Schuld es nicht ist, wenn er dem verwaisten Knaben nicht ein zweiter Vater wurde!

Paulus zuckte die Achseln. Er erkennt nur Eine Tugend an: seinem Principe zum Siege zu verhelfen, und nur Eine Schwäche: sich durch Nebenrücksichten aus seiner Bahn lenken zu lassen. Er würde seinen besten Freund, er würde die Geliebte opfern, wenn er einer Sache damit zu nützen glaubte. Aber wir wollten nicht von Leo sprechen.

Charlotte erröthete. Sie fühlte sehr wohl, daß der Doctor ihr Gelegenheit zu geben wünschte, in der Angelegenheit ihres Bruders seinen Rath, seinen Beistand, wenn es nöthig war, in Anspruch zu nehmen. Sie wußte auch, daß Niemand zu diesem Liebesdienst so bereit und so geschickt war, wie er – aber es war doch immer ein Dienst. Sie hatte in ihrem Leben so Vielen geholfen – jetzt sollte sie sich zum erstenmal helfen lassen. Und wie konnte sie über des Bruders Angelegenheit sprechen, ohne ihn direkt oder indirekt anzuklagen? Sie glaubte vor einer Stunde auf Alles gefaßt zu sein – auf die Vorwürfe des Schwagers, auf die Insolenz des Anwalts, auf Leo's kalte Zurückweisung – auf diese Demüthigung war sie nicht gefaßt gewesen. Sie kannte nur Einen Menschen, dem sie dieses letzte, dieses schwerste Opfer gebracht hätte – und der war fern.

Wie steht es mit Walter? fragte sie nach einer langen Pause mit leiser, unsicherer Stimme.

Der Doctor hatte von Charlotten's Gesicht die geheimsten Regungen ihrer Seele gelesen. Er sah, daß es vergeblich sein würde, jetzt weiter in sie zu dringen, und antwortete, als ob er gerade diese Frage erwartet hätte:

Man hat den Termin auf heute über acht Tage festgesetzt. Er wird sich selbst vertheidigen und ich billige das. Er wird den Richtern sagen und beweisen, daß sie in diesem Falle gar nicht competent sind; daß die Frage, um die es sich handelt, vor ein ästhetisches, und nicht vor ein juridisches Forum gehört. Seine Rede ist in jeder Hinsicht vortrefflich, auch wird sein Advocat – wie Sie wissen, einer unserer vorzüglichsten Juristen – thun, was er kann. Dennoch sind wir vollkommen darauf gefaßt, daß er verurtheilt wird. Er hat die Dunkelmänner, seinen gleißnerischen Director Moritz und den einflußreichen Urban an der Spitze, zu tief beleidigt, und die Corruption unserer Richter kennt schon längst keine Scham mehr.

Hier wurde die Unterredung durch Miß Jones unterbrochen, die, von Amélie gefolgt, in das Zimmer trat.

Miß Jones war in größter Aufregung. Amélie hatte ihr gestern Abend noch die Nachricht von der Abreise des Vaters gebracht, und heute Morgen hatte sie die Erklärung des Freiherrn in der Zeitung gefunden; auch sie hatte sogleich geschlossen, daß Leo der Verfasser derselben sei: Ich weiß, was Styl ist, rief sie, ich!

Nun hatte sie sich verpflichtet gefühlt, Leo zur Rede zu stellen, wie er dem Freiherrn einen solchen Rath habe geben können. Sie hatte durch ihn den Freiherrn womöglich zu einem Widerruf, oder doch wenigstens zu einer Milderung bewegen wollen, denn der Ausfall gegen Sonnenstein sei doch zu grausam. Leo war nicht zu Hause gewesen; aber Miß Jones war ihm auf der Straße begegnet, als er eben in einen Wagen steigen wollte. Sie hatte ihm in's Gesicht gesagt, daß er die Erklärung verfaßt habe, und er hatte es nicht geleugnet. Aber, mein Gott! rief ich, wie konnten Sie das, da Sie wissen, daß dies das Signal zu einer Familienfehde sein würde, wie sie die Montagues und Capulets nicht schlimmer unter sich geführt haben! Und was antwortete er mir? Madame, die Proletarier Verona's werden sich, Alles in Allem, bei dem Streit der beiden edlen Häuser nicht schlechter befunden haben; und Sie wissen, daß ich auf Seiten der Proletarier stehe. Damit machte er mir eine ironische Verbeugung und ließ mich auf dem Trottoir – mich, die ich ihn gekannt habe, als er, wie ein schwarzbraunes Zigeunerkind, in den Gassen von Feldheim umherschlich und davonlief, wenn sich ihm ein Mensch näherte; mich, der er das gute Englisch verdankt, in welchem er mich heute so grenzenlos beleidigt hat.

Und die erzürnte Miß fächerte ihr erhitztes Gesicht mit dem Zeitungsblatt, das sie vom Tisch genommen hatte.

Doctor Paulus hatte schon lange die tiefe Erschöpfung bemerkt, unter der Charlotte litt. Er erhob sich und nahm Miß Jones, der er wichtige Nachrichten von Walter zu bringen habe, mit. Charlotte ließ sich von Amélie auf ihr Zimmer begleiten.

Als die Thür sich hinter ihnen schloß, erhob Silvia in dem kleinen, rothen Cabinet neben dem Zimmer, in welchem diese Unterredungen stattgefunden hatten und das nur durch eine Portiere aus schwerem Damast von demselben getrennt war, ihr Haupt von der Marmorplatte des Tischchens. Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte; es mochte eine Stunde, es mochte den ganzen Vormittag gewesen sein. Sie wußte nur, daß, während sie hier saß – glücklich wenigstens darin, daß sie allein war – sein Name an ihr Ohr schlug und sie aus ihren Träumen erweckte. Und dann hatte sie über ihn sprechen hören in Ausdrücken, die ihr bald das Blut im Herzen stocken machten, bald in mächtigen Wellen nach dem Gehirn trieben. Und wer waren die Sprechenden! Fräulein Charlotte, die milde Charlotte, – Doctor Paulus, der gerechte Paulus! Wenn die Milde und die Gerechtigkeit so sprachen, wie mochte die Härte sprechen und die Ungerechtigkeit! Und was würden nun erst die Feinde thun! Er hatte Feinde vollauf; aber er hatte keinen Freund, nicht Einen, der für ihn das Wort nahm und ihn gegen alle diese Anklagen vertheidigte! Nicht einmal sie selbst, die ihn besser kannte – nicht einmal sie hatte den Versuch gemacht, jene Beschuldigungen in ihr Nichts zurückzuschleudern!

Silvia machte ein paar rasche Schritte nach der Portiere und griff in die Falten; dann ließ sie die Hand wieder sinken.

Was könnte es mir helfen? Sie würden mich nicht einmal begreifen, geschweige denn mir Recht geben. Wann hätten sie je begriffen, was das Maß des Gewöhnlichen nur eben überschreitet! So ist es von jeher gewesen; sie haben ihn nie verstanden, sie haben nie geahnt, was in der Seele des düsteren Knaben vorging, wenn er ihrer Gesellschaft die Einsamkeit vorzog, wo er ungestört Zwiesprach halten durfte mit seinem Genius. – Wie sagte sie? ein schwarzbraunes Zigeunerkind, das in den Gassen von Feldheim umherschlich? – und ich war, wie sie Alle; ich schalt ihn: Zigeunerjungen! ich habe ihn geneckt und gequält und verhöhnt! Und doch hatte ich eine Ahnung von seinem Werthe, von seiner Größe. Ich neidete ihm seine Geisteskraft; ich wußte noch nicht, daß es gegen die grenzenlose Bewunderung nur ein Mittel giebt: grenzenlose Liebe!

Silvia drückte die Hand gegen die Augen; ihr Athem ging tief und schwer, unendliche Wehmuth füllte ihren Busen, aber sie zerdrückte die hervorquellenden Thränen.

Nein, nein! – die wahren Leidenschaften sind die des Kopfes, nicht des Herzens – das sind seine Worte. Er würde die Geliebte opfern, wenn er seiner Sache damit zu nützen glaubte! – ja, ja, er würde und er müßte! Wer darf ihn tadeln! Soll ich ihn mit dem Maßstab der gewöhnlichen Menschen messen, wie jene Alltagsseelen?

Silvia dachte des Abends, als sie Leo nach so langen Jahren zum erstenmale wieder gesehen: hier in diesem kleinen Raume! Er hatte sie im Anfang durch seine Herbheit abgestoßen, ganz wie ehemals, und doch wieder wie mit einem Zauber angezogen; sie hatte das Gefühl gehabt, daß sie vor ihm niederknieen und ihn anbeten müsse. Und dann war die Furcht über sie gekommen, ob er nicht ein falscher Prophet sei, wie so viele vor ihm, und sie hatte ein Zeichen von ihm gefordert, wie die frommen Juden, die nicht glauben konnten und doch das tiefste Bedürfniß dazu hatten, vom Heiland. Sie hatte ihn gefragt: was denke ich in diesem Augenblicke? und er hatte ihr geantwortet: daß auch Du Deinen Weg durch's Leben würdest zu finden wissen, wenn Du ein Mann wärest.

Es war kein Wunder, nur der Scharfblick des Psychologen, – gleichviel, er hatte Recht: ich würde meinen Weg zu finden wissen. Ich kann und darf nicht sein, was ich sein könnte und möchte; er kann es und soll es. Und vermag ich nicht, ihm zu helfen, so will ich ihm wenigstens den Muth erhöhen, jetzt, wo selbst die, die sich seine Freunde nannten, ihn verlassen.

Silvia eilte auf ihr Zimmer und schrieb an Leo, ruhiger, einfacher, als sie je an ihn geschrieben. Er sollte in einer Zeit, wo ihm der Gleichmuth der Seele gewiß so nöthig war, nicht auch noch durch sie verwirrt werden.

Als Silvia den Brief durchlas, wurde sie selbst von der Kühle, die darin wehte, seltsam berührt. Es war so gar nicht ihre Weise sich auszudrücken; nicht die leiseste Spur von der Unruhe, dem Zorn, der Wehmuth, der Bewunderung, der Sehnsucht – von dem Frühlingssturm, der durch ihre Seele brauste.

Ein schmerzliches Lächeln zuckte um ihre Lippen, während sie mit starren Blicken auf die Adresse des Briefes sah.

Es ist ja nur, was er will. Keine Leidenschaft des Herzens, nur eine Leidenschaft des Kopfes; nur die Leidenschaft der Wahrheit und Gerechtigkeit, der einen großen Idee der Freiheit, der er dient, und der ich dienen möchte, indem ich ihm diene.


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