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Es war vier Wochen nach dieser Unterredung. Der Winter war jetzt völlig hereingebrochen und hatte die Reize der Tuchheimer Landschaft mit rauher Hand weggewischt. Am grauen Himmel zogen schwer und träg unheimlich aussehende Wolken vor dem eisigen Winde, der über die kahlen Felder und durch die raschelnden Hecken fegte. Dann war auch Schnee gefallen – für diese Gegend ungewöhnlich viel Schnee; in dem Walde sollte er so hoch liegen, wie man es sich seit Menschengedenken nicht erinnern konnte. Die Bauern klagten, daß die Hasen und wilden Kaninchen bis in ihre kleinen Gärtchen kämen und ihnen den Kohl unter dem Schnee wegfräßen; die Füchse hatte man in sternklaren Nächten bellen hören, noch nie waren sie so raubgierig und frech gewesen. Es fehlte auch sonst nicht an bösen und bösesten Zeichen. Kurz vor dem Eintreten des Frostes hatte es ein schreckliches Gewitter gegeben, das auf einem der Tuchheim'schen Güter zweimal – freilich ohne zu zünden – in die Gebäude einschlug. Um den vollen Mond hatte sich drei Nächte hinter einander ein Regenbogen gezeigt; die Krähen waren noch mitten in der Nacht lärmend geflogen, und die Käuzchen hatten so geschrieen, daß es ganz grausig anzuhören gewesen war.
Diese und ähnliche Geschichten erzählte man überall in der Gegend, und sie fanden meistens nur zu geneigtes Gehör. Es war eben eine schwere, hungrige Zeit; warum sollte der Himmel nicht ein Einsehen in die Noth seiner Menschenkinder haben und seinen Zorn über so schlimme Zustände an den Tag legen?
So sprach man in den Gemeinden hin und her; aber wer recht genau zugehört hätte, würde vernommen haben, daß in diese lauten Stimmen noch andere hineinsprachen, beiweitem nicht so verständlich, wenn auch vielleicht eifriger, leidenschaftlicher, und daß der Ton dieser Stimmen noch ein gut Theil unheimlicher war, als das Bellen der Füchse vom Walde und das Gekrächz der Dohlen, die um den altergebräunten, epheuumrankten Kirchturm von Tuchheim flogen.
In einer schmalen Seitenpforte dieses Thurmes stand an einem Spätnachmittage im Anfang des December der Schullehrer Tusky. Er war in Amtsgeschäften hier, das zeigte ein großes Schlüsselbund, welches er in der Hand hielt und mit dem er von Zeit zu Zeit ungeduldig klirrte. Dennoch zögerte er, die schmale Pforte zu öffnen. Seine scharfen Augen schweiften oft über die Grabsteine und Kreuze des Friedhofes zu einem Gitterthürchen, das von der Seite des Pfarrhofes hineinführte; dann richteten sie sich wieder nach dem Himmel, über den ungeheure Wolkenmassen sich gegen Abend wälzten und den blutrothen Streifen, welcher den Horizont umsäumte, bald erdrücken mußten.
Nur zu, nur zu, murmelte er, löscht es aus, das fahle, scheinheilige Licht! das freche Licht, das sich nicht schämt, tagaus, tagein auf diese vermaledeite Erde zu scheinen; auf all' diese Lumpen, all' diese Narben und Wunden! Nur zu, nur zu! Ballt euch nur immer zusammen, zeigt euch in eurer unwiderstehlichen Kraft! Entfesselt den Sturm, den ihr in euren Riesenleibern tragt! Fegt sie weg die Kirchen und die Paläste, und meinetwegen fegt auch die Hütten weg, in denen diese Sclaven wohnen, die ihr Loos verdienen, weil sie es tragen! Macht aus der Erde einen großen Friedhof, aus jeder Menschenwohnung ein Grab, aus jeder Ruine einen Leichenstein! Schwarze Wolke, die du den Arm so drohend ausstreckst, bist du der Engel, der vom Himmel fährt und den Schlüssel zum Abgrund hat, und den Drachen greift, die alte Schlange, welche ist der Teufel und der Satan, und ihn tausend Jahre bindet und in den Abgrund wirft und den Abgrund versiegelt? – Tausend Jahre! Also doch wieder nur ein Tag, auf den ein Morgen kommt, der Alles wieder beim Alten findet! Das ist das Furchtbare, das ist, was uns die Sehnen durchschneidet, den zum Schlage erhobenen Arm machtlos sinken läßt. Was du auch thust, es ist doch Alles vergebens. So wie du ringst, haben Andere, haben ganze Völker vor dir gerungen; sie sind an's Kreuz geschlagen, sie sind mit Feuer und Schwert zur Ruhe gebracht – zur Todesruhe. Und nun zu wandeln, der einzige Lebendige unter diesen Leichen! Ihnen in die hohlen Augen zu sehen, ihre seltsam schleppenden Bewegungen zu beobachten, wie sie gehen und arbeiten und sprechen, und weinen und lachen, gerade als ob sie lebten. – Ja, sie lachen wirklich, diese seltsamen Gespenster! Ich habe heut' eine Dirne lachen hören, die ihr Schatz verlassen hat, und die auf der weiten Welt nicht weiß, wohin mit dem Kinde, das sie unter dem Herzen trägt.
Ein Windstoß fegte um die Kirche und wirbelte den lockren Schnee in dichten Massen von dem hohen, steilen Dache. Ein paar Krähen, die auf dem First gesessen und geschrieen hatten, waren in die Luft geschleudert, und suchten, hin und her taumelnd, die Kirche wieder zu erreichen. Tusky's Blicke blieben an den schwarzen, beweglichen Punkten haften.
Und was haben die von ihrem Leben? murmelte er, das arme, hungernde, frierende Geschlecht! Und doch kämpfen sie wacker gegen den Sturm, und wenn sie wieder auf dem Dache balanciren, schreien sie noch in freudigem Stolz. Ist denn wirklich das nackte Leben ein Etwas, das sich der Mühe, das sich so vieler Mühe verlohnt? Was ist das für ein seltsamer Krampf, der unser Fleisch zusammenschrumpfen macht, wenn wir dem Tode in's Auge blicken? Sagt er uns nicht deutlich, daß wir mit der elenden Wirklichkeit noch immer nicht zu Ende sind, so sehr wir es uns auch einbilden? Daß diese Wirklichkeit, elend wie sie ist, doch die Basis einer grenzenlosen Möglichkeit ist, auf die wir nicht verzichten dürfen?
Er fuhr aus seiner brütenden Stellung auf und streckte den Arm drohend gegen den Horizont aus:
Auf die wir nicht verzichten dürfen! rief er, auf die wir nicht verzichten wollen! Hörst du's, bleiches Gespenst des Tages! Schleich dich hinein in die Ewigkeit, belastet mit dem Raube, den du an uns begangen, mit all' den glücklichen Stunden, die du uns nicht gewährt hast! Dein Bruder Dieb kommt morgen und beginnt sein Tagewerk, still, geschäftig, als ob es das ehrlichste Handwerk von der Welt wäre! Aber wir wollen ihm auf die Finger sehen!
Aus den schwarzen Wolken begannen jetzt Schneeflocken zu fallen; erst einzeln, dann schnell dichter und dichter. Tusky trat aus der schützenden Pforte hinaus auf den Friedhof und blickte nach der Gitterthür.
Wo er nur bleibt, murmelte er; er müßte längst hier sein, und ich hätte ihn so gern gesehen!
Plötzlich hörte er einen Schritt hinter sich. Er wendete sich um und erkannte Leo.
Gott zum Gruß, mein Junge! rief er, Du hast mich lange warten lassen. Woher so spät?
Ich komme vom Schlosse, sagte Leo, der Tusky's herzliche Begrüßung nur sehr flüchtig erwiedert hatte.
So tritt herein, sagte Tusky; es spricht sich drinnen besser, als hier im Schneegestöber. Komm!
Er schloß die Pforte auf und wieder zu, nachdem sie Beide und ein verkrüppelter alter Mann, der plötzlich irgendwoher aus einer Mauernische auftauchte, eingetreten waren. Der Alte war ein armer, halb blödsinniger, taubstummer Mensch, dessen Rest von seelischem Leben sich um die Kirche bewegte, auf deren Friedhof die Seinigen schon seit einem Menschenalter moderten. Er war in jungen Jahren ein guter Musikant gewesen, und jetzt in seinen uralten Tagen war es sein größtes Glück, wenn er die Bälge treten und sich dabei Melodien träumen durfte, die sein Ohr nicht mehr vernahm. Tusky schritt voran die wohlbekannten Gänge und Stufen bis zu dem engen Raum vor der Orgel, hier entzündete er die Stumpfen von ein paar dicken Lichtern, die von dem Altare auf die Empore gewandert waren. Der Schein flackerte an den Orgelpfeifen hinauf und erhellte nothdürftig die Balken und Leitern in der Nähe; aber in das Innere der Kirche drang kaum ein schwacher Schimmer, und die Tiefe unter ihnen gähnte wie ein Grab.
Tusky hatte sich an die Orgel gesetzt und mit geübter, sicherer Hand ein paar Accorde gegriffen, deren gewaltige Tonwellen sich machtvoll am Gewölbe brachen und in einem Augenblick den weiten Raum bis in den fernsten Winkel mit harmonischer Fluth erfüllten. Er schien ganz versunken in sein Spiel, ganz unachtsam des jungen Freundes an seiner Seite. Leo legte ihm die Hand auf den Arm.
Ich habe mit Dir zu sprechen, Conrad, sagte er.
Sprich!
Er neigte sich zu Leo und nahm die linke Hand von den Tasten; mit der rechten griff er leise, verzitternde Töne.
Es ist das letztemal, daß wir hier unter dem Vorwande, Musik zu machen, zusammenkommen, sagte Leo.
Warum?
Es scheint mir, als ob sie Alles wüßten.
Mit einer heftigen Bewegung wendete sich Tusky zu Leo:
Was wissen Sie? Wer weiß? rief er leidenschaftlich.
Ich habe es schon seit einiger Zeit gemerkt, erwiederte Leo mit dumpfer, hastiger Stimme; sie waren Alle so besonders freundlich zu mir, der Freiherr, die Mädchen, besonders das gnädige Fräulein. Sie hatte mich schon ein paarmal so angesehen, als ob sie mir etwas Besonderes sagen wollte; ich habe aber immer gethan, als ob ich nichts merkte, denn ich meinte, sie wolle nur meine Mitwirkung in den lebenden Bildern, die sie zu Weihnachten arrangirt und zu denen sie die ganze Nachbarschaft zusammengebeten hat.
Ich weiß, ich weiß, sagte Tusky; der Ertrag ist natürlich für die Armen bestimmt – eines ihrer elenden Pflaster, mit denen sie die eiternde Wunde zu verkleben suchen.
Ja, ja, sagte Leo. Ich war ihr immer ausgewichen, aber heute war es nicht möglich. Sie faßte mich plötzlich bei der Hand und sagte: Ich habe mit Ihnen zu sprechen. Dann saßen wir in ihrem Zimmer; ich weiß nicht recht, wie wir dahingekommen sind.
Nun? fragte Tusky ungeduldig, was sagte sie? Was wollte sie von Dir?
Ich weiß es selbst kaum, erwiederte Leo, indem er die Augen mit der Hand bedeckte. Sie hat eine so schöne Stimme; ich hörte anfänglich nur die Stimme. Sie sprach von meiner verstorbenen Mutter, von meinem Vater – ich erinnere mich nicht mehr, was; aber es klang so hold und lieb; ich hätte immer so zuhören können; ich vergaß ganz, wie wunderlich doch eigentlich dies sei, und warum sie just heute von dem Allen sprach. Da plötzlich weckte mich Dein Name. Wie sie auf Dich gekommen ist, ich kann es nicht sagen; aber als sie jetzt von Dir sprach, hatte ihre Stimme nicht mehr den sanften Klang von vorher, und ihr seines, bleiches Gesicht hatte einen ganz anderen Ausdruck angenommen. Sie warnte mich vor Dir, sie sagte, sie könne mir nicht Alles mittheilen, was sie von Dir in Erfahrung gebracht habe, weil sie nicht wisse, wie weit Du mich in Deine Geheimnisse eingeweiht, oder ob ich im Stande sein würde, Dir gegenüber zu schweigen. Ja, sie verlange das nicht einmal; denn selbst in dem Falle, daß ich der Feind der Familie geworden wäre, daß ich mit Dir gegen ihr Wohl mich verschworen hätte, wollte sie doch nicht, daß ich zum Verräther würde; auch die schlechteste Sache sei nach der Seite hin heilig. Das verlange sie nicht, das wünsche sie nicht; aber sich von einer schlechten Sache, wenn man sie als schlecht erkannt habe loszusagen – sei Pflicht, und der Zweck dieser Unterredung mich auf diese Pflicht aufmerksam zu machen.
Und was hast Du auf das Alles geantwortet? fragte Tusky.
Ich hatte keine Zeit, irgend etwas zu antworten, erwiederte Leo. Als sie ausgesprochen, legte sie mir die Hand auf die gesenkte Stirn. Als ich wieder aufschaute, war sie nicht mehr da. Dann habe ich mich heimlich aus dem Zimmer und aus dem Schlosse gestohlen.
Und was hast Du beschlossen?
Was kann ich beschlossen haben? Was soll ich beschließen? rief Leo, die Hände ringend, – als das Eine, daß ich nicht länger die Wohlthaten dieser Familie annehmen darf! O, Tusky, es drückt mir schon lange das Herz ab, und es ist gut, daß es einmal zur Sprache kommt. Ich hätte es nie thun dürfen, und von Anfang an warnte mich eine Stimme davor; aber jetzt, jetzt trage ich es nicht länger.
So gehe hin, wirf Dich ihnen zu Füßen, wie der verlorene Sohn in der Bibel, sage zum Fräulein: Ich habe gesündigt vor Dir, und zum Freiherrn: Ich kann nicht länger Dein Sohn heißen.
Zum wenigsten: Ich kann nicht länger wie ein Spion in eurem Hause aus- und eingehen.
Dafür aber den Freund an euch verrathen.
Das habe ich nicht gethan.
Und wenn Du es thätest, Du würdest es bei Gott bald zu bereuen haben.
Tusky hatte Leo an beiden Schultern gepackt; die Adern an seiner weit vorgewölbten Stirn waren plötzlich wie Aeste angeschwollen; seine Augen waren blutunterlaufen.
Ich weiß, daß Du sehr stark bist, sagte Leo ruhig; Du könntest mich hier ermorden, ehe mir Jemand zu Hilfe käme; aber ich fürchte mich nicht vor Dir.
Tusky ließ ihn los und stützte den Kopf in die Hand. Der Zornesblitz war verschwunden, wie er aufgezuckt war; die strengen energischen Züge trugen jetzt einen Ausdruck von Trauer und Schmerz, und seine harte Stimme klang weich, als er leise sagte:
Es ist ja nicht darum, die Sache würde auch ohne Dich und mich nicht untergehen; aber Leo, ich kann es nicht ertragen, es macht mich rasend, wenn Du davon sprichst, mich zu verlassen – mich zu verlassen, um dieser reichen Sünder willen. Sie haben Alles in Ueberfluß: Licht und Wärme und Kleidung und Nahrung des Leibes und der Seele, Sonnenschein und Liebe – ich habe nichts als Dich. So lange ich lebe, Leo, habe ich nichts geliebt als Dich. Ich könnte mich für Dich von wilden Pferden zerreißen lassen, ich würde für Dich mein Blut tropfenweise hingeben. Das weißt Du, wenn ich es Dir auch noch nie gesagt habe; wenn ich mich auch morgen schämen werde, daß ich es Dir heute gesagt habe, und doch kannst Du mich verlassen? Das ist das Bitterste!
Ich kann und werde Dich nicht verlassen! sagte Leo, indem er Tusky's beide Hände ergriff; ich schwöre es Dir, – nimmermehr; aber nimm diese Last von meiner Seele, diese Last des schwärzesten Verraths, des entsetzlichsten Undankes! Mag sie und ihre Vorfahren der Fluch der Menschheit treffen, gegen mich sind sie gut und gütig gewesen; das Brod, das ich esse, wird mir zu Gift.
Armer Junge, sagte Tusky, liebevoll dem Jüngling das dunkle Haar aus der feinen Stirn streichend; armer, lieber Junge! aber das konnte Dir nicht erspart bleiben. Wer im Dienste der Idee steht, muß bereit sein, das schwerste Opfer zu bringen, das Opfer der Gefühle, die man sonst als die edelsten preist. Es ist nicht unsere Schuld, daß wir mit solchen Waffen kämpfen müssen. Man hat uns die stolzen Locken abgeschoren, man hat uns unserer Kraft beraubt, man hat uns geblendet, man hat uns in die Tretmühle geschickt; man hat uns verhöhnt und seine freiherrliche Kurzweil mit uns getrieben. Will man es dem armen, blinden Sclaven nun zum Verbrechen machen, daß er nicht in offener Feldschlacht seinen Peinigern entgegentritt, sie nicht wie früher schlägt mit eines Esels Kinnbacken? Will man es Verrath nennen, daß, als sie ihn holen ließen, damit er vor ihnen spiele, er zu dem Knaben, der ihn bei der Hand leitete, sprach: Laß mich, daß ich die Säulen taste, auf welchen das Haus steht, daß ich mich daran lehne? – Und Du weißt, Leo, das Haus war voll Männer und Weiber, es waren auch der Philister Fürsten alle da. Und er faßte die zwei Mittelsäulen und sprach: Meine Seele sterbe mit den Philistern; und neigte sich kräftiglich. Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das drinnen war. Leo, Leo! Wenn ich der Simson wäre, den der Herr sich erkoren hat zur Errettung seiner Kinder; wenn er mich mit der Kraft ausgerüstet hätte, die Säulen zu brechen, auf denen sie die Feste ihrer hochmüthigen Tyrannei errichtet haben; wenn das wäre, Leo, wolltest Du nicht der Knabe sein, der den Blinden leitet? Wolltest Du seine Hand plötzlich aus der Deinen lassen und schreien: Verrath, Verrath! Der blinde Geiger will euch erschlagen?
Leo hatte das Haupt tief gesenkt; er starrte düster vor sich nieder. Die Worte des Freundes hatten all' die wilden Phantasien, in denen seine Seele so gern schwelgte, wachgerufen, und sie berührten seine pochenden Schläfe mit ihren Geisterflügeln; dann legte sich wieder eine weiche, zarte Frauenhand auf seine Stirn, und eine sanfte, melodische Stimme sprach gute, milde Worte, die sein Herz mit Wehmuth erfüllten.
O, Conrad, bat er, laß uns fort, fort von hier, gleichviel wohin, und wäre es in das äußerste Elend. Du hast mir selbst gesagt, der Kampf, den wir kämpfen, ist über die ganze Erde entbrannt. Nun denn, so laß uns eine andere Stelle des Schlachtfeldes aufsuchen, eine andere Stelle –
Wo die Kugeln weniger dicht fliegen, unterbrach ihn Tusky; nein, Leo, das hieße für mich den Kampf aufgeben. Die Frucht des Samens, den ich hier gesäet, kann Niemand ernten, als ich selbst. Niemand hat die Fäden in der Hand, als ich; gehe ich fort, so fiele Alles auseinander. Und es sagt mir etwas, daß die Zeit der Ernte gekommen ist. Ueberall auf dem platten Lande gährt ein dumpfer Unmuth; schon beginnen sie in den Städten zu murren; es ist ein Feuer, das in dem Gebälke schwelt und schwelt, ein einziger kräftiger Windstoß, und das ganze Haus steht in Flammen. Was helfen da die Häufchen Erde, die sie ängstlich herbeitragen, den Brand zu ersticken! Was hilft es, daß der Freiherr jetzt mit theurem Gelde Korn kauft, um es für nichts an seine Taglöhner zu geben? Daß seine Schwester seit vier Wochen im ganzen Lande umherkutschirt, Suppen-, Kranken- und Gott weiß was noch für Vereine stiftet und in jede schmutzigste Hütte ihre freifräulichen Füße setzt? Mit diesen kümmerlichen Abschlagszahlungen werden sie die Riesenschuld nicht tilgen, die sich während so vieler Jahrhunderte aufgehäuft hat. Und ich für meinen Theil fürchte sie nicht. Die gute Dame mag so eine unbestimmte Ahnung haben, daß ich ihr ihre Bettelsuppen häßlich versalze – aber darüber wird es nicht hinausgehen. Den Schlüssel zu dem Schloß, mit dem ich den Brüdern den Mund verschließe, hat noch Niemand gefunden – das gnädige Fräulein sicherlich auch nicht.
Sie nannte auch den Namen Deiner Schwester, sagte Leo; ich habe nicht genau verstanden, ob sie in Tannenstädt gewesen ist, aber ich vermuthe es.
Das müßte ganz kürzlich, vielleicht heute erst gewesen sein.
Ich weiß es nicht.
Tusky blickte nachdenklich vor sich nieder.
Also auch das, sagte er; so wäre man wirklich auf der Spur?
Traust Du Even nicht?
Nur halb, aber ich kann sie nicht entbehren, sie ist schlau, gewandt, muthig und fürchtet sich vor nichts auf der Welt, als vor mir. Das ist immer eine Garantie; freilich keine ausreichende, und jetzt haßt sie mich überdies doppelt und dreifach. Nun, nun, Du brauchst nicht roth zu werden, mein Junge! Was kannst Du dafür, daß sich das tolle Geschöpf bis hierher gewagt hat? Oder hast Du mir nicht Alles gesagt, Leo?
Doch, doch! Ich habe sie weder vorher, noch nachher gesehen oder gesprochen.
Und das eben verzeiht sie mir nicht, sagte Tusky; ich könnte ihren Zorn sehr leicht beschwichtigen, wenn ich Dich wieder einmal mitnähme –
So thue ihr doch den Gefallen, sagte Leo; glaubst Du, daß ich ein solches Kind bin, oder daß die Eve so gefährlich ist?
Tusky lachte.
Allerdings glaube ich das, sagte er, Eines und das Andere. Dein Blut ist heiß, und in Eve's Adern fließt kein Schneewasser. Aber wer, wie Du, zu großen Dingen geboren ist, muß rein bleiben wie polirter Stahl. Hüte Dich vor dem ersten Flecken, Leo; der erste Flecken bleibt nicht lange der einzige. Und nun geh', mein Junge, und sage Deinem Pastor, daß Du aus der Musikstunde kommst, und wir hätten heute Generalbaß getrieben. Und schlag' Dir die Grillen aus dem Kopf. Wenn wir die Welt betrügen, so ist es, weil sie durchaus betrogen sein will. Geh'!
Leo stand auf dem Kirchhofe. Es hatte aufgehört zu schneien; die Erde lag still und kalt wie eine Leiche. Als er den Kirchberg hinabstieg, begann die Orgel mächtig zu brausen, aber der sausende Wind zerriß die Töne, als ob Geister, die auf den schwarzen Himmelswolken über die Erde fuhren, einander Worte zuriefen, für die das Menschenohr kein Verständniß hat.