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Fünfzehntes Capitel.

Wenn wir ihn nur erst über den Berg haben, das Andere findet sich schon, pflegte der Förster Schwester Malchen mit bedeutsamer Miene zuzuflüstern, so oft er in das Krankenzimmer kam.

Und der Berg, der steile, in Nacht und Graus gehüllte Berg, über den die ängstlich flatternde Psyche sich so mühsam hatte schwingen müssen, war endlich überwunden; ein neues Leben breitete sich vor den Augen des Genesenden aus, ein neues Land, in welchem Alles auf den ersten Anblick neu erschien. Und doch war dies dasselbe Zimmer, aus welchem er in jener Nacht, wie ein Dieb, in seiner Verzweiflung kaum wissend, was er that, geflohen war. Doch war dies dasselbe Bett, in dessen Kissen er damals seinen Jammer gestöhnt hatte. Doch war dieser Schein der herbstlichen Sonne, welcher des Morgens durch die blanken Scheiben fiel und die schwankenden Schatten des vergilbenden Weinlaubs auf den Fußboden streute, derselbe Sonnenschein, der so oft schon gleichgiltig seinem Unmuth, seiner Sehnsucht geleuchtet hatte.

Die Tage vergingen; die Sonne schien oft nur matt durch wogende Nebel, und nicht selten war sie ganz hinter dunkeln Regenwolken verschwunden. Die letzten, gelben Blätter tanzten in der Luft; die nasse schwarze Erde war ihres Schmuckes bar. Noch immer lag Leo mit halbgeschlossenen Augen regungslos in seinem Bette, halb träumend, halb wachend, fortwährend unterhalten von den Bildern seines allzeit geschäftigen Gehirns. Sein bleiches, durch die furchtbare Krankheit noch mehr vergeistigtes Gesicht sah dabei manchmal so verklärt aus, daß Tante Malchen ihrem Bruder mit Thränen in den Augen versicherte, der Leo könne nicht mehr lange leben. Es sei ein alter Erfahrungssatz, und ihre Karten, an die Bruder Fritz leider nicht glauben wollte, hätten es noch immer bestätigt, daß das letzte Stündlein von Menschen, die ihre Natur so plötzlich veränderten, mit unabweislicher Gewißheit bevorstehe. So erinnerte sie sich, daß der königliche Förster Hartwig, der sich vor fünfundzwanzig Jahren in dem Nesselbruche erschoß, acht Tage vor seinem Tode plötzlich angefangen habe, Branntwein in großen Quantitäten zu trinken, trotzdem er vorher als der nüchternste junge Mann in der Gegend bekannt war.

Fritz Gutmann hatte gegen so schlagende Argumente nichts einzuwenden; desto aufmerksamer beobachtete er den Knaben, dessen Wesen auch ihm, freilich aus ganz anderen Gründen, ernstliche Sorge machte. Der Junge liebt uns nicht, brummte er oft vor sich hin; er blickt auf uns, als wären wir nicht Menschen von Fleisch und Blut – geschweige denn seine leiblichen Verwandten – sondern Schattenspiele an der Wand.

Der Förster sprach oft über Leo mit dem Freiherrn und Fräulein Charlotte, welche Beide das lebhafteste Interesse an ihrem neuen Schützling nahmen, und obgleich sie die Besorgnisse des Försters nicht so ganz theilten, wenigstens darin mit ihm übereinstimmten, daß einem solchen Charakter eine energische Leitung, wie man sie, sich von Doctor Urban versprechen zu dürfen glaubte, dringend noththue.

So kam endlich der Tag, an welchem Leo in das Pfarrhaus übersiedeln sollte, heran.

Walter und Henri waren in des Freiherrn kleiner Chaise gekommen, ihn abzuholen. Tante Malchen war, trotzdem die Entfernung von dem Försterhause bis zu dem Pastorhause nicht ganz eine halbe Stunde betrug und sie die gegründete Aussicht hatte, Leo am nächsten Sonntage wieder zu sehen, in einer sehr feierlichen und thränenreichen Stimmung. Sie hatte den Knaben sechs oder sieben Wochen lang Tag und Nacht gepflegt, und betrachtete ihn demzufolge gewissermaßen als ihr Eigenthum, obgleich es schwer zu sagen gewesen wäre, was sie denn nun an ihm verlor. Unterdessen war Leo mit dem Onkel in dem Zimmerchen hinter der Wohnstube, welches die Ehre genoß, des »Vaters Stube« genannt zu werden.

Der Förster saß vor einem aus gutem Tannenholz gearbeiteten Pulte, das schon die Schätze und Geheimnisse von mindestens drei Generationen der Familie Gutmann bewahrt hatte. Auf der Klappe vor ihm waren Briefschaften, Papiere, Packete ausgebreitet. Neben dem Pulte stand Leo.

Du gehst nun fort, mein Junge, sagte der Förster, vorläufig nicht eben weit; aber wohin Du auch gehst, ich denke, Du wirst das alte Haus hier stets als Dein Vaterhaus betrachten. Ich will thun, was an mir ist, daß Du der Liebe eines Vaters nimmer entbehren sollst. Zwar werde ich Dir nach der einen Seite hin nicht viel oder besser gar nichts helfen können; Du bist jetzt schon viel gelehrter, als ich es je in meinem Leben gewesen bin; aber Leo, es kommen gar viele Fälle im Leben vor, wo Einer mit aller seiner Gelehrsamkeit sich nicht zu rathen und zu helfen weiß, und wenn Du in solchen Stunden an Deinen alten Onkel denken willst, so wird es Dich hoffentlich nicht gereuen.

Des Försters Stimme wurde bei den letzten Worten ein klein wenig unsicher; er beugte sein Gesicht tiefer und kramte zwischen den Papieren.

Hier habe ich Alles, mein Junge, fuhr er fort, was man so braucht, um sich die Polizei vom Leibe zu halten: den Trauschein Deiner Eltern, Deinen Taufschein, Impfschein und was denn sonst dahin gehört. Ich will es Dir aufheben. Du kannst es zu jeder Zeit von mir bekommen. Dann sind hier auch die Hefte und Schreibereien, die ich bei Deinem Vater gefunden habe; es ist nicht viel, wie Du siehst. Ich habe nur eben so darin geblättert und will nun Alles in ein Packet binden; auch darüber magst Du einmal später bestimmen. Dies, lieber Junge, ist Deines Vaters ganze Hinterlassenschaft. Aber laß Dir das nicht zu Herzen gehen. So lange der Freiherr und ich leben, soll es Dir bis zu dem Augenblicke, wo Du Dir Dein Brod selbst verdienen kannst, an nichts, was zu Deinem Fortkommen nöthig ist, fehlen; und, wie gesagt, Leo, da der Mensch einmal nicht vom Brod allein lebt, sondern zu dem Leben, wenn es nicht gar öde und unfruchtbar sein soll, ein wenig Liebe gehört, so weißt Du, wohin Du Dich dieserhalb zu wenden hast. Na, mein Junge, jetzt habe ich Dir genug vorgepredigt, und es ist Zeit, daß Du in den Wagen kommst.

Der Förster, der während der letzten Worte die Papiere weggekramt und den Schrank verschlossen hatte, erhob sich, umarmte den Knaben und küßte ihn auf die Stirn. Dann gingen sie aus dem Hause, wo sich die übrige Bewohnerschaft desselben nebst einigen wedelnden Jagdhunden eingefunden hatte. Das Mädchen, der Forstgehilfe reichten dem Scheidenden die Hand; Tante Malchen weinte; der Förster rief: Fort! Die Pferde zogen an, die Hunde bellten; Henri und Walter riefen Hurrah, und der Wagen rollte davon.


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