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Achtes Capitel.

Ein paar Minuten später traten der Förster und die beiden Knaben – Tante Malchen mit Silvia war auf das Schloß vorausgegangen – in den schattigen Pfarrhof. Die dämmerige Kühle unter den mächtigen Kastanienbäumen, die tiefe Stille, in der das Summen des letzten Glockentons verzitterte, das stattliche, alterthümliche Pfarrhaus, dessen schmale Spitzbogenfenster von Epheu zum Theil dicht umrankt waren – das Alles verfehlte nicht, einen tiefen Eindruck auf die Knaben zu machen, und selbst des Försters braunes Gesicht zeigte ein paar nachdenkliche Falten. Er blickte nach der Thurmuhr hinauf und schien zu überlegen, ob man nicht lieber noch ein paar Minuten warten solle; dann aber mochte ihm dieses Zagen vor einem ihm allerdings wenig angenehmen Besuch doch unmännlich vorkommen, wenigstens zog er die Glocke an der Thür mit einer gewissen energischen Heftigkeit, die durch die Umstände kaum gerechtfertigt schien.

Die öffnende Magd führte den Besuch in ein Zimmer zu ebener Erde, in welchem er alsbald von der Frau Pastorin begrüßt wurde. Die kleine, blasse Dame reichte dem Förster mit großer Herzlichkeit die Hand und wandte sich dann zu den Knaben, deren Anblick ihre schmalen gerötheten Augen sogleich mit Thränen füllte. So groß würden meine Zwillinge sein, rief sie, wenn sie nicht gestorben wären.

Die Erinnerung an den bereits vor fünfzehn Jahren erfolgten, nie wieder ersetzten Verlust dieser Kinder, von denen das eine todt zur Welt kam und das andere nicht den nächsten Tag erlebte, hatte der kleinen Dame ihre geringe Haltung vollends geraubt. Sie trocknete sich die reichlich hervorquellenden Thränen ab, lächelte, und bat den Förster und die Knaben um Entschuldigung, daß sie ihnen keinen besseren Empfang bereite; nöthigte sie darauf, sich um den Sophatisch zu setzen, wobei sie eine hübsche, mit Blumen gefüllte Porzellanvase, die auf dem Tische stand, umwarf. Die Vase brach entzwei, das Wasser strömte auf die Decke, von dort auf die blank gescheuerten Dielen. Frau Doctor Urban rief: O mein Gott! lächelte dann wieder und bat die Ankömmlinge, sich doch über eine solche Kleinigkeit nicht zu beunruhigen. Dabei wuchs ihre Unruhe sichtbar mit jeder Minute und erreichte den höchsten Grad, als sich in dem Zimmer nebenan ein fester Schritt in knarrenden Stiefeln vernehmen ließ. Eilends erhob sie sich von dem Sopha, auf das sie sich kaum niedergelassen hatte, sagte mit ängstlicher Stimme: Mein Mann, o mein Gott! und lächelte dann wieder.

Doctor Urban hatte seinen Priestertalar mit einem bequemen schwarzen Hausrock vertauscht, in welchem sich seine große und starke Gestalt noch stattlicher ausnahm. Seine grauen Augen schossen für einen Moment einen kalten, strafenden Blick auf seine Gattin, in welcher er die Urheberin des Unglücks mit der Vase sofort erkannte, und versuchten dann, indem sie sich auf den Förster und die Knaben wandten, einen freundlicheren Ausdruck anzunehmen.

Ein seltener Gast trat über meine Schwelle – kann ich wohl mit dem Dichter sagen! Aber auch so willkommen, mein werther Herr Gutmann! Willkommen, mein guter Walter, mein braver Leo! ich höre, daß Sie bereits gute Fortschritte im Griechischen gemacht haben.

Doctor Urban reichte den also Angeredeten einem nach dem andern die Hand, wandte sich darauf zu seiner Frau und sagte, mit einer Bewegung nach der zerbrochenen Vase, in einem Tone, dessen Scherzhaftigkeit nicht eben erquicklich war:

Du hättest unseren lieben Gästen wohl eine andere Erfrischung anbieten können, als kaltes und, wie ich glaube, nicht einmal frisches Wasser.

Die kleine Dame versicherte mit zitternder Stimme, daß sie dazu noch gar nicht einmal Zeit gehabt habe.

Der Pastor runzelte die Stirn und sagte lächelnd: Wozu hättest Du auch Zeit, meine Liebe! – Der Förster sagte, daß er und die Knaben gefrühstückt hätten, ehe sie von Hause weggegangen seien, und daß sie überdies um ein Uhr das Mittagessen auf dem Schlosse erwarte.

Ja, ja, der gnädige Herr meint es gut mit Ihnen und den Ihrigen, erwiederte der Pastor und bat dann, wenn man doch einmal von leiblicher Nahrung nichts wissen wolle, in sein Zimmer zu treten, wo die beiden Knaben wenigstens geistige Speise genug finden würden.

Mit diesen Worten öffnete Doctor Urban die Thür zu dem Zimmer, aus dem er gekommen war. Es war ein stattliches, ringsumher an den Wänden mit hohen Büchergestellen ausgestattetes Gemach. Auf einem einfachen Teppich in der Mitte stand ein viereckiger, mit grünem Tuch überdeckter Tisch. Ein mit schwarzem Leder bezogener Polsterstuhl und drei Rohrstühle waren an den Tisch gerückt. Grüne Vorhänge dämpften das durch die hohen Fenster hereinfallende Licht.

Ach! wie prächtig muß es sich hier arbeiten lassen, rief Leo entzückt.

Meinen Sie, mein junger Freund? sagte Doctor Urban, indem er dem Knaben zum Zeichen des Wohlwollens die breite Hand auf die Schulter legte. Nun, nun, das freut mich. Da können Sie sogleich beginnen. Hier ist Tinte, Feder, Papier; hier ist ein Lexikon, hier ist Schiller's Geschichte des dreißigjährigen Krieges. Getrauen Sie sich wohl, eine halbe Seite daraus in's Lateinische zu übersetzen?

Ja, sagte Leo.

Und Sie, mein Freund?

Ich will's versuchen, sagte Walter, der sehr roth geworden war, mit einem verlegenen Blick zu Leo hinüber.

Brav, brav, sagte Doctor Urban; und wir, lieber Gutmann, wollen unterdessen in meinem Cabinet ein wenig plaudern.

Der Pastor nahm den Arm des Försters und führte ihn in das anstoßende Gemach, das kleiner als das Bibliothekzimmer und mit größerem Comfort, ja mit Luxus ausgestattet war. Hier nöthigte er ihn in einen Lehnstuhl, während er selbst auf einem zweiten, ihm gegenüber, Platz nahm und sagte:

Nun lassen Sie uns einmal recht vertraulich mit einander reden, mein lieber Herr Gutmann; wohlmeinende, verständige Männer verständigen sich ja leicht, und in Anbetracht des nahen Verhältnisses, in welches wir zu treten im Begriffe sind, thut Offenheit ja vor allen Dingen noth. Verstatten Sie mir also zuvörderst die Frage: Was ist für unseren Freiherrn der Beweggrund, sich eine so große Verantwortlichkeit und – verzeihen Sie, daß ich ganz gerade mit der Sprache herausgehe – eine so große Last, als die Sorge für zwei fremde Knaben im besten Falle ist – auf sich zu nehmen?

Der Förster blickte etwas verwundert auf. Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Pastor, sagte er.

Freilich, freilich, meinte Doctor Urban; die Frage ist auch so, wie ich sie gestellt habe, ein wenig wunderlich. Ich kenne ja die große Huld, welche Ihnen der Freiherr von je bewiesen hat! Ich wollte eigentlich sagen: Glauben Sie, daß der Freiherr, außer durch das Wohlwollen, welches er nun einmal gegen alle die Ihrigen empfindet, sich diesmal noch durch ein anderes Motiv leiten läßt? Sie können gegen mich offen, vollkommen offen sein, lieber Herr Gutmann.

Ich habe durchaus nicht die Absicht, nicht gegen Sie offen zu sein, sagte der Förster, unwillkürlich über diese sonderbare Geheimnißkrämerei lächelnd; aber ich will nie wieder eine Büchse abschießen, wenn ich weiß, was ich vor Ihnen verbergen soll.

Doctor Urban lächelte und sagte: Was haben wir uns auch schließlich um die Motive zu kümmern, wenn die Handlungen so edel, so – ich möchte sagen: greifbar gut sind. Ich für meinen Theil gestehe ganz offen, daß ich dem Freiherrn großen Dank weiß, wenn er mir die ländliche Akademie, die ich schon lange intendire, endlich einmal in's Werk richten hilft. Womit soll man die Muße eines jahrelangen und – was soll ich es Ihnen verschweigen – unfreiwilligen Aufenthalts auf dem Lande ausfüllen? Die Predigten – nun, du lieber Himmel! – das macht sich zuletzt von selbst, und die Seelsorge – ja, großer Gott, die Seelsorge! lieber Herr Gutmann, da kommt man zuletzt zu der Einsicht, daß es auch hier am besten ist, wenn man es eben gehen läßt, wie's Gott gefällt. Kinder, deren Erziehung meine freie Zeit ausfüllen könnte, habe ich nicht; meine Frau macht wenig Ansprüche an mich; sagen Sie selbst, ob ich zum Vorstand einer kleinen Gelehrtenschule auf dem Lande nicht geradezu prädestinirt bin. Das wäre also, was mich bestimmt hat, sogleich auf den Vorschlag des Freiherrn einzugehen. Der junge Springinsfeld, der Henri, wird uns freilich das Leben wohl im Anfang etwas sauer machen; indessen in der Gesellschaft zweier tüchtiger Jungen wird der hohle Uebermuth wohl bald verfliegen. Ihr Walter gefällt mir recht, Herr Förster, recht sehr; ein braver Knabe mit offener Stirn, wie ich sie liebe. Und der Leo – er heißt doch Leo? – ich wundere mich, daß ich nie vorher von ihm gehört habe – der Freiherr sagte mir, daß er schon ein halber Gelehrter sei, und Alles durch eigenen Fleiß, zum wenigsten doch nur unter Anleitung des Vaters, der, soviel ich weiß, selbst keine gelehrte Bildung genossen hatte. Merkwürdig, sehr merkwürdig! Ihr Herr Bruder muß nach Allem, was ich von ihm höre, ein ungewöhnlicher Mann sein. Aehnelt er Ihnen? Der Knabe hat durchaus keinen Familienzug, ich meine, keinen Gutmann'schen Familienzug. Nach den dunkeln Augen zu schließen, könnte er eher in die freiherrliche Familie gehören.

Doctor Urban warf bei diesen Worten einen schnellen Blick auf den Förster und fand sich sehr getäuscht, als er in dem braunen, offenen Gesicht desselben durchaus keine Miene der Verlegenheit oder der Bestürzung wahrnehmen konnte. Die Unterhaltung gerieth hier in's Stocken und wollte, trotzdem der Pastor noch verschiedene Themata anschlug, nicht wieder in Gang kommen. Endlich erhob man sich, nachdem man zuletzt über einige Einzelnheiten, die bei der Uebersiedelung der Knaben in das Pfarrhaus in Frage kamen, flüchtige Rücksprache genommen hatte. Die Exercitien der Knaben sah Doctor Urban dann im Vorbeigehen an, fand Leo's Arbeit vortrefflich, und Walter's – der sie sich von Leo hatte dictiren lassen – ganz gut, und verabschiedete sich in der Thür des Bibliothekzimmers von seinen Besuchern mit verbindlichstem Lächeln und ausgesuchten Höflichkeitsphrasen.

Auf dem Hausflur huschte die Frau Pastorin an ihnen vorüber. Sie hatte jetzt ganz roth geweinte Augen. Offenbar wollte sie den Fortgehenden einige freundliche Worte des Abschieds sagen; aber Rührung oder Aengstlichkeit ließen sie nicht dazu kommen. Sie begnügte sich zu lächeln, Allen wiederholt die Hände zu drücken, nochmals zu lächeln, und entfernte sich dann eilends.

Auf dem Hofe wurde den Knaben endlich die Brust wieder frei genug, um sich gegenseitig die Fülle der gemachten Beobachtungen mittheilen zu können. Walter fand, daß die Frau Pastorin eine gute alte Dame und der Doctor gar nicht so schlimm sei, wie er ihn sich vorgestellt hatte; Leo sagte, daß er die Bibliothek auf ein paar tausend Bücher schätze, und versicherte dem Onkel mit strahlenden Augen, daß er sie alle durchlesen werde. Der Förster ließ die Knaben plaudern. Doctor Urban hatte einen unangenehmeren Eindruck auf ihn gemacht, als je zuvor, und er sagte sich, daß die arme Frau Urban, die er heute zum ersten Male in ihrer Häuslichkeit gesehen hatte, eine sehr, sehr unglückliche Frau sein müsse. Sodann hatte ihm die Weise, in welcher der Doctor mit ihm gesprochen hatte, gar nicht gefallen. Weshalb hatte sich der gelehrte Herr so viel Mühe gegeben, den Freundlichen, den Herzlichen zu spielen?

Der wackere Mann seufzte tief, während die Knaben an seiner Seite eifrig schwatzten. Er bedauerte jetzt beinahe, daß er sich den Wünschen des Freiherrn so leicht gefügt. Es hatte dem Sohne des Waldes zu sehr mißfallen in dem kühlen, stillen Hause mit der klösterlich dumpfen Luft.


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