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Einundsechzigstes Capitel.

War es die durch die Anwesenheit so vieler Menschen verdorbene Luft, war es die dumpfe Ahnung der Zukunft, über welche der Moment entschieden hatte – Leo fühlte sich seltsam beklommen, als er wieder allein in seinem Zimmer war. Er riß die Fenster auf, die goldene Frühlingsluft hereinströmen zu lassen. Dann wendete er sich wieder in das Zimmer, durchmaß es ein paarmal mit heftigen Schritten und warf sich endlich in der Nähe des Fensters auf eines der Sophas, Stirn und Augen in die Hand gepreßt, verloren in tiefstes Sinnen.

Ja! es war entschieden! Der Moment hatte einmal wieder seine Allmacht bewährt. Das Wort, das er so lange in seiner Brust verschlossen gehalten – es war über seine Lippen gesprungen und stand nun da, ihm gegenüber, des eigenen Lebens voll, durch keine Kunst zu bannen, durch keine Gewalt zu vernichten. Er hatte es nicht mehr; die Männer hatten es, die eben gegangen waren, die Männer mit den leidendurchfurchten Gesichtern und den treuen guten Augen, die Repräsentanten des Volkes, des vielgeprüften, arbeiterdrückten, hungergequälten, geschändeten Volkes! Der arme Konz der Bauernkriege, da war er wieder in kaum veränderter Gestalt, immer noch auf der letzten Stufe civilisirten Daseins, immer noch das Lastthier, das den Herrn schleppen und jede Unbill, jede Rohheit dazu tragen muß!

Und das sollte so fortgehen in alle Ewigkeit! Immer wieder sollten Mütter in Schmerzen gebären, blos damit das Maß des Elends niemals kleiner würde! Geschöpfe zum Dasein bringen, die niemals frei das Haupt erheben, deren Seelen nie von der Herrlichkeit der Wissenschaft, von der Wonne der Kunst begnadigt werden könnten! Welcher Teufel wäre teuflisch genug, zu diesem grausen Fluch Ja und Amen zu sagen!

Nein, nein, und tausendmal nein! Es muß einen Weg aus dieser Hölle geben. Daß er noch nicht gefunden ist, kann das beweisen, er werde nie gefunden werden? Ist die Welt deshalb zu Ende, weil unsere Sehkraft nicht weiter reicht? Und ich sehe sie in dämmernden Umrissen, die Gebilde der Zukunft, und deshalb darf ich es wagen, die Gegenwart nach meinem Sinne gestalten zu wollen. Es ist nur ein Versuch – meinetwegen; auch nur gestrebt und sich geregt zu haben, ist schon Verdienst inmitten dieser verdumpften Masse, die sich widerstandslos von der eigenen Schwere zu Boden drücken läßt.

Und wen opfere ich denn schließlich – als mich selbst? Selbst wenn mein Experiment fehlschlagen sollte – die Lage der armen Menschen kann nicht schlimmer werden; ist die Sonne nun doch schon so viele Jahrhunderte nicht müde geworden, dasselbe Elend zu bescheinen! Aber ich könnte es anders haben; ich könnte mich die paar Lebenstage im Sonnenschein wiegen, wenn mir an dem Mückentanz gelegen wäre. Sie machen es mir ja leicht genug. Es kostete mich nicht mehr Zeit und Mühe, für diese Menschenmückler zu schreiben, wie ich gegen sie geschrieben habe, und der reiche Laban gäbe mir seine Lea und die Hälfte von Allem, was sein ist. Wie sagte sie? – Mein stolzer Adler – die demüthige Taube harret Deiner, sich mit Dir zu schwingen durch alle Lüfte – war es nicht so? Pah! ich könnte ihren kleinen üppigen Leib und ihre kleine üppige Seele haben, wenn mich danach gelüstete.

Der Diener unterbrach Leo's Meditationen, indem er mit einem Briefe hereintrat, der soeben von einer jungen Dame, die sich sogleich wieder entfernt habe, abgegeben worden sei. Leo sah nach der Aufschrift und erkannte Eve's Hand. Eine unangenehme Empfindung, als ob er unversehens die Spitze eines Dolches berührt hätte, durchzuckte ihn, und er ließ den Brief neben sich auf das Sopha fallen. Er hatte seit jener Schreckensnacht von Eve nichts gehört; er wußte nur durch Ferdinand Lippert, den er aber auch schon seit mehreren Tagen nicht wiedergesehen hatte, daß sie noch immer auf dem Jagdschlosse des Prinzen sich befand. In der leidenschaftlichen Verfolgung seiner politischen Pläne hatte er des sonderbaren Mädchens und ihres merkwürdigen Schicksals kaum mehr gedacht; jetzt trat ihr Bild vor ihn hin, in drohender Gestalt – ein Gespenst am hellen Tage.

Er machte eine heftig abwehrende Bewegung, aber der Brief lag noch immer da. Es wäre das erstemal in meinem Leben, daß ich einer meiner Handlungen nicht gerade in das Gesicht gesehen hätte. Her damit!

Leo erbrach das Siegel und las:

 

»Ich schreibe, nicht, wie Sie in Ihrer Eitelkeit vielleicht wähnen, Ihnen noch einmal eine Liebe nachzuwerfen, die Sie nicht verdienen; ich schreibe, nicht, Sie um ein Mitleid anzuflehen, dessen Sie nicht fähig sind – ich schreibe, Ihnen zu sagen, daß ich Sie hasse, wie eine Elende den haßt, der sie in's Elend stürzte. Ja, ja, runzeln Sie nur immer zornig Ihre Stirn und krümmen Sie verächtlich Ihre Lippen. Sie, Sie sind schuld an meinem Unglück, Sie haben mir, die ich am Abgrund taumelte, nicht die rettende Hand gereicht – was sage ich – nicht einmal ein Wort des Rathes, der Warnung haben Sie für mich gehabt, und das, das allein schon hätte mich retten können.

Sie, Mann der Pflichttreue, der heroischen Tugend! Hatten Sie mir gegenüber keine Pflichten? Verbot Ihnen Ihre Tugend, mir gegenüber tugendhaft zu sein? Wenn Sie keine Liebe für mich fühlten, durften Sie auch nicht die allergewöhnlichste Nächstenliebe an mir üben? War ich auch der nicht würdig? Hatte Ihnen die Energie, mit der ich aus der Tiefe der Unwissenheit, der Verwilderung hinaufstrebte zum Wissen und zur Bildung, keine Achtung abgenöthigt? Rührte Sie der verzweifelte Kampf nicht, mit dem ich mich rein erhalten hatte in der unreinen Atmosphäre, die mich umgab? War ich Ihnen auch als Schwester meines Bruders nichts, meines Bruders, den Sie Ihren besten Freund nennen, von dem Sie eingestehen, daß Sie ihm Unendliches zu danken haben? Wäre es zu viel der Dankbarkeit gewesen, hätten Sie seine Schwester vor der Schande bewahrt?

Aber was rede ich denn von dem Allen, als ob Sie das verständen, als ob Sie ein Herz hätten, wie ein anderer Mensch? Wann hätten Sie das gehabt? Damals vielleicht, als Sie dem Manne, der Sie genährt und gekleidet, den Feuerbrand in sein Haus schleudern wollten? Oder als Sie meinen Bruder verließen, um sich hier zum großen Manne zu lügen und zu trügen. Ja, Mann! Sie haben gelogen und getrogen! Ich selbst bin Ihnen nicht zu schlecht gewesen, Ihre Künste an mir zu versuchen. Können Sie es leugnen? leugnen, daß Sie mich aufgesucht haben? daß Sie mir unter der Maske eines Jugendfreundes entgegengetreten sind? daß Sie sich in mein Vertrauen eingeschlichen? daß Sie mich mit gütigen Worten beglückten? daß Sie sich meine Liebe, die Sie, der Kluge, der Vielerfahrene, recht gut erkennen mußten, gefallen ließen, so lange – so lange es Ihnen paßte, so lange, als Sie mich brauchen konnten, so lange ich noch ein Rechenpfennig in Ihrem politischen Exempel war! Und das ist es, was ich Ihnen nicht vergeben kann, nimmer und nimmer vergeben werde. Um zu erfahren, was Sie von dem Prinzen und über den Prinzen zu wissen wünschten, haben Sie mich geopfert, haben Sie Ferdinand geopfert, der jetzt um Ihrethalben schimpflich aus dem Dienst gejagt ist. Welches Recht hatten Sie dazu? Ich sage Ihnen: Ferdinand, so tief er gesunken sein mag, er ist, verglichen mit Ihnen, der bessere Mann!

Aber ich! Freilich ich habe kein glücklicheres Loos verdient! Ein Mädchen, das für die Verzweiflung seines Herzens kein anderes Mittel weiß, als Maitresse eines Fürsten zu werden! ... Mann der Politik, was wissen Sie, der Sie kein Herz haben, von der Pein verschmähter Liebe! Und wenn ich die Kokette wäre, für die Sie mich halten, würde ich jetzt hier in einer elenden chambre garnie, Wand an Wand mit einer Dirne wohnen, die sich ihre Liebhaber beim Schein der Straßenlaterne sucht? Glauben Sie, es sei so schwer, einen Sultan bei guter Laune zu erhalten? oder daß eine Buhlerin sich so leichten Kaufs hätte abfinden lassen, wenn man ihrer wirklich überdrüssig war? – O, dann überschätzen Sie das ganze sogenannte starke Geschlecht ebenso hochmüthig, wie Sie sich selbst überschätzen.

Doch der Tag der Abrechnung zwischen mir und Ihnen wird kommen; nicht morgen oder übermorgen, denn Sie haben Ihre Bahn noch nicht vollendet; aber er wird kommen. Bis dahin – aber auch nur bis dahin, lachen Sie über das Geständniß, daß ich Sie hasse, wie ich noch keinen Menschen auf Erden gehaßt habe.«

 

Leo ließ den Brief, der, wie man der hastigen, manchmal fast unleserlichen Handschrift deutlich ansah, in größter Leidenschaft geschrieben war, aus der Hand gleiten. Er blickte düster vor sich nieder. Des Anklägers Heftigkeit hatte ihn erschüttert; es schien kaum möglich, daß die Klage so ganz unbegründet, daß der Angeklagte so ganz schuldlos sei.

Ganz schuldlos? Wer ist das? Ja, welcher tüchtige Mensch verlangt das? Doch der nur, der das Wort des Philosophen, daß es die Ehre großer Charaktere ist, schuldig zu sein, nie begriffen hat. Was soll mir der Unkenruf aus dem unreinen Munde? Wenn ich nach einer anderen Stimme verlange, als die mir im eigenen Busen vernehmlich spricht, so sei es wenigstens eines reinen, großherzigen Weibes Stimme.

Er trat an den Schreibtisch und nahm aus einem der Kasten einen Brief, den er, über das Pult gebeugt, langsam las, als ob er ihn auswendig lernen wollte.

 

»Sie schelten Dich einen Egoisten, weil sie die Leidenschaft der Idee nicht kennen; einen kalten Rechner, weil sie nicht begreifen, daß Du, um des Gemeinwohls willen, von dem Einzelnen Opfer fordern mußt! Laß Dich nicht irre machen, Leo! Dir ziemt das Zagen und Zaudern kleiner Seelen nicht. Groß und still und ruhig mußt Du Deinen Weg wandeln; es darf Dich nicht kümmern, was sie auf den Seiten neben Dir schreien. Unverrückt mußt Du Dein Ziel im Auge behalten. Daß sie nicht mit den Augen winken, daran erkennt der Inder seine Götter und daran erkennt man die Menschen, die von dem Schicksal begnadigt sind, Träger einer großen Idee zu sein. – Wenn mich nicht Alles trügt, steht jetzt für Dich und Deine Sache Großes auf dem Spiel. Sei stark und groß! Ich habe nur den Einen heißen Wunsch, wie ich nur Ein Furchtbares kenne: Du könntest Dich je schwach und klein zeigen, könntest je vergessen, daß Du nicht Dir gehörst. Könige schulden sich ihrem Volk, große Menschen ihren Zwecken.«

 

Leo athmete tief auf und richtete sich empor. Seine Seele war erquickt; er fühlte sich wieder stark genug, um das verhängnißvolle Wort einzulösen, mit dem er sich und seien Zukunft den Männern von Tuchheim verpflichtet hatte.


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