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Neununddreißigstes Capitel.

Walter lebte so zurückgezogen, daß er das von der vornehmen jungen Männerwelt sehr besuchte Restaurant, in welchem er zur festgesetzten Stunde pünktlich eintraf, nicht einmal vom Hörensagen kannte. Er war deshalb über die strahlenden Kronleuchter, die kostbaren Teppiche, die Marmorkamine, die Wandgemälde und die übrige kostbare Ausstattung der vielen und schönen Räume einigermaßen erstaunt, und nicht viel weniger darüber, daß ihm sein demokratischer Vetter gerade dieses Lokal zum Rendezvous bestimmt hatte. Indessen Leo, der ja so fremd in der Stadt war, mochte den Ort ebensowenig gekannt haben, und übrigens war der Ort ja auch gleichgiltig. So setzte sich denn Walter in einem der Säle, der noch am leersten schien, an einen der vielen Tische, bestellte bei dem Kellner, der ihn über die Achsel ansah, eine halbe Flasche Wein und etwas zu essen, und hoffte, daß Leo ihn nicht lange in Gesellschaft der Diana im Bade auf einem großen Bilde ihm gerade gegenüber und der vier oder fünf Herren, welche an dem andern Ende des Gemaches um einen runden Tisch saßen und Champagner tranken, allein lassen werde.

Aber Leo ließ lange auf sich warten, und Walter hatte überreichlich Zeit, sich über die badende Diana und die champagnertrinkende Gruppe ein Urtheil zu bilden. Die Diana war eine mittelmäßige Copie nach einem alten Meister, und die jungen Herren schienen auch gerade keine Originale zu sein – flache, unbedeutende, vom Wein geröthete Gesichter, ganz in Harmonie mit der Unterhaltung, die sich wesentlich um Pferde, Hunde und die Geheimnisse der Theaterwelt, insonderheit des Ballets drehte. Walter konnte nicht umhin, einen Theil dieses Klatsches mit anzuhören, denn man sprach, wenn auch nicht eben eifrig, doch ziemlich laut.

So verfloß eine halbe Stunde, die Walter sehr lang vorkam, und er begann bereits über Leo's Unpünktlichkeit ungeduldig zu werden, als das Eintreten eines neuen Gastes, der sich zu der Gruppe am Tische gesellte, seine Aufmerksamkeit von neuem und ernstlicher als vorher erregte.

Es war ein schlanker Mann in Mittelgröße, von etwa dreißig Jahren, mit einem Gesichte, das Walter seltsamerweise ganz bekannt vorkam, trotzdem er sich sogleich sagen mußte, er könne es nie zuvor gesehen haben, denn sein physiognomisches Gedächtniß war sehr gut, und das Gesicht war so merkwürdig, daß es wohl Niemand, der es auch nur einmal gesehen, so leicht vergessen hätte. Das reiche Haar, der lockige Schnurrbart, die geistvollen Züge, die etwas dunkle Farbe der Haut, die schöne Form des Kopfes – das Alles stimmte zusammen, als wäre es ein Porträt von Van Dyk. Besonders frappirten Walter die großen braunen, glänzenden Augen, die, als der Fremde an ihm vorüber schritt, mit einer flüchtigen Neugier auf ihn gerichtet gewesen waren. Die Kleidung des Mannes war elegant, aber sehr bequem, gerade so wie seine Haltung, sein Gang und seine Manieren. Einen hohen Rang in der Gesellschaft, die hier verkehrte, konnte er nicht einnehmen; denn Walter bemerkte, wie die Herren am Tische ihn nur mit nachlässigem Kopfnicken empfingen, während sie es bei einigen anderen Ankömmlingen an ceremoniösen Verbeugungen nicht hatten fehlen lassen. Sobald er unter den jungen Herren – denn sie waren fast alle jünger als er – Platz genommen, nahm die Unterhaltung einen lebhafteren Gang, und meistens trug er die Kosten derselben allein. Er mußte unerschöpflich an Geschichten und Anekdoten sein, die er mit leiser Stimme vortrug, und deren Charakter man aus der gespannten Aufmerksamkeit seiner Hörer und aus dem Gelächter, das regelmäßig folgte, abnehmen konnte. Dann pflegte er ein Glas Champagner hinunterzugießen und sich mit einer schnellen Bewegung nach rechts oder links zu wenden, und auf einen andern Gegenstand überzuspringen, als ob es sich nicht der Mühe verlohne, bei dem eben verhandelten noch länger zu verweilen. In diesem Hinüber und Herüber, in diesem Heben und Senken der Stimme, in diesem überreichen Spiel der Geberden und Mienen lag eine Effecthascherei, die Walter um so unangenehmer berührte, je lebhafter ihn anfänglich die ausgezeichnete Schönheit des Mannes überrascht hatte. Zuletzt wendete er sich mit Widerwillen von einem Schauspiel ab, in welchem er die schönsten Mittel zu den häßlichsten Zwecken vergeudet sah. Schon war er im Begriff aufzubrechen, da auch Leo vermuthlich nun nicht mehr kommen würde, als dieser plötzlich mit raschen Schritten in den Saal trat und ihn mit Lebhaftigkeit begrüßte.

Entschuldige, rief er, daß ich so spät komme: man kann nicht schnell weiter, wenn man mit lahmen Pferden Schritt halten soll.

Leo war augenscheinlich sehr aufgeregt; seine dunklen Augen hatten einen stechenden Glanz, seine sonst bleichen Wangen waren lebhaft geröthet, und er trank ganz gegen seine Gewohnheit schnell hinter einander ein paar Gläser Wein.

Wer sind die lahmen Pferde, mit denen Du hast Schritt halten müssen? fragte Walter.

Eure liberale Partei, entgegnete Leo, die ich heute zum ersten male von Angesicht zu Angesicht gesehen habe. Ich habe nie zu denen gehört, die ein besonderes Verdienst darin sehen, die Person von der Sache zu trennen. Das ist – zum wenigsten in der Politik – ein Unsinn. Die vernünftigste, weiseste politische Doctrin kann zum Aberwitz werden, wenn Narren und Dummköpfe sie in's Leben führen sollen, und die schlechteste Sache gedeiht, ja wandelt sich nach und nach in eine gute um, wenn ein tüchtiger Mann sie in die Hand genommen hat. Ich habe mir das Schwanken, die Inconsequenz in der Taktik Eurer liberalen Partei nie recht erklären können, so lange ich in der Fremde war; ich suchte die Gründe dafür in tausend Nebendingen; seit heute weiß ich, daß die halben Menschen, die sich anmaßen, die Leiter der Partei zu sein, die eigentliche Quelle aller dieser halben Maßregeln sind. Bei den Göttern, welche Menschen sind dies! Armselige Philister, deren Gesichtskreis nicht weiter als bis zur Spitze ihrer Nase reicht; hohle Schwätzer, die den Mangel eigener Gedanken durch den Schwall ihrer Worte zu verdecken suchen; silbenstechende Pedanten, die an dem Pünktchen über dem i kleben; schlaue Sophisten, die wohl wissen, was noththut, aber aus tausend unlauteren Motiven sich wohl hüten, die Wahrheit zu sagen; ehrgeizige Stellenjäger, die in der Opposition nur eine Leiter zu dem erhabenen Ziele eines Minister-Portefeuille sehen; Lebemänner, denen ein gutes Diner wichtiger ist, als ein gutes Gesetz; protzende Geldsäcke, die nicht den Pfifferling für eine Freiheit geben, bei welchen ihre Actien um ein halbes Procent fallen könnten.

Um Himmelswillen, höre auf mit Deinem Sündenregister! rief Walter lachend. Wenn man Dich hört, könnte man glauben, unsere Partei sei ein politisches Sodom ohne einen einzigen Lot, der gerettet zu werden verdiente.

Und in der That kenne ich keinen, erwiederte Leo.

Du kommst aus einer Versammlung bei Sonnenstein; so mußt Du auch Doctor Paulus kennen gelernt haben?

Ich kenne ihn brieflich schon seit Jahren, persönlich seit dem zweiten Tage meines Hierseins.

Und rechnest Du auch ihn zu jenen Menschen, auf die und mit denen nicht zu rechnen ist?

Wenn ich es offen sagen soll, ja!

Du bist in leidenschaftlicher Aufregung, sagte Walter nach einer Pause, während welcher Leo mit düsterem, aufmerksamem Blick die Gesellschaft an dem anderen Tische musterte, und in Deiner Leidenschaft zertrümmerst Du die Tafeln des Gesetzes und rufst Wehe über Gerechte und Ungerechte. Daß unsere Partei nicht die Energie entfaltet, die sie entfalten müßte, daß sich manche unlautere, ja fremde Elemente hineingemischt haben – darüber sind alle wahren Patrioten einig. Aber wir haben doch nun vorderhand kein besseres Material, mit dem wir bauen können, und so lange noch solche Männer wie Paulus und Andere, die Du mir in auffallender Weise zu unterschätzen scheinst, auf dem Plane sind, will und kann ich an unserem Werke nicht verzweifeln.

Wie kommst Du heute wieder und immer wieder auf den Paulus? fragte Leo.

Weil ich den Mann eigentlich heute erst in seinem wahren Werthe kennen und schätzen gelernt habe, erwiederte Walter, und er erzählte ausführlich seine Begegnung mit dem Doctor.

Leo hatte nicht mit der Aufmerksamkeit und Theilnahme zugehört, die Walter in einer Sache, die ihm so am Herzen lag, erwarten durfte. Für ihn schien es sich nur um Doctor Paulus, nicht um Walter zu handeln, denn er sagte, als dieser zu sprechen aushörte:

Ja, ja, ganz recht! Das ist der Mann, wie er leibt und lebt! Der moderne Diogenes, der am hellen Tage mit der Laterne nach Menschen sucht; der Vorrates, der über das Verhältniß von gut und schön und wahr die herrlichsten Reden führt, und wenn ihn die heilige Polizei beim Kragen nimmt, ganz gelassen in's Gefängniß spaziert und mit der Geduld eines Engels den Schierlingsbecher trinkt! Ein moralischer Holländer, der mit seiner unausstehlichen Reinlichkeit sich und Anderen das Leben sauer macht; ein politischer Fatalist, der den Proceß, an welchem sein und der Seinigen Glück und Vermögen hängt, durch seine Halsstarrigkeit ruhig verloren gehen läßt, weil nach tausend, tausend Jahren doch einmal ein weiser Richter kommen, die Acten revidiren und die längst zu Staub gewordenen Märtyrer in integrum restituiren wird! – Gerade Paulus war es, der mich heute Abend durch seine heillose Vermischung von Moral und Politik zur Verzweiflung gebracht hat. Du weißt, oder Du weißt auch nicht, um was es sich in diesem Augenblicke für uns handelt. Die Bourgeois, welche, Gott sei es geklagt, gegenwärtig die liberale Partei repräsentiren, fühlen, daß ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird und daß sie sich, koste es was es wolle, so oder so stützen, an eine andere Kraft, die ihnen wieder auf die Beine hilft, anlehnen müssen. Anstatt nun der einfachen politischen Logik zu folgen und die mangelnde Kraft aus dem mütterlichen Boden zu ziehen, aus dem sie selbst erwachsen und nur mit der Zeit zu einer faulen Frucht entartet sind, das heißt aus dem vierten, aus dem Arbeiterstande, wendet man sich in dummstolzem Hochmuth und feigem Egoismus von diesem ab, liebäugelt mit der Partei des Prinzen. Und worauf beruht dieser ganze herrliche Plan? Der König, sagen sie, ist trotz seiner Jugend physisch gebrochen und kann nicht lange mehr leben; der Kronprinz liegt in der Wiege und kann jeden Tag an einer Kinderkrankheit sterben. Jedenfalls folgt dann eine langjährige Regentschaft, und der Prinz ist Herr der Situation. Machen wir uns den Mann zum Freunde, so lange ihm unsere Freundschaft noch etwas werth ist. Er leidet jetzt unter der Eifersucht der Minister, ähnlich wie wir. Er wird es uns nie vergessen, was wir ihm heute Gutes thun. Freilich ist er scheinbar ein starrer Aristokrat, aber er soll in seinem Herzen echt demokratische, zum wenigsten volksthümliche Regungen haben, er soll mit verschiedenen notorisch freisinnigen Staatsmännern des In- und Auslandes Correspondenzen pflegen, die, wenn sie bekannt würden, ihm theuer zu stehen kommen könnten; er soll – ja, ich weiß nicht, was er, wenn man diesen Geschichtenträgern glauben will, noch Alles soll! – Aber in diesem mehr als fraglichen Liberalismus des Prinzen finden sie ein Feld, auf dem ihnen der Same der Zukunft reifen muß. Freilich wird es ohne Concessionen nicht abgehen, aber, Du lieber Gott, mit der Zange des Compromisses sind noch alle Fortschrittskinder zur Welt gebracht worden. Man schwelgt bereits in zarter Sehnsucht nach dieser herrlichen Verbindung, und fordert, Arm in Arm mit dem Liberalismus in usum Delphini, das Jahrhundert in die Schranken.

Und Paulus sollte zu dieser Felonie Ja und Amen sagen? rief Walter mit zornerglühter Wange, das ist unmöglich, absolut unmöglich!

Ich wollte, er sagte Ja, anstatt daß er Nein sagt, wie er es sagt, erwiederte Leo. Warum sagt er nicht Ja? Etwa weil er, wie ich, fest überzeugt ist, daß es mit der Freisinnigkeit des Prinzen blauer Dunst und die ganze heiß erstrebte Coalition ein todtgebornes Kind? Bewahre! Sein Gewissen verbietet es ihm! Sein Gewissen! Als ob die Politik ein Gemüsemarkt wäre, wo, wenn man auf einen Thaler aus Versehen zu viel herausbekommen hat, man die Differenz ehrlich zurückgiebt! Als ob in der Politik das Soll und Haben stimmen müßte, wie in ihren Hauptbüchern! Als ob die Vorfahren unserer Junker nicht wer weiß wie oft den Gefangenen und das Lösegeld dazu behalten hätten! Als ob jene Bursche jetzt ruhig dasitzen und champagnern könnten, wenn ihre Ahnen ebenso biedere Ideologen gewesen wären, wie Doctor Paulus und Gesinnungsgenossen.

Walter's Augen und Stirn hatten sich während Leo's Worten merklich verdunkelt. Dennoch hielt er an sich und sagte so ruhig, als er vermochte:

So viel ich sehen kann, ist der Umstand, daß die Väter nicht rechtmäßig zu ihren Freiheiten und Privilegien gekommen sind, der Grund, weshalb das Gut in ihren Händen so schlecht gediehen ist und die Söhne in die schiefe Lage gekommen sind, in der sie sich jetzt der Bildung und dem Fortschritt gegenüber befinden.

Ueber Leo's dunkles Gesicht zuckte ein finsteres Lächeln; ein bitteres, höhnendes Wort schwebte auf seinen feinen Lippen, aber er sprach es nicht aus. Die Gesellschaft am andern Tische war aufgebrochen und kam eben, lachend, säbelklappernd, an dem Platze, wo Leo und Walter saßen, vorüber. Niemand achtete auf die Beiden, mit Ausnahme des Mannes, der Walter vorhin so aufgefallen war. Er bemerkte, daß der Mann die glänzenden Augen mit einer Art Verwunderung auf Leo heftete und Leo den Blick ebenso erwiederte.

Wer mag das sein? fragte Leo, als die Gesellschaft sich entfernt hatte.

Ich weiß es nicht, erwiederte Walter, ich bin noch nie in diesem Local gewesen und wollte Dich schon immer fragen, wie in aller Welt Du gerade hierher kommst?

Gefällt Dir der Ort nicht? Mir sagt er zu. Ich finde, es ist eine Erquickung, wenn man sich den Tag über in unseren Alltagsstuben herumgedrückt hat, des Abends eine Stunde oder so in hohen, schönen Räumen zuzubringen.

Walter erstaunte weniger über diese Antwort, als über den Ton, in welchem Leo sie hinwarf.

Ich denke, es ist für uns ebenfalls Zeit, aufzubrechen, sagte er und rief den Kellner, der sich nicht sonderlich beeilte, dem Rufe Folge zu leisten.

Indeß kam der Fremde wieder in den Saal, setzte sich an denselben Tisch, an welchem er vorher mit seiner Gesellschaft gesessen hatte, und bestellte eine halbe Flasche Champagner.

Willst Du nicht mit? fragte Walter, als Leo keine Anstalt machte, ihm zu folgen.

Aufrichtig, ich möchte noch etwas bleiben.

Wohl, aber verzeihe, wenn ich Dich verlasse, ich habe morgen viel zu thun und muß früh anfangen.

Die Vettern sagten sich gute Nacht und reichten sich die Hände, aber nicht mit der Warme, wie sonst wohl. Walter war ernstlich böse auf Leo, und Leo's Gedanken waren augenscheinlich mit anderen Dingen oder Personen beschäftigt.


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