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Tusky saß, den Kopf in die Hand gestützt, an dem Tisch in der Nähe des Ofens und schaute unverwandt in die Gluth; die Weinbäuerin und ihre Schwester gingen, emsig schaffend, hin und her, so daß ihre Schatten bald unförmlich bis an die Decke ragten, bald sich scharf von der weißen Wand abhoben. Die alte Schwarzwälderuhr rief ihr monotones Ticktack; draußen um die Hütte heulte der nächtliche Sturm.
Leo sah und hörte das Alles, lange bevor es ihm gelang, sich zu erinnern, wie er in diese Umgebung gekommen war. Endlich richtete er sich auf dem Ellbogen in die Höhe. Tusky, der das Geräusch vernommen hatte, erhob sich und trat an das Bett.
Wie geht es Dir, Leo?
Die Frage brachte den Jüngling ganz wieder zu sich.
Was ist geschehen? Wie kommst Du hierher? rief er und stand im nächsten Augenblicke vor dem Bette. Er fühlte noch eine große Schwere in den Gliedern, aber er achtete nicht darauf. Seine Blicke hingen an Tusky's düsterem Gesicht. Er faßte eifrig des Freundes Hand.
Ich bin unschuldig, Tusky! Ich habe mich geeilt, so viel ich vermochte, der Abend brach so schnell herein und ich konnte nicht weiter. Was ist geschehen?
Ich will Dir Alles erzählen, erwiederte Tusky, aber nicht jetzt; ich habe keinen Augenblick zu verlieren; ich muß fort.
Ich gehe mit Dir.
Unmöglich!
Ich gehe mit Dir, wiederholte Leo noch heftiger; wohin es auch sei. Für mich giebt es hier keine Heimath mehr.
Tusky schien zu überlegen.
Es ist unmöglich, sagte er, Du hast die Kraft nicht. Sie werden mir bald genug auf der Spur sein. Es ist eine Jagd um Tod und Leben, und Du kannst Dich kaum auf den Beinen halten.
Ich kann Alles, was ich muß; und ich fühle mich vollkommen gestärkt.
Tusky legte ihm beide Hände auf die Schultern und sagte durch die Zähne:
Ich gönne Dich ihnen auch nicht.
Dann wendete er sich zu der Weinbäuerin.
Er will mit, ich dachte es mir wohl; schaff schnell noch etwas zu essen und zu trinken. Und Du, Käthe, geh' vor die Thür und hab' scharfe Wacht!
Käthe hatte rothgeweinte Augen, und sie wäre offenbar lieber in der Stube geblieben, aber sie ging ohne weiteres hinaus.
Das wird schlimm für die Käthe werden, sagte die Weinbäuerin, während sie Brod, Butter und Kirschbranntwein auf den Tisch stellte.
Tusky antwortete nicht; er nöthigte Leo, sich für die lange Wanderung durch die Winternacht, die ihnen bevorstand, zu stärken, während er selbst noch andere Eßvorräthe und Wäsche in einen schäbigen Ranzen packte, den die Bäuerin aus einem Winkel der Hütte hervorgekramt hatte.
Ich bin fertig, sagte Leo.
In diesem Augenblick riß Käthe die Thür auf und rief athemlos: Sie kommen! Ich habe sie deutlich gesehen, als der Mond auf die Gewehre schien.
Sie fiel Tusky schluchzend um den Hals. Dieser drückte die Weinende von sich und sagte mit rauher Stimme:
Laß das jetzt Käthe! Sei vernünftig! Du, nimm Dich der Käthe an! Suche die Soldaten aufzuhalten, und sieh', daß Du sie auf eine falsche Fährte bringst. Lebt wohl!
Er riß sich von Käthe los, und eilte mit Leo aus der Hütte.
Sie hatten keinen Augenblick zu verlieren, denn die Soldaten, welche von einem Bauer, der Tusky's Zufluchtsstätte kannte und verrathen hatte, geführt wurden, waren schon ganz nahe an der Hütte gewesen, bevor Käthe ihrer gewahr wurde.
Glücklicherweise kam das vielfach zerklüftete Terrain, das den Soldaten das unbemerkte Herannahen möglich gemacht hatte, auch den Flüchtigen zu Gute. Kaum aus der Hütte getreten, nahm sie ein Hohlweg auf, der sie nach kurzem beschwerlichen Steigen bis an den Wald führte.
Bis dahin hatten die Freunde kaum ein Wort gesprochen, ja sich kaum nach dem Thale umgeblickt, aus welchem noch immer zwei Feuerscheine heraufleuchteten. Nur ein paarmal hatte Tusky mit kurzen Worten nach seines Gefährten Befinden gefragt und immer ein »Gut, ganz gut!« zur Antwort bekommen. Jetzt mäßigte er seinen Schritt und sagte: Wir brauchen uns nicht mehr so abzumühen, Leo. Sie sind uns nicht gefolgt, und selbst wenn sie nach Tannenstädt gingen, so ist dies doch der beiweitem kürzeste Weg, und sie können uns nicht mehr überholen. Hinter Tannenstädt aber, im Gebirge, dürfen wir nun gar ihrer Verfolgung spotten.
Während sie in den Forst hineinschritten, über dessen schneebedeckte Bäume der jetzt aufgegangene Mond seltsame Lichter schweifen ließ, frug Leo nach den Ereignissen des Abends; aber Tusky gab nur spärliche Auskunft.
Ich will es Dir ein andermal erzählen, Leo, sagte er; heute ist mein Herz bis an den Rand von Scham und Wuth und Zorn angefüllt. Sie kamen, die Bluthunde, als wir das Schloß fast schon genommen; weiß der Teufel, wer uns verrathen. Ich gönne ihnen den Sieg nicht, wahrhaftig nicht; und doch muß ich sagen, daß wir ihn nicht verdient hätten. O, des Elends, des Elends! wenn das Messer, mit dem wir uns aus unserm Gefängniß herausarbeiten wollen, uns in der Hand zerbricht! Klirrend fällt es auf den Estrich, und wir sind ärmer und hoffnungsloser als zuvor.
Vielleicht war es ein Irrthum, fuhr er nach einer kleinen Weile fort, ein Thoren- und Narrenstreich; es kommt mir jetzt schon beinahe so vor; aber es mußte einmal geschehen, und ich bin gerade heute dreißig Jahre! Ein Menschenalter nennen sie es – ein Menschenalter! Und in der langen, langen Zeit nichts gethan für die Menschheit; nichts, als gehofft und gewünscht, und abermals gehofft und gewünscht; und, wenn es hoch kam, die Hände in der Tasche geballt! Mir preßte es das Herz ab, ich wäre erstickt; Blut mußte ich sehen, und wäre es mein eigenes gewesen. Ich habe mich nicht geschont; aber in die Hände dieser Henker zu fallen, mein Leben hinter Kerkermauern und Eisengittern hinzuknirschen – vor dieser Aussicht bin ich geflohen und fliehe ich.
Wohin, Konrad?
In die weite Welt, unsre Heimath. Treffen wir doch überall: auf allen Landstraßen, in den schmutzigen Winkeln jeder Stadt unsere Vettern und Freunde, die Armen und die Elenden. Wohin? Was kümmert uns das? Und doch vorläufig nach Tannenstädt; ich habe dort von Jemandem Abschied zu nehmen.
Er hatte die letzten Worte in einem sehr bewegten Tone gesagt; ja, es war Leo, als ob der eiserne Mann mit Thränen kämpfte. Er fragte nicht, wem dieser Abschied gelte; er wußte es durch Eve.
So schritten sie immer hügelauf durch den Wald. Leo fühlte keine Müdigkeit, keine Schwäche, wie sie ihm heute Abend die Wanderung zur Höllenpein gemacht hatten. Schlaf, Speise und Trank hatten seine jungen Kräfte wieder hergestellt, und das Abenteuerliche dieser nächtlichen Flucht übte den vollen Zauber auf seine lebhafte Phantasie. Der Weg, den sie gingen, war verhältnißmäßig wenig mit Schnee bedeckt; nur an einzelnen Stellen lag er unbequem tief. Sie konnten im Ganzen mühelos rüstig ausschreiten. Der beinahe volle Mond stand hoch am Himmel; der funkelnde Aldebaran, der Stern der Zigeuner, ganz in der Nähe; dann wieder in weiter Entfernung aus den dunkleren Regionen andere schimmernde Lichter. Die Eiszapfen, die von den Zweigen hingen, glitzerten in dem magischen Schein, und die schneebedeckten Aeste streckten und dehnten sich in gespenstische Formen. Der Wind hatte nachgelassen, es war sehr still, so still, daß der heisere Schrei eines nächtlichen Raubvogels tief aus dem Forste wie eine ärgerliche Menschenstimme klang, und kein Stöhnen, kein Knarren der Bäume dem aufmerksamen Ohre entging. Manchmal war es, als ob es neben dem Wege her durch die Büsche schleiche, als ob es an der Ecke hinter den Stämmen auf der Lauer stehe – und Leo's Blick richtete sich ängstlich auf den schweigsamen Gefährten. Tusky aber schüttelte nur das Haupt, wenn Leo seine Aufmerksamkeit auf dieses Geräusch, auf jenen Schatten lenkte. Wir haben einen zu großen Vorsprung, sagte er.
Immer weiter hügelauf, durch dichten Wald, über öde Halden, vorbei an tiefen Schluchten, die sich im Laufe der Jahrtausende die Bergwasser gegraben hatten, auf beschwerlichen Forstwegen bald, und bald auf glatter Chaussee, dann wieder ohne Weg und Steg durch den dichten Forst, ohne daß der merkwürdige Mann auch nur ein einzigesmal über die einzuschlagende Richtung gezögert oder geschwankt hätte.
So in die weite Welt hinein! An der Seite des Mannes, den er von allen Menschen, die er kannte, am meisten schätzte und liebte, dessen Kraft, Klugheit, Muth er unbedingt vertraute – wie anders war das, als vorhin, wo er im einsamen Revier sich den Tod gewünscht hatte, weil er sich von Allen verlassen wähnte!
In die weite Welt!
Aber zuerst hinab in das enge Tannenstädt, das plötzlich zu ihren Füßen lag.
Bald war das Dorf und war das Haus erreicht, in welchem Leo im vergangenen Herbst einmal einen Besuch abgestattet hatte. Tusky bat Leo, draußen ein wenig zu warten; dann trat er in das Haus, in welchem Alles dunkel und still war. Leo faltete unwillkürlich die Hände; er wußte, daß in diesem Augenblicke ein Sohn von seiner todten Mutter Abschied nahm. Für ein paar Minuten hatte Licht durch die Ritzen des geschlossenen Fensterladens geschimmert, dann erlosch das Licht und Tusky trat wieder aus der Hütte. Der Mond schien ihm gerade in's Gesicht, als er aus der Thür kam. Sein Gesicht erschien todtenbleich in dem bleichen Licht, und Leo war es, als wenn die sonst so kalten, grauen Augen von Thränen schimmerten.
Sie gingen die stille Dorfstraße hinab. Vor einem der Häuschen blieb Tusky abermals stehen und klopfte dreimal in eigenthümlicher Weise an die Fensterladen. Der that sich alsbald von Innen auf, und ein rußiges Gesicht, über dem eine schmutzige Zipfelmütze nickte, schaute heraus.
Tusky und der Mann flüsterten eine Zeitlang mit einander; auch hörte Leo, der in der Entfernung stehen geblieben war, Geld klingen, das, wie es schien, von Tusky in die harte Hand des Nagelschmieds gezählt wurde.
Der Kopf mit der Mütze verschwand; Tusky drückte den Laden an und wendete sich zu Leo.
Kannst Du noch weiter, ohne Dich auszuruhen? fragte er; wo nicht, so sag' es; wir können, wenn es sein muß, hier eine Stunde rasten.
Ich fühle mich vollkommen frisch.
Dann komm!
Und wieder stiegen sie bergauf; jetzt aber steiler, mühsamer. Bald lagen die Hügel, über die sie bis dahin gegangen waren, wie die Stufen einer Treppe unter ihnen. Auf einem einsamen Felsen, der trotzig aus der Berglehne hervorsprang, machten sie für einen Augenblick Halt. Der Wind, der das Herannahen des Morgens verkündete, wehte aus der Niederung herauf und kühlte die heißen Wangen der Wanderer. Der Mond hing wie eine ungeheure Feuerkugel über dem Horizont, und zahlreicher als während der Nacht leuchteten und blitzten die Sterne. Nach Norden aber, in dem Thal, dämmerte von der Erde auf ein matter Schein, der von einem erlöschenden Brande herrühren mochte.
Tusky's Blicke hingen an dieser Stelle.
Es erlischt, wie meine Hoffnung, murmelte er. Es sollte eine Flamme werden, darein ich alle Vorurtheile werfen wollte, durch welche sich die Menschen gängeln lassen, alle Vorrechte, alle Unbill und allen Wahn. Es sollte ein großes Freudenfeuer werden für die Armen, für die Unterdrückten, ob sich auch die Reichen und Ueppigen daran ärgern möchten. Es ist nicht geworden, was es sollte; ist ein elend Feuer geblieben, das einige Ställe und Scheunen verzehrt und sonst die Welt gelassen hat, wie sie war.
Er lachte bitter; dann aber kochte der Zorn mächtig in ihm auf, und die geballte Faust ausstreckend, rief er mit lauter Stimme: Ihr habt mich ausgestoßen für immer! So lange ich lebe, wird mein Fuß eines Flüchtlings, eines Vertriebenen Fuß sein; nimmer und nimmer werde ich mir eine Hütte bauen! Das Mädchen, das mich liebt, habe ich zum letztenmale in den Armen gehalten; der Mutter, die mich gebar, habe ich die Augen zugedrückt; Euer Fluch liegt auf mir, und so seid auch Ihr von mir verflucht! Verflucht seid Ihr, Ihr Reichen, die Ihr die Armen und die Kranken mehr verabscheut, als Kröten und Molche; verflucht seid Ihr, Ihr Mächtigen, die Ihr in der Wollust der Herrschaft schwelgt; verflucht zuletzt Ihr Schmeichler des Reichthums, Ihr Diener und Schergen der Gewalt! Eure Hand ist erhoben wider mich, und so ist meine Hand wider Euch. Ihr oder ich!
Er ließ den erhobenen Arm sinken, daß er schwer gegen die starke Hüfte fiel, und wendete sich von der Stelle weg gegen den Wald, eiligen Schrittes. Mit klopfendem Herzen folgte Leo.