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Warum siehst Du mich immer so prüfend an? fragte Leo, als sie sich am Theetisch gegenübersaßen; man sollte glauben, Du hättest meinen Paß zu visiren und verglichest mit dem Argwohn der heiligen Hermandad, ob auch Alles mit dem Signalement stimme.
Ich vergleiche Dich auch, erwiederte Walter lachend, vergleiche den Mann vor mir mit dem Jüngling-Knaben meiner Erinnerung; vergleiche Dich, wie ich Dich hier sehe, mit Dir, wie ich Dich vor wenigen Minuten mit meines Geistes Auge sah – und das ist nicht so schnell geschehen.
Habe ich mich denn so sehr verändert? – danke, ich nehme keinen Arrak zum Thee.
Ja und nein! Das heißt, die Veränderung hat sich so ganz im Sinne Deines Wesens vollzogen; ist, ich möchte sagen, so logisch, daß man erst nach und nach dahinterkommt, wie groß sie in Wirklichkeit ist.
In der That! Ich kann Dir das Compliment, wenn es anders eins ist, nicht zurückgeben. Du hast Dich sehr verändert – und scheinbar gar nicht logisch, wie Du es nennst. Aber Du kannst damit zufrieden sein. Der Vortheil ist ganz auf Deiner Seite. Du warst in Deiner Jugend ein ziemlich gewöhnliches Menschenkind, nicht hübsch und nicht häßlich, nicht groß und nicht klein, keineswegs auf den Kopf gefallen, aber auch nicht ungewöhnlich gescheidt. Du versprachst dermaleinst einen gewissenhaften Beamten, einen loyalen Unterthanen und vor Allem einen musterhaften Familienvater abzugeben. Jetzt sehe ich wohl, daß meine Diagnose falsch gewesen ist. Deine Augen blicken noch immer sehr gewissenhaft, aber keineswegs beamtlich; Deine Stirne sieht gar nicht mehr loyal, der schöne Schnurrbart, den Du über Deinen Mund gezogen, gar nicht unterthänig aus, und in Allem bist Du ein so hübscher Kerl geworden, daß Dir die Weiber, fürchte ich, das musterhafte Familienvatersein einigermaßen erschweren werden.
Walter lachte von ganzem Herzen. Der scherzhafte Ton war ihm bei Leo neu. So mußte doch der finstere Dämon, der früher des Knaben Seele gänzlich beherrscht hatte, freundlicheren Genien gewichen sein. Er sagte das auch, und Leo erwiederte:
Wir Deutschen sind doch das sonderbarste Volk von der Welt, von denen wenigstens, die ich gesehen habe. Ich glaube, nur in Deutschland kann es vorkommen, daß zwei Jugendfreunde nach jahrelanger Trennung sich wiederfinden, und bevor sie noch gefragt haben: Wie geht's? erst einmal über ihren beiderseitigen philosophischen Standpunkt in's Reine zu kommen suchen. Wir sind eben unverbesserliche Idealisten, und dann wundern wir uns noch darüber, daß wir es in der realen Welt zu nichts bringen.
Du hast Recht, sagte Walter, aber ich weiß wirklich vor Freude nicht ganz genau, wo mir der Kopf steht. Kann ich mich doch noch immer nicht von dem Erstaunen erholen, Dich hier leibhaftig auf meinem Sopha sitzen zu sehen. Bist Du uns doch wie ein Geist entschwunden, und haben wir doch alle diese Jahre hindurch mit Dir nur, wie mit einem abgeschiedenen Geiste verkehren können! Uns nicht ein Wort zu senden! Nicht ein Lebenszeichen! Das war grausam, Leo! Jetzt sollst Du nachholen, was Du versäumt hast; jetzt sollst Du Alles der Wahrheit gemäß berichten, welcher Menschen Geist und Sinn Du erkundet, welche Leiden zu Wasser und zu Lande Du erduldet hast in Deiner lieben Seele. Aber vorerst wollen wir einmal die Theesachen beseitigen und uns dafür diesen edlen Wein credenzen, den mir der Freiherr auf die Kunde, daß Du heute Abend kämest, vor ein paar Stunden in's Haus gesendet hat.
Mit diesen Worten langte Walter aus einem Körbchen, das neben dem Sopha gestanden hatte, eine Flasche.
Ah! das ist der Rüdesheimer mit dem gelben Siegel, rief er lustig, indem er die Flasche entkorkte und mit dem goldigen Weine die Gläser füllte; den kann ich Dir empfehlen. Stoß' an, Leo; es lebe –
Die Freiheit! sagte Leo.
Von ganzem Herzen, erwiederte Walter; ich wollte eigentlich sagen: die Freundschaft und die Liebe, aber a Jove principium! Ehre, dem Ehre gebührt! Was wäre Freundschaft und Liebe ohne Freiheit – ein Helotenbacchanal – ein Tanz von Sklaven auf dem Deck des Sklavenschiffes! Es lebe die Freiheit!
Und er leerte mit einem Zuge sein Glas und füllte es von neuem.
Die Aufmerksamkeit des Freiherrn beweist, daß Ihr noch immer auf dem alten guten Fuße steht, begann Leo, der eben nur an dem Weine genippt hatte; und das nimmt mich einigermaßen Wunder. Du bist, nach Allem, was ich von Dir gehört habe und jetzt von Dir selbst höre, ein Ritter vom Geist, und der Ritter von Gottes Gnaden – will sagen der Freiherr – war in seinen besten Tagen ein irrlichterirender Romantiker und muß nach menschlicher Berechnung jetzt mit beiden Füßen in dem Sumpf der Reaction stecken.
Da irrst Du sehr, mein weiser Merlin, erwiederte Walter; der Freiherr ist ein Mensch, wie wir Alle, das heißt: er ist dem Irrthum unterworfen; aber er ist ein viel zu edler Mensch, um sich jemals so weit verirren zu können. Bedenke, Leo, diese Aufmerksamkeit gilt nicht sowohl mir, als Dir – Dir, seinem Schützling von früherher, an dem er damals das regste Interesse nahm und später zu nehmen nicht aufgehört hat, trotzdem er wahrlich wenig Ursache hatte, Deiner mit Freundlichkeit zu gedenken. Seid Ihr nicht als Feinde geschieden? mit den Waffen in der Hand? Und, Leo, ich will nicht untersuchen, auf wessen Seite damals das Unrecht war; ob auf der Seite des Mannes, der sein väterliches Erbe, das Haus, das sein Kind einschloß, mannhaft vertheidigte, oder auf der Seite des Knaben, der die Hand gegen seinen Wohlthäter aufhob. Aber laß das Vergangene vergangen sein! Die Fluthen der Revolution sind darüber hingerauscht und haben Euch, und vor Allem Dich, der Du noch so jung warest, gewissermaßen entsühnt. Ihr habt am Ende nur gethan, was kaum ein Vierteljahr später allerorten geschah. So sieht der Freiherr auch die Sache an; aber daß er, gerade er, sie so ansieht, sei Dir ein Beweis seines Edelmuthes, seines geraden und gerechten Sinnes. Ja, ich kann noch mehr sagen. Der Freiherr hat die Revolution mit freudiger Seele begrüßt; er ist, wie Du weißt, auf der Stelle hierher übergesiedelt, der Bühne der Ereignisse nahe zu sein, und, wenn der Ruf dazu an ihn erginge, eine thätige Rolle in dem großen Drama zu übernehmen. Ich habe ihn in jenen großen Tagen mit der Begeisterung eines Jünglings die Sache des Volkes vertheidigen hören.
Walter's Stimme bebte, während er so sprach, und so zitterte auch die Hand, mit der er sein Glas an den Mund führte. Um Leo's Lippen spielte ein feines, blitzschnell verschwindendes Lächeln.
Und später? fragte er.
Später, fuhr Walter fort, hat sich allerdings seine Begeisterung sehr bald abgekühlt. Er hörte auf, die Prinzessin liebenswerth zu finden, als ihr bei jedem Wort eine Kröte aus dem Munde sprang. Nicht daß er, der vorher Hosiannah gerufen, nun kreuziget! kreuziget! geschrieen hätte; aber er konnte sich in die neuen, formlosen Formen nicht finden; er hatte nicht die Geduld, die Spreu von dem Weizen zu sondern; verstand nicht die Kunst, den Sinn herauszuhören, während der Unsinn seine Fanfaren von der Plattform seiner Bude schmetterte: und er zog sich – nicht voll Haß, aber doch enttäuscht, ich möchte sagen verwirrt, fassungslos von dem lauten Markte zurück.
Und jetzt? fragte Leo.
Jetzt beklagt er das Unheil, das über uns gekommen ist; fühlt er drückend, wie wir Anderen auch, den Alp der Reaction, der uns die Brust zusammenpreßt; fühlt ihn um so drückender, als die Reaction gerade die Form angenommen hat, die ihm die verhaßteste ist, die Form der polizeilichen Willkür, der büreaukratischen Satrapenwirthschaft. Hat er es doch erleben müssen, daß der Mann, in welchem er stets das verabscheute System verkörpert sah, der Landrath von Hey, jetzt allmächtiger Minister ist.
Und er ist nie wieder nach Tuchheim zurückgekehrt?
Wenigstens immer nur auf kurze Zeit, und ich kann's ihm auch nicht verdenken, wenn er sich dort nicht mehr wohl fühlt. Er kann jene Nacht nicht vergessen, die der guten alten Zeit, wie er sie verstand, zu Grabe geleuchtet hat. Er glaubte, geliebt zu sein von seinen Untergebenen; er wurde eines Andern belehrt. So mag die neue Zeit ihren Einzug in meine Heimathsberge halten, sprach er; und die neue Zeit ist denn auch gekommen in Gestalt von Schneidemühlen und Eisenhämmern und Maschinenfabriken. Daß sich Gott erbarme! Ich habe unsere alte Waldherrlichkeit nicht wiedergefunden, als ich zum letztenmale im vorigen Sommer den Vater besuchte. Das klappert und hämmert und dampft und raucht vom Morgen bis zum Abend, und selbst in der Nacht schlägt das Feuer mannshoch aus den riesigen Schloten und verscheucht die zarten Geister, die im Mondscheine auf den Wiesen weben.
Waldgeister sind gewiß sehr poetisch, aber stehen nicht in dem Rufe, viel einzubringen. Schneidemühlen und Maschinenfabriken sind rentabler; ich hätte nie geglaubt, daß der Freiherr ein Mann sei, der die Zeichen der Zeit so gut verstände.
Er hat auch hier, wie überall, das Beste der Anderen viel mehr im Auge, als seinen eigenen Vortheil, erwiederte Walter lebhaft. Sonnenstein bewies ihm, daß die Anlegung dieser Werke eine wahre Wohlthat für die ganze Gegend, besonders für die armen Dörfer weiter hinauf in den Wald sein würde. Ohne das wäre der Freiherr niemals auf den Vorschlag des Finanzmannes eingegangen, denn kein Mensch auf der Welt ist weniger als er ein Plusmacher. Ich glaube, daß er kaum weiß, wie viel ihm die Werke jährlich abwerfen, ich höre ihn nur immer fragen: Wie viel Menschen man beschäftige und ob man wohl noch mehr beschäftigen könne? Manchmal fürchte ich fast, er traut den Rechenmenschen zu sehr, und irgend ein Rückschlag der gewagten Speculationen, denen die Firma Sonnenstein und Sohn ihr kolossales Vermögen verdankt, könne auch ihn treffen.
Und Sohn? fragte Leo; hat denn der Patriarch auch einen Sohn? Mir däucht, ich hätte nur immer von einer Tochter gehört?
Eine Tochter und einen Sohn, sagte Walter: ach! und was für einen! Einen kostbaren Sohn, insofern wenigstens, als er, glaube ich, dem Vater ein enormes Geld kostet. Aber wenn es sich der Alte etwas kosten läßt, so hat er auch was dafür. Es ist keine Kleinigkeit, einen Jungen zu besitzen, der nur mit Grafen, Baronen, Garde-Lieutenants und Gesandtschafts-Attachés umgeht, der die besten Pferde reitet, die feinsten petits soupers giebt und in dem Rufe steht, in der beau monde und demi-monde die greulichsten Verwüstungen anzurichten. Es ist wahrlich keine Kleinigkeit.
Du willst die Schwester dieses semitischen Lovelace heirathen?
Ich? Weshalb?
Weil Du so verzweifelt witzig über den Bruder bist.
Walter lehnte sich in seinen Stuhl zurück und lachte wie ein übermüthiger Schulknabe.
Und doch, rief er, ist dieser Ausbund von Liebenswürdigkeiten, dieser Neuntödter, dieser Blaubart nur eine Copie; und kannst Du denken von wem? – Von unserm, zum wenigsten doch meinem guten Kameraden aus der seligen Schulzeit – von Henri.
Die junge Natter zischte damals schon ganz erträglich gut, meinte Leo; aber Du hast dem Burschen stets das Wort geredet. Du behauptetest, wie alle Welt, er habe bei allen seinen Schwächen Gott weiß welche liebenswürdigen Eigenschaften.
Und die hatte er auch! rief Walter eifrig; er war ein aufgeweckter, gewandter, witziger Bursch, der kein Spiel verdarb und überall, wohin er seinen Lockenkopf und seine schelmischen Augen brachte, Lust und Leben trug. Nun, aufgeweckt, gewandt und witzig ist der Herr Assessor freilich auch, aber bei alledem verbreitet er keine Heiterkeit mehr um sich her, wenigstens nicht in dem Kreise seiner Familie. In der Politik ist er natürlich royalistischer als der König. Sein einzig Verdienst in diesem Punkte ist, daß er von Anfang an consequent gewesen ist. Er hat sich selbst während der Revolution über die Strohfeuer-Begeisterung, wie er es nannte, moquirt und den Katzenjammer, der folgen würde, mit einer Sicherheit vorausgesagt, die leider die Folgezeit nur zu sehr gerechtfertigt hat. Uebrigens ist er ein ausgezeichneter Jurist, und man prophezeit ihm allgemein eine glänzende Carrière.
Was sagt denn der Freiherr zu dem Allen?
Walter schüttelte den Kopf.
Der arme Herr! sagte er; es ist vielleicht das schwerste Unglück seines Lebens, daß er in seinem einzigen Sohn einen Fremden sieht, mit dem er kaum einen Gedanken, ein Gefühl gemein hat. – Auf jeden Fall ist dies Verhältniß zwischen Vater und Sohn das Skelet, das, nach dem Ausspruche des satirischen englischen Dichters, in jedem Hause irgendwo in einem verborgenen Winkel steht.
Du verkehrst viel in der Familie?
Nein; das heißt, ich komme so alle acht Tage einmal, wenn sie ihren öffentlichen Abend haben – manchmal allerdings auch außer der Zeit – aber meistens nur so im Vorübergehen – wir wohnen ziemlich weit auseinander – beinahe eine Viertelstunde –
Das ist keine große Entfernung für eine große Stadt.
Nein, es ist aber immer ein Hinderniß – und dann habe ich ja auch viel zu thun, weißt Du – indessen, wenn ich es recht überlege, bin ich doch ziemlich häufig dort.
Auf Walter's offenem Gesicht lag eine leichte Verlegenheit, während er so sprach. Auch hatte er die Augen niedergeschlagen, und als er jetzt die Wimpern hob, lag in dem Blick, mit dem er Leo ansah, ein eigenthümlicher, halb fragender und halb bittender Ausdruck. Leo lächelte. Walter wurde roth und lächelte ebenfalls.
Warum lachst Du? fragte er.
Warum lachten die römischen Auguren, wenn sie einander in's Gesicht sahen?
Weil sie wußten, daß sie einander nichts weismachen könnten.
Vielleicht lachen wir eben Beide aus einem ähnlichen Grunde. Trink aus, Walter! Ich sehe, Du bedarfst des Weines, den Rest der Schüchternheit, die Dir noch aus den Tagen Deiner holden Jugend anklebt, zu besiegen. Was scheust Du Dich, mir zu sagen, daß Du Amélie liebst?
Ja, ich liebe sie! rief Walter, indem er aufsprang und lebhaft gesticulirend im Zimmer auf und ab zu gehen begann; ich liebe sie, aber woher weißt Du es?
Denkst Du, erwiederte Leo, sich in die Sophaecke zurücklehnend, des schönen Sommerabends, als wir uns in dem Hohlwege, der nach Tannenstädt hinaufführt, begegneten und Du mir unter der großen Buche das Gedicht vorlasest, in welchem Du den Reim Façade auf Serenade zweimal angebracht hattest und von einem gewissen Paar brauner Augen nicht genug Rühmens machen konntest? Ich befand mich damals gerade in dem ersten Stadium politischer Glühhitze und hatte wenig Sympathie für Dein Liebesfeuer, aber soviel sah ich denn doch, daß Du in der Narrheit Orden getreten warst; ich wußte auch, welcher Dame Handschuh Du an den Helm gesteckt hattest, und daß Du der treueste der treuen Ritter sein würdest.
Ja, beim großen Gott der Liebe, rief Walter, ich bin ihr treu gewesen mit jedem Schlag meines Herzens, mit jedem Gedanken meiner Seele. Ich schaudere, wenn ich denke, was ich ohne diese Liebe wäre; oder vielmehr, ich kann dies gar nicht denken. In die erste Dämmerung meines Bewußtseins leuchten mir ihre Augen wie zwei glänzende Sterne, und haben mir seitdem geleuchtet Tag und Nacht. Oft, wenn ich es am wenigsten vermuthete – in der Wüstheit einer Studentenkneiperei, in dem Morgengrauen durch die Fenster einer Wachtstube, in den schrägen Nachmittags-Sonnenstrahlen eines schläfrigen Hörsaales, in der schwülen Luft eines Examinations-Zimmers – sah ich plötzlich die lieben, lieben Augen, und ich wußte, was ich sollte, was ich wollte. Ich habe mich oft gefragt, wie dies möglich sei, wie ein Menschenkind eine solche Gewalt über uns ausüben könne, daß wir im eigentlichsten Sinne ihm gehören. Aber, Leo, was würde dies Wesen sein, was könnte es uns gelten, wenn es nicht die Verkörperung des Schönen und Guten wäre, wenn wir in ihm nicht die Idee anbeteten, die eben in ihm zur Erscheinung kommt!
Also, was man in der Aesthetik ein Ideal nennt, sagte Leo, nur daß die unhöfliche Wissenschaft lehrt, daß diese verkörperte Idee, dies Ideal nur ein Kunstwerk, nimmermehr aber ein Mensch sein könne, der im Gedränge der Wirklichkeit steht und somit an allen Mängeln der Endlichkeit Theil hat, woraus denn hervorgeht, daß ein lebendiger Mensch nicht im höchsten Sinne schön sein kann, und das wirklich schöne Kunstwerk leider immer todt ist.
Walter war stehen geblieben und hatte aufmerksam, aber offenbar voller Ungeduld zugehört.
Ja, ja, rief er jetzt, das ist richtig, gewiß richtig; es fällt mir nicht ein, etwas, das so klar ist, anzuzweifeln; aber, Leo, das Leben ist mächtiger als die Wissenschaft. Ich weiß, daß die Erde sich um die Sonne, und nicht umgekehrt die Sonne sich um die Erde dreht; wir Alle wissen es und werden deshalb doch in alle Ewigkeit nicht aufhören, von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu sprechen. So ist es mit der Liebe. Wir machen die Geliebte zum Centrum des Daseins, um das sich Sonne, Mond und alle Sterne drehen, nicht, weil wir naiv genug sind, in treuem Ernste an diese Weltordnung zu glauben, sondern weil wir fühlen, daß wir in dem Wirbel der sich drängenden Erscheinungen eines Mittelpunktes bedürfen, auf den wir Alles, es sei, was es sei, zurückbeziehen, und daß, wenn ein solcher Mittelpunkt nicht vorhanden wäre, wir uns ihn schaffen müßten.
Aber weshalb zu diesem Mittelpunkt nicht lieber eine unsterbliche Idee, als einen sterblichen Menschen nehmen? fragte Leo.
Weil, erwiederte Walter, keine Idee die Wärme der geliebten Hand, die in unserer Hand ruht, ersetzen kann, und nicht den süßen Klang der geliebten Stimme, und nicht das holde Licht der geliebten Augen; weil das Wort, das über den Wolken schwebt, erst dann vernehmlich zu uns spricht, wenn es Fleisch geworden. Ach, Leo, was soll ich sagen, was unsäglich; was soll ich Dich lehren, was Du nicht minder gut weißt als ich! Ja, Leo, gestehe es nur, auch Du liebst; auch Du kennst ein Weib, in dessen Liebe Du die Vollendung Deines Wesens siehst. Komm, laß uns trinken auf ihr Wohl! Sprich mir von ihr, erzähle mir von ihr! Ich bin in einer Stimmung, Alles gestehen und Alles hören zu können; ich bin so zu sagen in einer allwissenden Stimmung.
Dann solltest Du auch wissen, daß ich nach dieser Seite hin nichts mitzutheilen habe, erwiederte Leo lächelnd. Aber wir sind mit Dir noch nicht ganz fertig. Es scheint mir, daß der Weg zu Deinem Ziel nicht ganz so frei ist, wie es wohl in Deinem Interesse wünschenswerth wäre.
Daran habe ich noch gar nicht gedacht, sagte Walter.
Hm! Das klingt fast wie Leichtsinn – aber vielleicht ist diese holde Gedankenlosigkeit gerade das Geheimniß Deines Glückes, an das Du gar nicht rühren darfst, wenn Dir der funkelnde Schatz nicht zehntausend Klafter tief versinken soll. Du machst ein bedenkliches Gesicht. Das Thema ist Dir peinlich. Laß uns von was Anderem sprechen.
Nein, nein, sagte Walter eifrig; ich bitte Dich, sag' mir, was Du meinst. Du meinst, ein Gymnasiallehrer mit sechshundert Thalern Gehalt, der noch dazu Novellen schreibt, die Niemand liest, ist gerade keine besondere Partie für die einzige Tochter eines reichen Edelmannes?
Genau das meine ich, erwiederte Leo; aber freilich, Du warst ja immer der Liebling des alten Herrn. Vielleicht hat er mittlerweile vergessen, daß Du der Sohn seines Försters bist; vielleicht antwortet er, wenn Du zu ihm kommst und um die Hand seiner Tochter bittest, mit wohlwollendem Lächeln, wie der gutmüthige Onkel in der Comödie: Da habt ihr euch, Kinder! Seid glücklich!
Du bist grausam, sagte Walter; Du weißt recht gut, daß er das nicht antworten wird; daß er – o mein Gott! Ich habe mir das wahrlich nie so überlegt; ich habe, sozusagen, immer die Augen zugemacht, sobald ich an diesen Punkt kam. Aber Du hast Recht, es ist ein Abgrund, tief genug, um all' mein Glück zu verschlingen – all' mein Glück! – all' mein Glück!
Und Walter lief in dem Zimmer umher und gesticulirte mit den Händen.
Was sagt denn Deine Schwester dazu? fragte Leo.
Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen; ich weiß nicht, ich habe in diesem Punkt kein Herz zu Silvia; sie denkt über die Liebe so ganz anders wie ich, oder vielmehr, ich glaube, sie denkt nur eben über die Liebe und hat nie geliebt.
Wie hat sie sich denn entwickelt, Deine Schwester? Sie ist groß und schlank, nicht?
Hier ist sie, so ähnlich wie ein Bild einem lebendigen Menschen sein kann, sagte Walter, indem er aus einer Mappe eine sehr schöne Bleistiftzeichnung nahm und sie vor Leo hinlegte. Es ist ein Meisterstück Amélie's, der Wirklichkeit mit dem feinsten Verständniß abgelauscht. Hier dieser Zug um den Mund, dieser Trotz um die Unterlippe, und die Melancholie in den großen Augen – das ist prachtvoll. Findest Du nicht?
Leo antwortete nicht; er blickte, die Stirn in die Hand gestützt, lange auf die Zeichnung; endlich legte er das Blatt auf den Tisch und lehnte sich in die Sophaecke zurück.
Walter hatte sich wieder an den Tisch gesetzt. Er schlürfte langsam seinen Wein und sagte:
Sie ist eine eigene, eigene Natur, meine Schwester; und so verschieden Ihr auch sein mögt, sie hat mich oft an Dich erinnert. Ja, wenn ich Dich recht betrachte, so habt Ihr selbst im Ausdruck eine gewisse Aehnlichkeit. Von ihrer Stirn leuchten, wie von Deiner, die Spuren origineller Gedanken; auch aus ihren Augen blickt, wie aus Deinen, eine Welt; aber schmerzlich, wie um Deinen Mund, zuckt es auch um ihre Lippen; und glücklich, Ihr armen Seelen, glücklich und zufrieden seid Ihr wohl Beide nie gewesen.
Glück und Zufriedenheit, sagte Leo, das sind curae posteriores, wie wir Aerzte sagen, Dinge, nach denen man so wenig fragen darf, wie in der christlichen Moral nach Essen und Trinken und Kleidung.
Und ohne die wir doch nicht leben, zum wenigsten nicht vollkräftig leben können, rief Walter. Ach, es ist gewiß ein wahres Wort, daß Freudigkeit die Mutter aller Tugenden ist. Wie können wir Wohlwollen gegen andere Menschen empfinden, wenn uns selbst nicht wohl ist? Wie können wir Kraft für Andere haben, wenn wir unsere Kraft verbrauchen in dem Kampf und Hader mit dem Geschick, das wir rauh und mürrisch nennen, um uns nicht selbst unfreundlich schelten zu müssen?
Du guter Junge, sagte Leo, Du denkst, weil in Deinem Herzen die Blumen duften und die Nachtigallen schlagen, müsse es in allen Herzen Frühling sein. Nein, lieber Walter, in meiner Brust ist kein Frühling und keine Frühlingsluft. Ein Stern ist's, der einsam in der kühlen Winternacht meines Daseins leuchtet, der immer vor mir her leuchtet und dem ich folge unermüdet, oft auf sehr rauhen, sehr beschwerlichen Bahnen! Aber um das zu können, um der Freiheit zu dienen aus allen Kräften, muß ich selbst frei sein. Ich muß mich, wenn es sein muß, in den Tod stürzen können, wie der Sturmvogel in die Fluth, und darf keine andere Heimath haben als des Lebens schaukelnde Wellen. Baut ihr euch euer warmes Nest am sichern Felsenstrand, aber laßt mir den Ocean, der mir vorläufig genügen muß, obgleich auch er irgendwo seine Grenzen hat.
Leo hatte die letzten Worte mit plötzlich abfallender Stimme, wie mit sich selbst, gesprochen. Walter starrte nachdenklich in sein Glas, dann sagte er:
Du bist eine heroische Natur, Leo, wie ich glaube, daß Silvia in ihrer Art eine heroische Natur ist. Ja, ich will Dir gestehen, ich hatte Dich, kurz bevor Du kamst, noch so recht lebhaft in diesem blendenden Lichte gesehen und war Dir deshalb doppelt dankbar, und hieß Dich mit doppelt frohem Herzen willkommen, weil ich zu bemerken glaubte, daß Du jetzt einer freundlicheren Lebensanschauung huldigtest. Nun aber sehe ich wohl: Du bist, was Du warst und warum soll ich es nicht aussprechen: das erfüllt mich mit schwerer Sorge. Glaube mir, Leo, ich bin kein Philister; ich habe ein Herz, das höher schlägt, sobald in der Geschichte einer der Helden die mühevolle steile Bahn zur Unsterblichkeit an mir vorüber wandelt. Aber, wenn nicht alle Zeichen trügen, so ist die Zeit des Heroenthums vorüber – vorüber die Zeit, wo die Helden auf ihren Streitwagen das Blachfeld durchdonnerten und die kopf- und herzlose Heerde schreiend, thatenlos hinterdrein zog. Wohl mag es der groß angelegten Natur schwer werden, sich zu beugen unter das allgemeine Gesetz, schwer, von dem Irrthum zurückzukommen, daß sie allein schon ein Ganzes sei. Und doch ist es ein Irrthum. Das Feldgeschrei heißt jetzt nicht mehr: Einer für Alle, sondern: Alle für Alle. Das ist der große demokratische Gedanke, der freilich schon mit der Menschheit geboren wurde, aber doch erst mit dem Christenthum die rechte Weihe empfing, der dann scheinbar wieder verloren ging, bis er in unseren Tagen aus der Asche des Mittelalters, wie ein Phönix verjüngt, sich erhoben hat, um nun nie und nie wieder verloren zu gehen. Wie könnte verloren gehen, was in so vielen Köpfen und Herzen lebt, was so viele Kinder schon mit der Muttermilch einsaugen! Glaube mir, Leo, wie das Wort der Liebe für die Menschheit gesprochen ist, die mühselige und beladene, so soll auch der einzelne Mensch unter diesem milden Gesetz von seiner Mühsal, seiner Last befreit werden. Keiner soll jetzt mehr tragen, als er tragen kann; kein Heiland unter der Kreuzeslast zusammenbrechen, kein Decius Mus den Speer weit hinein in die Feinde schleudern, und so, indem er seinem kühnen Ziele nachjagt, den Heldentod finden. Nein, nein, Leo, und abermals nein! Wir wissen jetzt, daß alle Länder gute Menschen tragen, und diese guten Menschen bilden eine einzige große Armee; der Einzelne ist nichts weiter, als ein Soldat in Reih' und Glied. Rechts und links Fühlung zu behalten und im Tact zu marschiren, und wenn zur Attaque commandirt wird, aus voller Brust Hurrah zu schreien und sich mit voller Gewalt auf den Feind zu werfen – das ist seine Ehre, denn darin liegt seine Kraft. Als Einzelner ist er nichts – als Glied des Ganzen unwiderstehlich; den Einzelnen streckt eine Kugel in den Staub, aber die Reihe schließt sich über ihm, und die Colonne ist, wie sie war. Sieh, Leo, das ist die Macht der Disciplin, der Keiner, er sei wer er sei, sich zu entziehen das Recht hat; denn, sei er noch so stark, – in Reih' und Glied ist er stärker, und sei er noch so schwach, – in Reih' und Glied füllt er doch noch seine Stelle aus. In diesem Gedanken, den ich mir immer klarer und klarer zu machen suche, habe ich schon längst Trost, Ruhe und Freudigkeit gefunden.
Walter hatte die innere Erregung wieder von seinem Sitze getrieben; hoch aufgerichtet stand er da, die schöne, freie Stirn und die Wangen von der Gluth des Weines und dem Feuer der Begeisterung leicht geröthet, den linken Fuß vorgeschoben, die breite Brust auf und nieder wogend, den Arm leicht gehoben. Leo hatte die Stirn gesenkt, sein bleiches Gesicht schien unbewegt, nur daß die feinen Lippen noch fester zusammengepreßt waren. Auch seine Stimme klang herber, und die Worte kamen noch schärfer accentuirt, als er jetzt sagte:
Dein Gleichniß ist schön und hat nur mit anderen Gleichnissen den kleinen Fehler, daß es die verglichene Sache nicht deckt. Wenn Du behauptest, daß die Kämpfe der Menschheit jetzt mehr als sonst Massenkämpfe sind, daß der starke Arm des einzelnen Kriegers nicht mehr das Gewicht hat, als wohl sonst, so ist das gewiß richtig; aber wenn Du daraus den Schluß ziehst, daß das Genie nun überflüssig geworden ist, so ist das gewiß falsch. Im Gegentheil! Was soll aus Deiner Colonne werden, wenn sie keinen Führer hat, der ihre Bewegungen leitet, der das Ganze übersieht, das der Einzelne nicht sehen kann? der in dem rechten Augenblick das Zeichen zum Angriff giebt, der mit Einem Worte erst einen Sinn bringt in die allgemeine Sinnlosigkeit? Die große Masse ist heute noch, was sie von jeher war und ewig bleiben wird. Sie will und muß geführt sein, sie erzeugt aus sich heraus nicht den bewegenden Gedanken. Weil der Gedanke, den der große Kopf dachte, jetzt schneller als sonst das Gemeingut der Vielen wird, ist er darum weniger das Eigenthum des großen Kopfes? Weil die Ursache sich jetzt schneller in die Wirkung umsetzt und die Wirkung in ihrer Breite die concentrirte Ursache verdeckt, stehen wir deshalb weniger unter dem Causalgesetz? Freilich, wer denkt, wenn er eine complicirte Maschine arbeiten sieht, über all' den Rädern, Walzen und Kämmen an den, aus dessen Gehirn diese Wunder entstanden? Wer in einer Volksversammlung, die sich nach stundenlangen stürmischen Debatten endlich zu einer Resolution entschließt, an den, welcher die ganze Geschichte schon Wort für Wort schwarz auf weiß in seiner Tasche mitgebracht? –Und jetzt, mon cher, laß uns zu Bette gehen, denn die Nacht ist weit vorgerückt, und ich bin müde von der langen Fahrt.
Walter war mit diesem Vorschlage gar nicht zufrieden. Er hatte noch eine Welt zu sagen und zu fragen; das Gespräch war auf einen Gegenstand gekommen, der ihn ganz besonders interessirte – und sollte nun mit einemmale abgebrochen werden, bevor die zweite Flasche geleert war. Aber Leo tröstete, daß morgen auch noch ein Tag sei, und daß er ja überhaupt so bald nicht wieder wegzugehen gedenke. Walter erfuhr dabei, was eigentlich Leo's Plan für die nächste Zukunft war. Er wollte, gestützt auf die Prüfungs-Atteste einer süddeutschen Universität, auf eine bereits mehrjährige Praxis in der Schweiz und glänzende Empfehlungen namhafter Gelehrten, sich um eine Assistenzarztstelle an einer der Kliniken der Residenz bewerben, oder, wenn das fehlschlage, sich eine selbstständige Praxis zu verschaffen suchen. Er sagte das, während er seinen Koffer aufschnallte; dann hielt er mit mühsam unterdrücktem Gähnen Waltern, der mit dem Lichte dabei stand, die Hand hin.
Ich gehe ja schon, rief dieser lachend; morgen werden wir uns vor elf Uhr nicht sehen. Ich habe zwei Stunden zu geben, und dann will ich beim Freiherrn vorsprechen und sagen, daß Du gekommen bist. Gute Nacht, lieber Junge, schlaf wohl!
Leo war allein. Er ordnete seine Toilettensachen und sah sich dabei manchmal im Zimmer um, das seltsamlich herausgeputzt war mit gestickten Fenster-, Sopha-, Fußkissen, und vor Allem mit zahllosen Nippsachen, welche in Glasspinden, auf Commoden, auf Eckbrettern, aus dem Fußgestell eines schmalen Trumeau, sogar auf dem Vorsprung des weißen Kachelofens standen. An den Wänden hingen die Bilder des verstorbenen Königspaares, sowie die des jetzt regierenden jugendlichen Königs mit seiner jugendlichen Gemahlin und der andern Prinzen und Prinzessinnen aus dem Herrscherhause.
Eine reizende Umgebung und – eine reizende Gesellschaft! sagte Leo.
Er leuchtete mit dem Licht die Reihe der Porträts entlang. Vor dem Bilde des jungen Königs hielt er an und betrachtete es aufmerksam.
Das Bild ist gut, murmelte er, muß gut sein; ich sehe noch in diesem Gardegeneral den halbwüchsigen Burschen von damals. Er trug einen blauen Rock und eine blaue Mütze mit ziemlich langem Schirm; die Mütze war ihm abgefallen, als er sich aus meinen Händen winden wollte; ich dächte, seine Stirn wäre damals schon etwas kahl gewesen. Er hatte um den Mund einen alten verlebten Zug, und auch der hat sich nicht verloren. Nur seine Augen erkenne ich nicht wieder. Ich erinnere mich, daß sie damals vor Angst und Wuth wahnsinnig stierten; hier blicken sie freundlich genug, beinahe geistvoll; man sagt ihm ja nach, daß er ein geistig hochbegabter Mensch sei.
Leo hatte das Licht wieder auf den Tisch gestellt und ging nun mit leisen Schritten im Zimmer auf und nieder.
Was sagt man von einem Fürsten nicht? Er wird vom Schicksal durch das Leben getragen, wie die alten Helden von Götterhänden durch das Kampfgewühl. Tausend und tausend Köpfe denken, tausend und aber tausend Arme arbeiten für ihn. Was fehlt ihm am Gottsein, als die Unsterblichkeit? Und auch die kann er sich schaffen, der Ueberglückliche, wenn er nur seine Allmacht nicht mißbraucht, wenn er nur ein wenig für die Menschheit thut.
Daß noch keiner von ihnen auf den Gedanken kam: den Namen, welchen Schmeichler so gern im Munde führen, wahrhaft zu verdienen, wahrhaft der Vater, der Wohlthäter des Volkes zu sein. Und wäre es auch blos der Originalität wegen! wäre es auch blos, um in der Geschichte der Unbegreifliche genannt zu werden! Wer könnte ihm Widerstand leisten, wenn er ernstlich wollte? wenn er zur rechten Zeit an das Volk appellirte und sich unter den Schutz des Volkes stellte? Er könnte die Republik proklamiren und sich zum Präsidenten wählen lassen; er könnte ungeheure Thaten vollbringen, eine friedliche Revolution, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat.
Aber kommen sie je auf den Gedanken? nicht einmal welterobernde Xerxesse, die Alles erschöpft haben und für eine neue Lust die höchsten Preise zahlen, nicht einmal die! geschweige denn kleine Dutzend-Fürsten, die in ihren Lastern und ihren Tugenden mit ihren Kammerdienern wetteifern. Der Mensch da regiert nun schon vier Jahre, und was hat er gethan? die Revolution, deren reiche Erbschaft er antrat, verlumpt und sich die Reaction zu einem enormen Preis in's Land gekauft. Der Armselige! und doch! hätte ich ihm damals die Kehle zugeschnürt, sie hätten mir den Kopf vor die Füße gelegt, oder mich als einen Wahnsinnigen zeitlebens hinter Gittern und Mauern vergraben. Er aber, er durfte mich in's Gesicht schlagen, daß mir das Blut aus den Lippen rann! – was war an dem Bauerjungen gelegen? – er hätte mich tödten können, und würde darum heute doch ein allergnädigster, großmächtigster König und Herr sein.
Leo trat an's Fenster und schaute hinaus. An dem Himmel schwankte die Mondsichel durch schwarze Wolkenmassen; die Häuserreihe drüben war dunkel, aus einer Mansarde nur dämmerte ein schwaches Licht. Der Schein der Laternen glitzerte in den Wasserlachen auf dem Straßenpflaster; die Straße selbst war wie ausgestorben; der Wind heulte die Häuserfronten entlang und klapperte mit den Läden und Dachluken.
So also sieht diese langersehnte Station der Pilgerfahrt meines Lebens aus? Kein schöner Anblick, fürwahr! Ich hatte mir das immer anders gedacht: Paläste, um deren stolze Zinnen der Morgensonnenschein fluthet; ein Volk von Königen, das durch die breiten Straßen wallt – so stand sie vor dem Auge des Knaben; und später war sie mir immer die Stadt der Revolution, die Wahlstatt des Kampfes, die Stätte der Entscheidung für die Geschicke unseres Volkes. Deshalb mußte ich hierher, und deshalb bin ich hier; und weil ich einmal hier bin, will ich mir meinen Weg bahnen, und dieser Weg soll in die Höhe führen, denn – trotz Walter und allen Philistern! – heute so gut wie vor tausend Jahren, liegen die Geschicke der Nationen in der Hand der Mächtigen.
Als er vom Fenster nach dem Bett ging, das im Hintergrunde des Zimmers in einem Alkoven stand, streifte sein Blick noch einmal das Bild des jungen Königs.
Es ist eine sonderbare Aehnlichkeit – wo habe ich doch nur das andere Gesicht gesehen? – Nicht das des Prinzen-Knaben – ein anderes Gesicht, das ich aber auch ebensogut nur geträumt haben mag – mit hoher Stirn und lebhaften, lachenden Augen – gerade wie dies! – Es war um Silvia's halber, daß wir aneinander geriethen. Eine wunderliche Begegnung! Ob sie die erste und letzte gewesen ist? – Wo habe ich nur das Gesicht gesehen? – und warum muß ich dabei an Silvia denken, wie ich sie an jenem Morgen im blinkenden Wasser unter den wehenden Bäumen sah? – Ich fange an zu träumen, bevor ich schlafe. – Gute Nacht, chinesischer Ungeschmack; gute Nacht, bunter Kinderkram – gute Nacht, Welt!