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Henri wußte schon seit gestern Abend durch einen der Bedienten, der ihm schon lange Alles zutrug, was im freiherrlichen Hause vorging, um die Abreise des Vaters. Er war sogleich zu Herrn von Sonnenstein geeilt; weder dieser, noch er selbst hatten für die Richtung der Reise des Freiherrn eine Erklärung finden können.
Henri überlegte an diesem Morgen, wie man es anzufangen habe, den Vater oder Herrn von Sonnenstein zu einem entscheidenden Schritt zu zwingen, als ihn die Erklärung des Freiherrn in den Morgenblättern alles weiteren Nachdenkens nach dieser Seite überhob. Sonnenstein mußte jetzt den hingeworfenen Handschuh aufheben. Henri war dessen froh. Gestern war geschehen, was auch das äußerliche Verhältniß zwischen seinem Vater und ihm, um dessen willen er bis jetzt geschwiegen, vernichtet hatte; und was gab es nun noch zu schonen?
Der junge Mann eilte wieder zu dem Bankier, den er mit dem Zeitungsblatte in der Hand und in großer Aufregung traf.
Das hätte ich nicht erwartet! rief Herr von Sonnenstein, während seine Augen unter den buschigen Brauen unruhig hin und her fuhren. Mir zuvorzukommen, mir, der ich die Macht und das Recht zugleich auf meiner Seite habe! Ich glaube, Henri, Dein Vater ist von Sinnen. Aber ich weiß, wer uns diesen Streich gespielt hat. In diesem Moment, wo das Feuer lichterloh brennt, noch Oel hineingießen – das sieht ihm ähnlich. Das kann der ganzen Sache eine neue Wendung geben; es wird die Arbeiter vollends toll machen und uns auch in den Augen des übrigen Publikums unendlich schaden.
Henri hatte eine Ahnung, daß sein gestriger Streit mit dem Vater vielleicht mehr als alles Andere die Erklärung beschleunigt oder gar hervorgerufen haben müsse; aber es war ihm sehr recht, daß die Schuld auf den verhaßten Leo zurückfiel.
Ihr habt mir ja nie glauben wollen! rief er. Ihr habt es Euch selbst zuzuschreiben. Ich will nur hoffen, daß Du wenigstens durch den Schaden klug wirst und endlich den entscheidenden Schritt thust.
Der Bankier selbst hatte vielleicht eine Veranlassung, die das unleidliche Verhältniß mit dem Schwager zum Austrag brachte, herbeigewünscht; nun aber, im Augenblick der Entscheidung, war ihm gar nicht gut zu Muthe.
Es wird einen heillosen Lärm machen, lieber Freund, sagte er kopfschüttelnd, und daran kann mir nichts gelegen sein, wie Du sehr wohl weißt. Ich habe mich um Euret-, ich meine um des Prinzen willen, der über kurz oder lang doch die Geschicke unseres Landes in der Hand haben wird, beinahe mit der liberalen Partei überworfen. Paulus und Consorten betrachten mich jetzt schon als einen Abtrünnigen; soll ich es nun auch noch mit dem Adel verderben? Und was die eigentliche Demokratie betrifft, nun – ich kann Dich versichern, mon cher, es ist kein Spaß, in einem Augenblick, wie dieser, wo man so ein Tausend krawallirender Arbeiter auf dem Halse hat, einen Mann, wie Leo, sich zum Feinde auf Tod und Leben zu machen.
Der Bankier rieb sich bedenklich die dichten Augenbrauen. Henri trommelte ungeduldig auf dem Tische.
So ist es denn wirklich wahr! rief er, was Euch Eure Feinde nachsagen, daß Ihr keinen Muth habt, selbst nicht der Beste unter Euch! Hier, wo wir jetzt halten, können wir nicht bleiben, also müssen wir weiter. Es ist ein ganz einfaches Exempel. Je länger Du zögerst, eine gerichtliche Entscheidung zwischen Dir und meinem Vater herbeizuführen, um so sicherer kannst Du sein, nicht wieder zu Deinem Gelde zu kommen. Du fürchtest die Folgen eines offenen Bruches mit meiner Familie. Gut, gieb mir Emma zur Frau; eine eclatantere Genugthuung kannst Du nicht haben, als wenn der letzte Tuchheim Deine Tochter heirathet, und ich bekomme als Dein Schwiegersohn das Vermögen oder doch wenigstens einen Theil des Vermögens wieder, das ich als Sohn meines Vaters verloren habe.
Die Sache läßt sich hören, sagte Herr von Sonnenstein; aber Henri – ich sage nicht, daß es sein wird, indessen ist es doch eine Möglichkeit – wenn Emma Dich nun nicht will? Das Mädchen ist in der letzten Zeit wie ausgetauscht. Ich glaube, sie hat ein ernstes Attachement für den Doctor.
Nun, meiner Treu', das wäre in der That spaßhaft! rief Henri. Du glaubst wirklich, Onkel, Emma könne, wenn die Frage an sie herantritt, ob sie noch länger mit einem Charlatan kokettiren oder mich heirathen will, auch nur einen Augenblick ernstlich im Zweifel sein? Wenn sie es ist, so seid Ihr und Ihr allein schuld, die Ihr sie so grenzenlos verzogen habt. Aber ich glaube, ich kenne Emma besser als Ihr, und jedenfalls gebe ich Dir mein Wort darauf: der Mensch, der Leo, wird uns nicht lange mehr schaden – ich habe mir Alles überlegt, und ihm ist von mehr als einer Seite beizukommen.
Du bist ein guter Rechner, Henri, aber ich fürchte, in diesem Punkte möchtest Du Dich verrechnen, erwiederte der Bankier nachdenklich.
Henri wollte eben lebhaft etwas entgegnen, als der Bediente eine Karte hereinbrachte.
Deine Tante! rief der Bankier erschrocken, Henri die Karte hinreichend.
Henri sprang auf; willst Du sie annehmen?
Um Gotteswillen! sagte der Bankier, das fehlte noch; ich habe so immer mit ihr einen schweren Stand gehabt.
Es ist auch besser, Du siehst sie nicht, sagte Henri, und dann zu dem an der Thür harrenden Bedienten: Herr von Sonnenstein ist ausgefahren, Johann! Verstehen Sie, ausgefahren!
Der Bediente ging verwundert. Das gnädige Fräulein war noch immer angenommen worden. Henri sah ihm mit höhnischem Lächeln nach. Sie wird das ja hoffentlich verstehen, murmelte er, mag sie! sie hat mir nie das Wort geredet und hat mir stets den Tropf, den Walter, ja selbst den Leo vorgezogen. Ich gehe jetzt zu Emma, Onkel! Auf die Erklärung meines Vaters müssen wir mit einer Verlobungs-Anzeige antworten.
Der Bankier zuckte die Achseln.
Als Henri über den Flur kam, sah er eben die Equipage seiner Tante wieder davonfahren. Er ließ sich bei Emma melden.
Emma saß auf dem Balcon. Henri fand den Moment und die Situation für seine Absicht nicht eben günstig; aber er wußte, daß Emma ihren Lieblingsplatz um diese Stunde schwerlich verlassen würde. So setzte er sich denn zu ihr.
Nun, Du ungerathener Mensch, sagte Emma, ohne die Lorgnette von den Augen zu nehmen, war das nicht der Tante Equipage, die eben da vorfuhr? Setze Dich nicht auf mein Kleid! Kommst Du endlich, mich um Verzeihung zu bitten?
Endlich? Dies ist sehr schmeichelhaft für mich.
Pourquoi?
Weil es kaum vierundzwanzig Stunden her ist, daß wir uns erzürnt haben.
Gott, wie die Zeit schleicht! Vierundzwanzig Stunden! Ich glaubte, es wäre ein Monat. Ach, da fährt der Graf Rebenstein mit seiner jungen Frau. Wie reizend! Ich habe es immer gesagt, er hat den feinsten Geschmack von allen unseren jungen Cavalieren.
Hm, meinte Henri, es geht so; obgleich ich für meinen Theil nicht mit einem Handpferd fahren möchte, das entschieden spatlahm ist. Auch würde ich meinem Wagenfabrikanten die hellblaue Farbe, oder dann wenigstens meiner Frau die gelben Kleider verbieten.
O, Du heilloser, heilloser Mensch! rief Emma, mit dem Taschentuche nach Henri schlagend.
Henri ergriff die kleine fette Hand und drückte sie an seine Lippen.
Um Gotteswillen, Henri! Hier auf dem offenen Ballon.
Was kann ich dafür, daß Du Deine Visiten auf dem Balkon empfängst.
Emma ließ die Lorgnette fallen und blickte ihren Vetter an. Sie hatte ihn immer hübsch gefunden; heute Morgen fand sie ihn sehr hübsch. Die kurzen, braunen Locken, das allerliebste Schnurrbärtchen – und wie elegant er sich zu kleiden verstand! Ja, er hatte Geschmack; er würde seine Frau nicht in einem gelben Kleide in einer hellblau ausgeschlagenen Kutsche fahren lassen.
Nun, fragte Henri mit einem Lächeln, das die Spitzen seiner weißen Zähne zeigte, warum blickst Du mich so nachdenklich an?
Ich denke darüber nach, warum Du immer so unliebenswürdig bist, während Du doch manchmal passabel liebenswürdig sein kannst.
Passabel liebenswürdig? Ich schmeichle mir, sehr liebenswürdig sein zu können, und es ist wahrhaftig nicht meine Schuld, wenn ich es nicht immer bin.
Wessen Schuld denn?
Emma hatte wieder die Lorgnette vor die Augen genommen. Henri beugte sich näher zu ihr und sagte: Deine Schuld, ma belle cousine!
Pah, weshalb meine Schuld?
Weil, wenn man so reizend ist, wie Du, man die Leute nicht noch muthwillig reizen darf.
Ich finde, es zieht hier etwas, sagte Emma.
Abscheulich, sagte Henri.
Emma erhob sich und ging durch die offene Fensterthür in das Zimmer; Henri folgte ihr mit einem Lächeln, das Emma, die an ihre Goldfischvase getreten war, nicht bemerkte. Henri legte seinen Arm um ihre Taille.
Du bist heute unerträglich! rief Emma, sich losmachend und nach einer Causeuse eilend, um, sobald sie sich in dieselbe geworfen, ihr Taschentuch vor das Gesicht zu drücken und in Thränen auszubrechen.
Henri beeilte sich, an ihrer Seite niederzuknieen, und sagte, während er ihr die Hände vom Gesicht zu ziehen versuchte: Emma, liebe Emma, was fehlt Dir? Was hast Du?
Laß mich; ich bin so unglücklich, so grenzenlos unglücklich! rief Emma schluchzend.
Henri rückte sich einen Stuhl heran und sagte, indem er eine von Emma's Händen in seinen Händen festhielt:
Laß uns einmal ein vernünftiges Wort miteinander sprechen, Emma! Wir müssen endlich in's Klare kommen. Du weißt, ich liebe Dich, oder wenn Du es nicht weißt, so sage ich es Dir jetzt. Du hast mich immer, gern gehabt, und ich glaube, wir wären schon lange einig, wenn unsere Familienhändel nicht immer als ein Hinderniß zwischen uns gestanden hätten. Nun ist aber seit gestern etwas Entscheidendes geschehen. Dein Vater und ich haben mit meinem Vater unwiderruflich gebrochen, oder vielmehr mein Vater mit uns. Er hat sich öffentlich auf die Seite der Arbeiter gestellt und ist darauf abgereist, wir wissen nicht, wohin, vermuthlich auf einem Umwege nach Tuchheim, um dort mit den Arbeitern zu fraternisiren, oder Gott weiß, welche neue Thorheit zu begehen. Mein Vater hat für sich selbst zu solchen Schritten nicht den Muth. Ich brauche Dir wohl nicht zu sagen, wer hinter ihm steht.
Emma, die sehr eifrig zugehört hatte, fing von neuem an zu schluchzen; Henri kniff die Augenbrauen zusammen, aber fuhr in einem noch milderen Ton, als in welchem er bisher gesprochen hatte, fort:
Ich will Dir keine Vorwürfe machen, liebes Kind! Du bist ein geistreiches Mädchen! das Außergewöhnliche zieht Dich unwiderstehlich an, und ich lasse ihm – Du weißt, wen ich meine – die Gerechtigkeit widerfahren, daß er kein gewöhnlicher Mensch ist. Aber, liebes Kind, wir leben nun einmal in sehr bestimmten Verhältnissen, in denen das Außergewöhnliche meistens eine sehr bedenkliche, und manchmal, was noch schlimmer ist, eine lächerliche Rolle spielt. Mit dem außerordentlichsten Menschen, wenn er kein »von« vor dem Namen hat, kann man nicht bei Hofe erscheinen, aber man kann mit ihm sehr leicht in die Lage kommen, einen Handwerkerball oder eine ähnliche noble Gesellschaft mit seiner Gegenwart verherrlichen zu müssen. Nun waren Tabaksrauch und Biergeruch früher wenigstens gar nicht nach Deinem Geschmack – nein, lache nicht, liebe Emma! ich rede ganz ernsthaft, denn die Sache hat auch eine sehr ernsthafte Seite.
Emma, die eben nicht abgeneigt gewesen war, in ein Gelächter auszubrechen, begann von neuem zu schluchzen. O diese Männer, diese Männer! hartes, grausames Geschlecht! was habt Ihr davon, ein armes Mädchenherz zu zertreten! Was fragt die Liebe nach Rang und Stand!
Das ist ja lauter dummes Zeug, liebes Kind, sagte Henri ärgerlich; in unseren Verhältnissen fragt die Liebe allerdings sehr nach Rang und Stand.
Ja, und nach Reichthum, rief Emma spöttisch; ach, ich wollte, ich wäre ein armes Bürgerkind!
Ich wollte, Du wärest einen Augenblick vernünftig! Ich versichere Dich auf meine Ehre, Emma, daß sich Dein außerordentlicher Freund auf gar nicht spaßhafte Dinge eingelassen hat. Du hast mir es gestern nicht glauben wollen, aber ich wiederhole es: es ruht der dringendste Verdacht auf ihm, daß er den Doctor Lippert – Du kennst ihn ja – zu dem Depeschendiebstahl, von dem jetzt so viel die Rede ist, verleitet hat. Es vergeht vielleicht keine Woche mehr, so sitzt Lippert wegen des Diebstahls und der Andere wegen der moralischen Mitschuld an diesem Diebstahle. Ich war gestern beim Prinzen; der Prinz ist außer sich und wird die Sache nicht, wie wir anfänglich vermutheten, auf sich beruhen lassen. Nun bedenke, Kind, in welche Lage Du Dich bringst, wenn Du diese gefährliche Spielerei mit dem Menschen weiter treibst. Du weißt, unsere Gesellschaft verzeiht gewisse Dinge auch dem reichsten, hübschesten, zierlichsten, liebenswürdigsten Mädchen nicht.
Und Henri streichelte und küßte Emma's Hand.
Emma hatte ihre Koketterie mit Leo noch nie in einem so trüben Lichte gesehen. Sie hatte mit ihm glänzen wollen, sie hatte mit ihm geglänzt; sie mußte weiter mit ihm glänzen können – das war die selbstverständliche Bedingung, auf die hin sie ihn auch geheirathet haben würde. Wenn Henri die Wahrheit sprach – und er war heute Morgen so beklemmend ernsthaft – so stand die Sache natürlich anders. Aber weshalb konnte er sich diese Geschichten nicht ausgesonnen haben, um sie zu einem übereilten Entschlusse zu drängen! Und selbst, wenn auch Alles war, wie Henri sagte, wenn man Leo wirklich fallen lassen mußte – das konnte ja noch immer geschehen, aber man mußte sich doch sehr hüten, Henri nachzugeben, oder ihn gar merken zu lassen, wie wirklich entzückend liebenswürdig er heute Morgen war.
So seufzte sie denn nur tief, während er eifrig ihre Hände küßte, und erklärte noch einmal, daß sie das unglücklichste Mädchen von der Welt sei, und daß sie in ein Kloster gehen wolle, wo sie doch wenigstens ihrem Herzen und ihren Idealen leben könne.
Henri's Geduld war erschöpft, und überdies mußte er noch vor Tische zu seines Vaters Anwalt, von dem er Wichtiges zu erfahren hoffte. Er machte noch einen letzten Versuch, indem er sich neben der Causeuse auf die Kniee niederließ und Emma umfaßte; als diese ihn aber von sich stieß, sprang er auf und rief:
Nun wohl! Du willst die Närrin spielen! thu's; aber verlange weiter nicht, daß wir Dich schonen, wie bisher. Er kommt nicht wieder in dieses Haus, das schwöre ich Dir; ich kann Dir vielleicht die Erlaubniß verschaffen, ihm im Gefängnisse Deine Aufwartung zu machen.
Emma hatte sich ebenfalls erhoben. Sollte sie dem Scheltenden um den Hals fallen, nachdem sie den Liebkosenden von sich gestoßen? Einen Augenblick hatte sie nicht übel Lust dazu; aber sie besann sich noch zur rechten Zeit und antwortete schnippisch. Ein heftiger Wortwechsel folgte, der, wie schon mancher vorangegangene, damit endete, daß Emma in Thränen ausbrach und Henri voller Zorn das Zimmer verließ.
Emma war nun wirklich in Aufregung gerathen. Henri hatte ihr zu harte Dinge gesagt! Wie sollte sie sich rächen? sollte sie sich von Leo entführen lassen? sollte sie ihn im Gefängnisse besuchen! die Geliebte eines politischen Verbrechers! das war etwas Neues und würde Henri außer sich bringen. Das Wenigste war, daß sie an Leo schrieb – sie war ganz in der Stimmung! warum machte man sie unglücklich, während die Sonne so hell durch die hohen Fenster in die Zimmer schien und die Goldfische so lustig durch das Wasser fuhren, und ihr Canarienvogel so laut schmetterte, und draußen die Equipagen rollten!
Und Emma setzte sich und schrieb zwischen den Nippesfiguren, Obelisken en miniature und den anderen Spielereien, mit denen ihr Schreibtisch ausgestattet war, an Leo, daß sie unglücklich sei.