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Am nächsten Tage schickte der Freiherr in das Dorf und ließ Herrn Tusky ersuchen, sich gelegentlich zu ihm auf das Schloß bemühen zu wollen. Tusky kam noch an demselben Abend. Der Freiherr lud den Besucher zum Sitzen ein und bat um Entschuldigung, daß er ihn habe incommodiren müssen.
Sie sind meinen Wünschen nur zuvorgekommen, Herr Baron, erwiederte Tusky. Der Bericht, welchen ein Knabe in solchem Falle seinen Eltern abstattet, pflegt gerade nicht ein Muster von Wahrhaftigkeit und Unparteilichkeit zu sein.
Ich bin stets der Ansicht gewesen, daß eines Mannes, geschweige eines Knaben Rede in solchem Falle keine Rede ist, erwiederte der Freiherr mit seinem verbindlichen Lächeln.
Tusky erzählte nun die Scene.
Er räumte unumwunden ein, daß er sich durch seinen Zorn zu einer Heftigkeit habe hinreißen lassen, die ihm jetzt, im Interesse seines Selbstgefühls und seiner Selbstachtung, leid thue. Im Uebrigen aber sei er noch diesen Augenblick der Ansicht, daß Henri von Anfang an durch ein täglich kecker werdendes Betragen eine solche Katastrophe geflissentlich herausgefordert habe.
Der Freiherr hatte Tusky's Bericht aufmerksam zugehört; als der junge Mann zu Ende war, sagte er:
Ich danke Ihnen, Herr Tusky, für die loyale Weise, mit welcher Sie die Sache so dargestellt haben, daß weder Ihr Unrecht, wenn ein solches wirklich vorhanden ist, beschönigt, noch die unzweifelhafte Schuld meines Sohnes über ihr natürliches, reichliches Maß hinaus vergrößert erscheint. Es ist für einen Vater immer hart, sein eigen Fleisch und Blut verurtheilen zu müssen; aber, wie ich mich stets bestrebt habe, ehrlich gegen mich selbst zu sein, so habe ich auch den Muth, mich selbst in meinen Kindern zu züchtigen. Wenn wir es für eine Pflicht halten, unsern Vätern nachzuahmen, so ist es eine noch heiligere Pflicht, nach Kräften dafür zu sorgen, daß unsere Kinder uns womöglich in allen Tugenden des Leibes und der Seele übertreffen. Zum wenigsten habe ich von jeher gemeint, daß hier, in diesem unablässigen Streben nach Vervollkommnung, in dieser von Generation zu Generation sich steigernden Trefflichkeit der eigentliche Adel eines Geschlechts gesucht werden muß und einzig und allein gefunden werden kann. Meinen Sie nicht auch, Herr Tusky?
Es ist für Jemand, der nicht weiß, wer sein Großvater gewesen ist und dessen Vater im Säuferwahnsinn starb, sehr schwer, in solchen Dingen überhaupt eine Meinung zu haben, Herr Baron, antwortete Tusky.
Da sind Sie in der That sehr zu beklagen, sagte der Freiherr; denn sicher trägt wenig so zur Bildung unseres Herzens bei, als die Bravheit eines Vaters, die Liebe einer Mutter. Eine freudlose Jugend ist nur zu oft das traurige Vorspiel zu einem freudlosen, vergrämten, menschenscheuen, ja menschenfeindlichen Alter. Ich habe eine hinreichende Anzahl von Jahren vor Ihnen voraus, um Sie auf diesen alten Erfahrungssatz, aus dem Sie vielleicht für sich selbst eine oder die andere Nutzanwendung ziehen können, aufmerksam machen zu dürfen.
Tusky stand auf. Ich fürchte, den Herrn Baron zu lange von wichtigeren Dingen abzuhalten, sagte er.
Ich bin nicht pressirt, entgegnete der Freiherr, der sich trotz Tusky's abstoßenden Benehmens zwang, die gewohnte Höflichkeit bis zu Ende zu bewahren; vor Allem müssen Sie mir erst noch sagen, welche Satisfaktion Sie für die Beleidigungen, die sich Henri gegen Sie hat zu Schulden kommen lassen, verlangen.
Ich wünsche, daß er mich in Gegenwart der beiden andern Knaben um Entschuldigung bittet, sagte Tusky nach einigem Zögern.
Das ist das Wenigste, sagte der Freiherr.
Das ist hinreichend, erwiederte Tusky, indem er eine hölzerne Verbeugung machte und sich mit steifstelliger Würde zur Thür hinausbewegte.
Nun, was sagst Du, Charlotte? fragte der Freiherr, durch die heruntergelassene Portiere in das Zimmer nebenan tretend, wo seine Schwester mit einer weiblichen Arbeit am Fenster saß; wie gefällt Dir der Mann?
Er spricht, wie er geht, erwiederte Charlotte, indem sie Tusky, der eben über den Rasenplatz am Fenster vorüberschritt, beobachtete; und er geht, wie – er spricht.
Das sind Räthsel, sagte der Freiherr, indem er sich vor seine Schwester auf einen niedrigen Stuhl setzte und mit den dunkelklaren Augen zu ihr aufschaute.
Nur für den Uneingeweihten, erwiederte Charlotte lächelnd; sind Sprache und Gang nicht die wichtigsten Ausdrucksweisen der Seele und des Körpers? Der Gang ist die sichtbare Sprache des Leibes; die Sprache ist die hörbar sich bewegende Seele. Laß mich einen Menschen sprechen hören, und ich will Dir sagen, weß Geistes Kind er ist; laß mich ihn gehen sehen, und ich kenne sein Temperament und seinen Charakter.
Nun, sagte der Freiherr gespannt, und was hältst Du denn von diesem Menschen?
Ich halte dafür, daß er gar kein Mensch ist, erwiederte Charlotte.
Das wäre! rief der Freiherr, was denn sonst?
Ein Automat, erwiederte Charlotte. Hast Du denn nicht gehört, daß seine Stimme hart ist wie eine Walze aus Hagebuche und klanglos wie eine verstimmte Blechtrompete? Und sieh ihn doch nur gehen! Siehst Du, wie er sich da eben bückt, ein Gras abzupflücken? So bückt sich kein Mensch von Fleisch und Blut, so klappt sich nur ein Gestell aus Holz und Eisen und Leder zusammen und auseinander.
Meine milde, großherzige Schwester ist heute in einer verzweifelt grausamen Laune, sagte der Freiherr.
Nicht doch, erwiederte Charlotte; der Mann da hat mir weher gethan, als ich ihm durch meine machtlosen Pfeile thun kann. Ich empfinde es jedesmal fast als einen physischen Schmerz, wenn ich einen jungen Menschen sehe, der so offenbar, wie jener Mann, nicht verlernen kann zu lieben, weil er es niemals gelernt hat.
Aber, Charlotte, das ist doch zu hart, sagte der Freiherr.
Ich wollte, es wäre zu hart, sagte Charlotte in sanftem, traurigem Ton; wie gern wollte ich mich in diesem, wie gern in einem anderen Falle geirrt haben, der mir noch mehr zu Herzen geht.
Du sprichst von Leo? sagte der Freiherr.
Ja, entgegnete Charlotte; die Zukunft dieses Knaben, der kaum noch ein Knabe zu nennen ist, liegt mir schwer auf der Seele. Sind wir doch, die wir seine Erziehung übernommen haben, bis zu einem gewissen Punkte für ihn verantwortlich! Ich habe gethan, was in meinen Kräften stand, ihn an uns heranzuziehen, ihm sein scheues Mißtrauen zu nehmen; es ist mir nicht gelungen. Wie ein gefangenes Raubthier zieht er sich bis in die fernste Ecke zurück und blickt von unten mißtrauisch aus den wilden, glänzenden Augen. Und nie habe ich in seiner Zukunft so deutlich gesehen, als eben jetzt, wo jener Mann bei Dir war. Ich sehe kein Glück für Leo darin, daß er jahrelang unter der Leitung eines kalten Egoisten, wie Doctor Urban, stehen soll; aber der möglicherweise sehr große Einfluß, den dieser Tusky auf ihn üben wird, scheint mir ein offenbares Unglück.
Du siehst zu schwarz, sagte der Freiherr; ich kann mich nicht entschließen, auf ein Vorurtheil hin einen unzweifelhaft tüchtigen Mann zu verdammen, oder ihn gar aus einer Stelle zu entfernen, für die er sonst in jeder Weise sich eignet und die nicht leicht so gut wieder zu besetzen sein würde.
Eine kleine Härte zur rechten Zeit hat schon oft ein großes Unglück verhütet, sagte Charlotte.
Aber Schwester, Schwester, ich kenne Dich heute nicht wieder! rief der Freiherr, aufspringend; wo ist Deine Milde, Deine Gerechtigkeit, Deine Heiterkeit? Wo der weiche Mantel der Liebe, mit dem Du sonst die Schäden und Gebrechen einer halben Welt gnädig verhüllst? Ich fürchte ernstlich, Du bist krank, liebe Charlotte.
So wird man auch wohl zu Kassandra gesagt haben, als sie in ihres Geistes Auge die Mauern der stolzen Troja bereits in Flammen sah.
Nun aber reite ich aus! rief der Freiherr halb lachend, halb ärgerlich; mir ist zu Muthe, als brennten alle meine Vorwerke in der Runde. Adieu, Kassandra! Adieu, liebe, geliebte Schwester!
Der Freiherr zog Charlotte an sich und küßte sie auf die weiße Stirn. Dann eilte er hinaus.