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Als Leo auf sein Zimmer kam, warf er sich auf sein Bett, drückte das Gesicht in die Kissen und überließ sich einer Leidenschaft, die seinen Körper wie mit Fieberschauern durchrüttelte und sich in leisem Stöhnen aus seiner zusammengeschnürten Brust rang. Weinen konnte er nicht.
So lag er lange Zeit, darniedergehalten von einem Jammer, der sein Gehirn betäubte. Endlich fühlte er den Schmerz seiner verwundeten Lippen, die jetzt zu bluten aufgehört hatten. Er erhob sich und wusch sein Gesicht und seine Hände.
Es war fast ganz dunkel geworden. An dem Himmel schwankte die Sichel des abnehmenden Mondes durch schwarze Wolkenmassen, die ein heftiger Wind vor sich hin trieb.
Er öffnete behutsam das Fenster und lauschte hinaus. Die Wetterfahne auf dem Dachfirste über ihm drehte sich kreischend in ihren verrosteten Angeln; die Eichenriesen des wenige Schritte entfernten Waldes knarrten und stöhnten; in dem vergilbenden Laub der Reben unter dem Fenster raschelte es unheimlich. In dem Hause war Alles still, nur aus den offenen Fenstern der nach hinten gelegenen Küche hörte er das Klappern von Pfannen und Tellern. Die Familie, das wußte er, war um diese Zeit in der Wohnstube versammelt, jetzt war es Zeit.
Noch einmal lauschte er mit vornüber gebogenem Körper hinaus, dann stieg er auf das Fensterbret und kletterte an dem Spaliere hinab. Eine der morschen Leisten brach in seiner Hand, dennoch kam er glücklich unten an. Mit möglichst leisen Schritten eilte er über den schmalen Hof, wo die Hunde, als er an dem Zwinger vorbeikam, bellend gegen die Latten sprangen, in den Garten; aus dem Garten durch das unverschlossene Gitterpförtchen die paar Schritte hinüber an den Waldrand. Dort angelangt, wendete er sich einen Augenblick, um sich zu vergewissern, daß er nicht verfolgt werde. Alles war still, die Hunde hatten aufgehört zu bellen. Niemand hatte seine Flucht bemerkt. Er konnte gehen, wohin er wollte.
Wohin?
Daran dachte er jetzt zum ersten Male. Er hatte nur fort gewollt aus einem Hause, wo Niemand Liebe genug für ihn hatte, sich seiner in solcher Lage anzunehmen; wo man ihn ungehört verdammen, ohne Mitleid zu empfinden, mißhandeln lassen konnte. Aber jetzt wohin? wohin?
Zurück zu seinem Vater? Was sollte er da? Das alte Leben auf der Dachkammer, wo es im Sommer so heiß und im Winter so kalt war, von Neuem beginnen? Mit der Katze um die Wette hungern? Ueberdies mußte man ihn dort ja sofort finden, und er wollte nicht gefunden sein; er wollte, daß Niemand, der ihn je gekannt, ihn wieder mit Augen erblickte – er wollte sich vor den Menschen verbergen.
Wohin?
Der arme Knabe hatte so gut wie nichts von der Welt gesehen; aber so viel wußte er doch recht gut, daß man ohne Geld nicht leben könne. Er hatte keins; das Taschengeld, das ihm der Onkel geschenkt, hatte er neulich, als er in Feldheim war, dem Vater gegeben; er besaß keinen Pfennig, nichts, woraus er hätte Geld lösen können, nichts, als die Kleidung, die er auf dem Leibe trug, und die war dürftig genug; nicht einmal eine Mütze hatte er in der Eile der Flucht aufgesetzt. Das bemerkte er erst, als ihm der Wind sein langes Haar in's Gesicht wehte.
Die Nacht war immer dunkler und stürmischer geworden. Schauerlich sauste es in den zum Theil schon entblätterten Kronen der Bäume, als Leo jetzt auf dem Pfade, der zu dem Stege über den Bach führte, eilends dahinschritt. Er hatte diese Richtung eingeschlagen, weil er hier herum keinen anderen Weg wußte. So kam er bis an den Steg.
Er trat auf die Planke, die den Steg bildete, und blickte, sich auf das schwankende Geländer lehnend, in den Bach. Bei dem schwachen Lichte des Mondes, der von Zeit zu Zeit aus den jagenden schwarzen Wolken hervortrat, konnte er dicht unter sich das Wasser in schäumenden Wirbeln vorüberfließen sehen. Es blinkte und murmelte und lockte. Ein Druck gegen das Geländer, und es stürzte mit ihm hinunter. Der Bach war hier sehr tief. Der Onkel hatte, wenn sie hinüber gegangen waren, stets zur Vorsicht gemahnt.
Was würden sie sagen? Er ist aus Furcht vor Strafe in den Bach gelaufen und hat sich ertränkt. Leo erinnerte sich eines ganz ähnlichen Falles aus seinem Dorfe. Ein Bauer hatte seinen Pferdejungen am Abend gezüchtigt und ihm gedroht, am nächsten Morgen mit der Züchtigung fortzufahren; aber in der Nacht verschwand der Junge und wurde erst vier Wochen später im Bach gefunden. Der Fall hatte in dem Dorfe nicht das mindeste Mitleid erregt. Es ist ihm ganz Recht geschehen, hatten die Leute gesagt; Einige hatten gemeint, so müsse es jedem Taugenichts ergehen.
Was würden die Leute diesmal sagen? Vielleicht dasselbe. Hatten sie ihn doch jetzt schon immer mit verwunderten Augen angesehen! Und nun sollten sie Recht gehabt haben, und Silvia sollte nach wie vor lachen und mit Henri und dem Prinzen schön thun dürfen, und mit ihnen über den Bettlerjungen spotten, der nichts Besseres zu thun gewußt hatte, als in das Wasser zu laufen? Die Lust wollte er ihr nicht gönnen.
Aus den tiefziehenden Wolken begannen einzelne Tropfen zu fallen; bald darauf fing es an, stark und immer stärker zu regnen; Leo suchte jenseits des Baches Schutz unter den Bäumen. Er dachte wohl an die Höhlen am Wasserfall, aber er fürchtete, daß es ihm in der Dunkelheit unmöglich sein würde, über die Steinblöcke in dem dichten Tann den Weg bis dahin zu finden. Sicherer war es, den Pfad durch den Forst weiter zu verfolgen.
Das that er denn auch, als das Unwetter ein wenig nachgelassen hatte. Der kalte Nachtwind und der Regen durchschauerten ihn. Er fühlte sich sehr unglücklich, aber doch nicht mehr so unglücklich als vorhin. So finstere Nacht es um ihn her und in ihm selbst war, in seinem Herzen glühte noch ein Funke – ein einziger Funke; aber er fühlte ganz deutlich die belebende Kraft, die von diesem Funken ausging. Er sagte nur immer vor sich hin: sie sollen nicht über mich spotten.
Ein helles Licht erglänzte durch die Bäume; Leo ging darauf zu, weil er in seiner Verwirrung anfänglich glaubte, es seien schon die Lichter seines Dorfes. Aber bald überzeugte er sich, daß dies nicht der Fall sein konnte; die Helligkeit war viel zu groß; auch sah er, daß er sich noch tief im Forste befand. Es war ein Wachtfeuer, welches sich das Soutien einer Vorpostenkette auf einer kleinen Lichtung im Walde angemacht hatte. Ein paar kleine aus Tannenzweigen und Stroh gebaute Hütten bezeichneten die Lagerstätte der Officiere; die Mannschaften lagen in ihre Mantel gehüllt auf der dichten Nadeldecke unter den Bäumen, zum Theil hockten sie rauchend und plaudernd um das Feuer, das von den übermüthigen Burschen auf Kosten des Freiherrn von Tuch heim mit jungen Tannen, die sie unten an der Wurzel abgehauen hatten, reichlich genährt wurde. Manchmal schlug die Flamme bis fast zu den Gipfeln der Bäume empor und beleuchtete mit grellem Schein die wunderliche Scene.
Leo wäre gern an das Feuer getreten, seine halberstarrten Glieder zu wärmen; aber er wagte es nicht. Würde man ihm auch nicht gerade etwas Böses thun, so konnte er doch den Fragen nach Woher und Wohin nicht entgehen, und was sollte er darauf antworten? Vielleicht schickt man ihn wieder zurück; vielleicht behielt man ihn bis zum Morgen da, und er begegnete dann dem General, oder etwa gar dem Prinzen. Und nun kam ihm zum ersten Male der Gedanke, daß er durch sein Betragen gegen den Prinzen eine schwere Strafe verwirkt haben könne. Wenn man ihn als einen Verbrecher behandelte? Wenn man ihn in das Gefängniß würfe, wie ihm der Prinz gedroht hatte?
Eine Patrouille, die von der Ronde zurückkehrte, kam querwaldein gerade auf den Platz zu, wo er stand. Er duckte sich hinter ein paar große Stämme; dann, als sie vorüber war, eilte er, so schnell er konnte, auf den Pfad, den er verlassen hatte, zurück und erreichte, denselben verfolgend, bald den Rand des Waldes.
Ein wunderbares Bild zeigte sich seinen Blicken. Links und rechts von seinem Dorfe, das ebenfalls durch viele Lichter ungewöhnlich hell war, zogen sich die Bivouakfeuer der lagernden Truppen in ungeheurem Halbkreise an dem Rande der Höhen und des Waldes nach der Ebene zu. Um die zunächst gelegenen sah er die Leute sich bewegen; er sah die Bajonette der Gewehrpyramiden in dem Wiederschein des Feuers erglänzen; er hörte dumpfes Rufen und Singen, das Gewieher der Pferde und das Bellen der aufgeschreckten Dorfhunde. In seiner durch das Grauen der Nacht doppelt verschüchterten Phantasie sah der Knabe in diesen Feuern ebenso viele Augen von Ungeheuern, die alle auf ihn stierten; alle diese schattenhaften Menschen lauerten nur auf ihn; jene Gewehre standen nur darum so sorgfältig aufgereiht, um sofort ergriffen und auf ihn abgefeuert werden zu können.
Seines Vaters Häuschen lag an der ihm zugekehrten Seite des Dorfes; eine Wiese und ein paar Gärten waren nur zu durchschreiten. Sein Vater würde ihn mürrisch aufnehmen, aber er würde ihn aufnehmen.
Seine Kniee wankten unter ihm, als er mit Aufbietung aller seiner Kräfte das Häuschen erreicht hatte. Aus dem Dorfe her, das starke Einquartierung hatte, klangen die wüsten Lieder zechender Soldaten, klang Musik und das rohe Jauchzen der Tanzenden. Leo hörte das Alles nur noch im Traum. Er trat in die Hütte; durch die Ritzen der Thür, die in seines Vaters kleines Zimmer zu ebener Erde führte, dämmerte ein schwaches Licht. Er tastete nach der Klinke; öffnete; auf dem wackligen Tisch, an welchem der Vater zu schreiben pflegte, stand das Lämpchen, dem Erlöschen nahe. Der Vater hatte sich wohl, wie er es oft that, wenn Müdigkeit ihn überwältigte, angekleidet auf das Bett gelegt. Aber er, den sonst das leiseste Geräusch erweckte, erhob sich bei Leo's Eintreten nicht; und als er näher trat, sah der Knabe, daß der Vater bleichen Gesichtes, die Hände über der Brust gefaltet, dalag, gerade als ob er todt wäre.
Vater, sagte der Knabe, seine zitternde Hand leise auf, die Hände des Schläfers legend. Keine Antwort, die Hände waren kalt; das Licht des Lämpchens flackerte noch einmal auf und erlosch.
Von namenlosem Entsetzen erfaßt, taumelt der Knabe empor und wankt nach der Thür. Aber ehe er sie erreicht, vergehen ihm die Sinne, und er stürzt zur Erde, in demselben Augenblicke, wo der Wagen des Försters, der dem Flüchtling auf gut Glück hierher gefolgt ist, vor dem Häuschen vorfährt.