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Indessen war der Prinz so leutselig, daß es gewiß nicht an ihm lag, wenn sich nicht Alle vollkommen frei fühlten. Er ließ sich sämmtliche Bewohner des Försterhauses vorstellen; dankte Tante Malchen, die jetzt mit rothgeweinten Augen und einer frischen bänderreichen Mütze erschien, für ihren guten Willen, aber er komme eben von der Tafel; bat dann die Knaben, ihn ein wenig in Hof und Garten umher zu führen, bewunderte ausnehmend den prächtigen Falken, die erst kürzlich gefangenen jungen Füchse, Silvia's zwei zahme Häschen und was denn sonst noch die Knaben Merkwürdiges und Interessantes von ihren langen Streifzügen im Walde zurückgebracht hatten.
Zuletzt, als er von der großen Buche hörte, die sechs Mann nicht umklaftern könnten und deren Alter man auf tausend Jahre berechne, wendete er sich an den General und fragte, ob sie wohl Zeit hätten, bis dorthin zu gehen. Der General sah nach der Uhr und meinte, er glaube es verantworten zu können. So machte sich denn die ganze Gesellschaft auf den Weg, voran der Prinz in Begleitung der Knaben und Silvia's, denen der General und der Förster in einiger Entfernung folgten. Noch weiter zurück waren die beiden riesenhaften Bedienten, die durch die gemeine Umgebung, in welche sie die Laune ihres prinzlichen Gebieters versetzt hatte, ernstlich beleidigt schienen.
Dem General war der Vorschlag des Prinzen sehr erwünscht gekommen; er mußte auf diesem Spaziergange Gelegenheit finden, sich mit dem Förster, der ihm bisher sichtlich ausgewichen war, ausführlich zu unterhalten. Der Förster seinerseits, der dies voraussah, hatte keine besonders freundliche Miene zu dem Vorschlag des Prinzen gemacht und ging jetzt ernst und schweigsam neben dem General her.
Der Wind hatte sich erhoben und rauschte durch die Wipfel, über denen dunkle Wolken sich gegen Westen wälzten und die safranfarbene Helle, die von dort durch die Bäume schimmerte, mit jedem Augenblicke mehr verdunkelten. Unter den Füßen der Dahinschreitenden raschelte das dürre Laub. Dem Förster war es schier unheimlich. Er wußte nicht, was es war: der heraufziehende Sturm, den er bereits in allen Gliedern spürte, oder die Nähe des vornehmen Mannes an seiner Seite, gegen den er so viel auf dem Herzen hatte.
Der General brach zuerst das Schweigen. Er sprach von vergangenen Zeiten, wo sie zusammen durch den Wald gestreift wären und Vogelnester gesucht hätten; er erinnerte sich Anton's als eines schlanken, vielversprechenden Knaben und bedauerte, daß dieser talentvolle, regsame Mensch in Folge seiner grenzenlosen Unbeständigkeit so ganz verarmt und körperlich wie geistig gebrochen sei. Dann kam er auf Fräulein Sara Gutmann zu sprechen, wie sie noch immer ihre schöne Wohnung im Schlosse habe und bis an ihr Lebensende behalten werde; in welcher hohen Gunst sie bei dem Prinzen, ja selbst beim Könige, in welchem Ansehen sie überhaupt bei Hofe stehe. Leider hätten gichtische Anfälle in letzterer Zeit die sonst so bewunderungswerthe Rüstigkeit der trefflichen Dame beeinträchtigt und sie bei allen ihren gesellschaftlichen Verbindungen die Vereinsamung und die Trennung von ihrer Familie bitter empfinden lassen. Er sei vollkommen der Ansicht seiner Freundin, daß Mißhelligkeiten in der Familie zumeist auf Mißverständnissen beruhten, die, ohne daß man etwas zu ihrer Berichtigung thue, sich mit der Zeit ganz von selbst aufklärten.
Sehen Sie, lieber Herr Gutmann, sagte der General, ich bin davon so fest überzeugt, daß ich mich keinen Augenblick besonnen habe, von Seiten des Fräulein Gutmann der Ueberbringer einer Bitte zu sein, deren Erfüllung ganz von Ihnen abhängt und durch deren Gewährung, glaube ich viel Gutes nach allen Seiten hin bewirkt werden könnte, Fräulein Gutmann fühlt sich, wie ich schon sagte, einsam, inmitten einer großen und anregenden Gesellschaft; sie verlangt nach einem Wesen, das sie lieben, dem sie, wenn sie dermaleinst stirbt, ein nicht unbedeutendes Vermögen, welches ihre Sparsamkeit im Laufe dieser Jahre aufhäufte, mit gutem Gewissen vermachen kann. Wo soll sie ein solches Wesen finden, als da, wo es des Suchens gar nicht bedarf, ich meine, im Schooße ihrer Familie? Mein lieber Herr Gutmann, ich mache nicht gern lange Umschweife, am wenigsten, wo die Sache so einfach ist. Wenn Sie sich entschließen könnten, Ihr Töchterchen von sich zu geben, ich glaube – nein, ich bin fest überzeugt, daß Sie mit diesem Einen Schritt dem liebenswürdigen, anmuthigen Kinde die glänzendste Zukunft eröffnen würden.
Ein heftigerer Windstoß sauste durch die raschelnden Blätter; der Förster fühlte ein Beben durch den ganzen Körper, aber er bezwang sich und sagte so ruhig, als er irgend vermochte:
Excellenz sind kein Freund von langen Umschweifen, Excellenz wissen wohl von früher her, daß ich es ebenso wenig bin, und so will ich Excellenz denn ohne Umschweif sagen, daß ich mein Kind lieber todt zu meinen Füßen sehen möchte, als in dem Hause und der Obhut meiner Schwester Sara.
Der General erbleichte.
Sie sprechen von einer Dame, die ich schätze, die sich der vollen Achtung des Kronprinzen erfreut, sagte er.
Ich spreche von meiner Schwester, erwiederte der Förster mit unterdrückter Leidenschaft, und das will wohl noch etwas mehr sagen. Ja, Excellenz, ich wäre sicher nicht auf dies Capitel gekommen, aber weil Sie mich denn doch einmal darauf gebracht haben, so mag nun auch herunter, was mich auf dem Herzen drückt. Die Sara hat nicht gehandelt, wie meines Vaters Tochter handeln mußte; sie hat sich, als sie noch bei den Eltern lebte, vor übler Nachrede nicht zu bewahren gewußt, und als sie nach der Eltern Tode, sehr gegen meinen Willen, in die Residenz zog und Haushälterin beim Minister v. Falkenstein wurde, ist das Ding schlimmer und schlimmer geworden. Zum Minister v. Falkenstein, der nie verheirathet und wegen seiner schlimmen Lebensweise bekannt war, zöge kein ehrliches Mädchen. Das haben mir die Leute in's Gesicht gesagt, und ich habe es hinunterschlucken müssen. Dann haben die Leute noch mehr gesagt – und Excellenz wissen, was die Leute gesagt haben, und das sage ich Euer Excellenz: wenn meine Ehrfurcht vor Ihrer Familie und insbesondere vor dem Freiherrn, meinem gnädigen Herrn, minder groß wäre, als sie ist, der Förster Fritz Gutmann wäre damals zu Ihnen gekommen und hätte Sie zur Rechenschaft gezogen von wegen – was Excellenz nun, da so viel Wasser darüber bergab gelaufen, mit Gott und Ihrem Gewissen abmachen mögen.
Der Förster schwieg, weniger weil er sich ganz ausgesprochen hatte, als weil ihm die Leidenschaft für einen Moment den Athem raubte. Der General war noch blasser geworden. Gut, sehr gut, wir wollen das nicht vergessen, murmelte er durch die Zähne.
Machen Excellenz damit, was Sie wollen und können, sagte der Förster. Ich wiederhole, daß es mir nicht in den Sinn gekommen wäre, alte Geschichten, die vergessen sein sollten, wieder an's Licht zu ziehen, wenn Excellenz mich nicht selber darauf gebracht hätten. Es thut mir sehr, sehr leid, daß so etwas an einem solchen Tage, wo ich durch die Anwesenheit des Kronprinzen so hoch geehrt werde, zur Sprache kommen mußte.
Der Förster hatte das kaum gesagt, als von der großen Buche her, von der sie noch eine Strecke entfernt waren, die helle Stimme des Kronprinzen in lautem, ja kreischendem Tone scheltend und hilferufend sich vernehmen ließ. Der General beschleunigte seine Schritte; der Förster folgte ihm, voller Unruhe über die Veranlassung dieses seltsamen Lärmens.
Der Kronprinz war mit seiner jungen Begleitung unter Lachen und Scherzen den Waldpfad hinaufgegangen. Er sprach über die Achsel gewandt lebhaft zu den Knaben, die unwillkürlich ein wenig zurückblieben. Gegen Silvia war er besonders zuvorkommend; er erklärte, daß sie seiner Cousine, der Prinzeß Mathilde, sprechend ähnlich sehe, nur daß sie noch zehnmal hübscher sei; sie müsse durchaus nach der Residenz kommen, er wolle ihr selbst alles Sehenswürdige zeigen. Auch müsse sie reiten lernen, wie Prinzeß Mathilde – er habe einen kleinen arabischen Zelter, der solle für sie zugeritten werden, und so auf dem Zelter in langem Reitkleide von dunkelblauem Sammet und einem kleinen Barret, von dem weiße Straußenfedern nickten, wolle er sie malen lassen. Das Bild werde natürlich in seinem Zimmer über seinem Arbeitstische hangen – oder besser noch in seinem Schlafgemach, dem Bette gegenüber, so daß seine Augen beim Erwachen sogleich darauf fielen.
In diesem Tone plauderte der Prinz unaufhörlich, und Silvia, die das beklommene Gefühl, welches sie im ersten Augenblicke gehabt hatte, längst losgeworden war, blieb ihm keine Antwort schuldig. Sie lachte und scherzte so frei und unbefangen, daß Henri und Walter nicht ihren Ohren trauten. Leo hatte kaum ein Wort gesprochen; er hielt sich, wo es irgend anging, in scheuer Ferne; auf ein paar Fragen, welche der Prinz an ihn gerichtet, hatte er nur zögernd und stockend, geantwortet.
So waren sie bis zur großen Buche gekommen – derselben Buche, an welcher an jenem Abend der Streit zwischen ihm und Silvia stattgefunden hatte. Die ganze Scene kam ihm wieder in die Erinnerung. Er sah sie vor sich stehen, bleich, mit Thränen in den großen blauen Augen; er hörte sie sagen: Schlag' zu, ich bin ja nur ein Mädchen!
Henri und Walter waren davon gesprungen, den Reitknechten zu sagen, daß sie die Pferde bereit halten sollten. Der Prinz scherzte mit Silvia, die er an der Hand gefaßt hatte.
Ich reite nun fort, aber ich komme morgen wieder, soll ich?
Ganz wie Sie wollen.
Du mußt aber eben so hübsch sein, wie heute.
Dazu kann ich nichts.
Der Prinz sah sich um; es war Niemand da außer Leo.
Du mußt mir einen Kuß geben, Silvia.
Das werde ich nicht thun.
Warum nicht?
Weil ich nicht will.
So nehme ich mir einen.
Der Prinz suchte einen Kuß zu erhaschen, Silvia riß sich los und sprang lachend seitwärts, der Prinz ihr nach; plötzlich fühlte er sich von hinten an dem rechten Armgelenke festgehalten. Er wendete sich um und erschrak ein wenig, als er unmittelbar in Leo's dunkle, zornblitzende Augen blickte. Aber der Schreck dauerte nur einen Moment, dann kam dem Fürstensohne das Unerhörte zum Bewußtsein, daß Jemand es wage, an ihn die Hand zu legen.
Laß los! sagte er mit leiser, heftiger Stimme.
Nicht, bis Sie versprechen, Silvia nicht zu küssen.
Laß los! rief der Prinz lauter und versuchte seinen Arm frei zu machen, aber die Finger, die ihn umspannt hielten, schlossen sich fest und fester.
Laß los! schrie der Prinz und schlug mit der linken Faust seinem Gegner, der jetzt vor ihm stand, in das Gesicht. Das Blut spritzte aus Leo's Lippen, aber er biß nur die Zähne über einander, und seine Augen glühten wie brennende Kohlen.
Hilfe, Hilfe! kreischte der Prinz, vor Wuth und Zorn und Angst weinend. Hilfe, Hilfe, der Junge ist verrückt; er will mich umbringen, Hilfe!
Der General, der Förster, die Bedienten eilten herbei. Silvia stand an der großen Buche, bleich und an allen Gliedern zitternd; Leo, der den Prinzen nun losgelassen hatte, blickte wild und scheu, wie ein junger Löwe, dem man die Beute abgejagt hat; der Prinz tobte. Er werde es dem Könige sagen, der Junge solle auf die Festung, solle gehängt werden. Nur mit Mühe gelang es dem General, ihn einigermaßen zu beruhigen. Er versicherte Sr. Hoheit, daß der Bursche exemplarisch bestraft werden solle. Nur jetzt möge Se. Hoheit die Sache auf sich beruhen lassen, um so mehr, als es die höchste Zeit sei, daß sie nach dem Schlosse zurückkehrten.
In übelster Laune wurde der kurze Weg nach dem Försterhause zurückgelegt. Dort stieg der Prinz alsbald zu Pferde und sprengte im Galopp von dannen, ohne den Förster, Tante Malchen, ja nicht einmal Silvia, geschweige denn die Knaben, eines Blickes zu würdigen.
Du gehst auf Deine Stube und bleibst da, bis ich komme, sagte der Förster ernst zu Leo.
Schweigend, gesenkten Hauptes entfernte sich der Knabe.
Der Förster machte seinem Aerger in heftigen Worten Luft. War es doch wirklich, als ob heute Alles quer gehen sollte! Zum erstenmale vielleicht, so lange sie lebte, zankte er seine Silvia tüchtig aus. War sie doch schließlich – wie er sich im Geheimen sagte – an Allem schuld. Um ihrethalben hatte er dem General, der doch am Ende seines Herrn Bruder und überdies sein Gast gewesen war, so harte Dinge gesagt; um ihretwillen war – nach dem, was er in der Eile über den Vorgang hatte ermitteln können – Leo mit dem Prinzen in Streit gerathen. Den Förster überlief es ganz kalt, wenn er dachte, was daraus für ein Unglück hätte entstehen können; er war über die Folgen noch keineswegs beruhigt, und der alte Glaube, in dem er groß geworden war, flüsterte ihm etwas von Antastung der gesalbten Person des Thronfolgers, von Majestätsverbrechen und ähnlichen Schrecknissen in's Ohr. Aber dann sagte ihm eine andere Stimme: Der Leo hat brav gehandelt; er durfte es nicht leiden, daß Jemand, er sei, wer es sei, das Mädel küßte; so ein Kind ist sie nicht mehr, daß sie sich von Jedermann küssen zu lassen braucht. Ja, was hatte der Junge denn im Grunde anders gethan, als die Ehre seiner Familie vertheidigt, just so, wie ich selbst gethan, als ich dem General die Vergangenheit in die Zähne rückte.
Der Förster war schon auf dem Wege, Leo aus seiner Haft zu befreien, aber auf der untersten Stufe der Treppe blieb er stehen und sagte bei sich: Schaden kann es dem Jungen nicht, wenn man ihm einmal Gelegenheit giebt, über die Folgen seiner Heftigkeit ernstlich nachzudenken. Je älter man wird, je schwerer lernt sich das. Habe ich es doch heute an mir selbst erfahren. Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es, pflegt ja mein Bruder Anton zu sagen. So will ich denn einmal in seinem Geiste mit dem Jungen verfahren.
Fritz Gutmann nahm seine Flinte vom Pflock, hing sich die Jagdtasche um und ging in den Wald, sein aufgeregtes Gemüth zu beruhigen, was ihm, wie er aus langjähriger Erfahrung wußte, nirgends besser, als unter dem freien Himmel gelang.