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Siebenundvierzigstes Capitel.

Es war keine augenblickliche Laune gewesen, was Silvia bewog, der Einladung Emma's, welche sie am Morgen zusammen mit Amélie ausgeschlagen hatte, plötzlich am Nachmittage dennoch Folge zu geben. Leo, der von dem Freiherrn kam, war ihr heute begegnet, als sie sich aus ihrem Zimmer in die Wohngemächer begeben wollte. Er hatte ihr gesagt, daß er am Abend bei Herrn von Sonnenstein einige andere Politiker treffen werde, und daß Emma gebeten habe, die Herren möchten nach Beendigung ihrer Conferenz in ihrem Salon den Thee einnehmen. – So werden wir uns dort sehen, hatte Silvia geantwortet und war dann rasch an ihm vorüber den Corridor hinaufgegangen.

Silvia traf Emma allein. Emma rauschte ihr in einem prachtvollen weißen Kleide entgegen; ihr volles schwarzes Haar war in einer phantastischen Frisur gekräuselt, ein glänzender Schmuck blitzte an ihrem weißen Halse. Sie umarmte Silvia: es war so lieb von Silvia, nun doch noch zu kommen, die einzige von sechs eingeladenen Damen, die alle im Laufe des Tages hatten absagen lassen. – Es ist kein Bedürfniß nach wahrer Freundschaft mehr unter den Menschen, rief sie aus, indem sie aus den halb zugedrückten Augen einen Blick nach der Zimmerdecke warf; nur ernsthafte Menschen, wie Sie und ich, haben noch das schmerzliche Gefühl der Vereinsamung auf dem Markte des Lebens.

Die halbe Stunde, welche Emma in ihren luxuriösen Gemächern voll Sorge, daß Niemand kommen und ihre neue Robe bewundern werde, allein zubringen mußte, hatte sie sehr sentimental gemacht, und mit Silvia konnte man ihrer Meinung nach überhaupt nicht von Alltäglichkeiten sprechen. Silvia war heute entschlossen, sich durch Emma's Plattheiten nicht wie sonst aus der Fassung bringen zu lassen, und Emma war ganz entzückt, als sie sah, daß sie heute immer Recht behielt; sie habe freilich stets geglaubt, daß sie mit Silvia in allen Stücken sympathisire, aber man komme ja in dem wirren Treiben der Gesellschaft weder zur Erkenntniß seiner selbst, noch seiner Mitmenschen; die Einsamkeit und besonders die schönste aller Einsamkeiten, die Einsamkeit zu Zweien, sei die Atmosphäre, in welcher allein die zarten Blumen der Liebe und Freundschaft gedeihen könnten.

Wundern Sie sich nicht, Liebe, rief Emma, mich heute so ganz anders zu finden als sonst wohl! Ich bin nicht, was ich scheine, und muß oft kindisch und übermüthig scheinen, nur, um mein bewegtes Gemüth nicht den Blicken der profanen Menge preiszugeben. Und dann, gestehe ich Ihnen auch gern, daß in neuester Zeit der intime Umgang mit Ihrem ausgezeichneten Vetter mir manche Tiefen des Lebens, über die ich sonst leichtsinnig hinweg flatterte, bedeutungsvoll erschlossen hat.

Silvia's große Augen hoben sich in einem schnellen finstern Blick und senkten sich alsbald wieder; aber Emma bemerkte das nicht und fuhr, ohne sich zu unterbrechen, fort.

Ich weiß nicht, Liebe, wie Sie mit Ihrem Vetter stehen; vermuthlich gar nicht, wenigstens erinnere ich mich nicht, daß Sie seiner, oder er Ihrer Erwähnung gethan hätte; aber das ist freilich so der Welt Lauf. Was man so nahe hat, achtet man nicht; nur das Fremde lernen wir wirklich kennen und schätzen. Und doch, welch ein Mann ist dies! Wie gleicht er so gar nicht unseren übrigen jungen Herren! Ich muß gestehen, er ist für mich ein Phänomen, das an dem dunklen Himmel dahinfährt und alle Sterne, an denen es vorübereilt, gänzlich verdunkelt.

Emma war nun auf ein Thema gekommen, das ihr einen unerschöpflichen Stoff bot. Indem sie Leo's glänzende Eigenschaften in ihrer Weise mit Uebertreibung pries, ließ sie sehr deutlich durchblicken, daß sie sich an der ausgezeichneten Aufnahme, welche Leo in dem Cirkel ihres Vaters und überhaupt in der Gesellschaft zu Theil geworden sei, das größte Verdienst zuschreibe; sie habe Alle auf eine so bedeutende Erscheinung aufmerksam gemacht und für ihren Theil ein Beispiel gegeben, wie man das Ungewöhnliche nicht mit dem gewöhnlichen Maßstabe messen dürfte.

Was soll die conventionelle Form, rief sie, wo das Herz zum Herzen, der Geist zum Geiste spricht! Ich bin vorsichtig in der Wahl meiner Freunde, und man muß mich lange suchen, ehe man mich findet; aber in diesem Falle wäre eine solche Zurückhaltung kindisch. So hat sich denn zwischen mir und ihm in überraschend kurzer Zeit ein Verhältniß ausgebildet, das ich ein geschwisterliches nennen würde, wenn die Welt weniger geneigt wäre, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen. Was ist Ihnen, Liebe?

Silvia hatte sich plötzlich erhoben und stand jetzt, nachdem sie ein paar hastige Schritte gethan, abgewendet da. Emma, die ihr nachgeeilt war, mußte ihre Frage nochmals wiederholen, bis Silvia mit dumpfer Stimme antwortete, sie finde es sehr heiß in dem Zimmer, die Hitze habe ihr das Blut nach den Schläfen getrieben, es werde wohl bald wieder vorübergehen. Emma holte dienstfertig Essenzen aller Art herbei, mit denen sie Silvia überreichlich besprengte; sie selbst leide oft an dergleichen Zufällen, es sei ihr eine Freude, zu finden, daß sie mit ihrer Freundin – denn als solche dürfe sie Silvia erst von heute Abend an betrachten – selbst in dem geheimen Leben der Nerven eine so entschiedene Aehnlichkeit habe. Silvia bat, sich nicht weiter zu bemühen. Indem Emma noch immer zwischen ihren Fläschchen kramte, meldete der Bediente die Ankunft der Herren.

Sie traten plaudernd und lachend herein und begrüßten die Damen. Der Bankier stellte Silvia die beiden Herren vor, die ihr noch nicht bekannt waren – einen höheren Beamten und einen Gutsbesitzer, Beide Kammermitglieder von großem Ansehen in der liberalen Partei; Doctor Paulus sei, wie er wisse, ein alter Bekannter von ihr, Leo ein noch älterer, obgleich er der Jüngste in der Gesellschaft, die Damen hier wie überall selbstverständlich ausgenommen.

Herr von Sonnenstein war ganz besonders scherzhaft, und so waren auch die Anderen sehr aufgeräumt und mittheilsam; aber unter dieser heiter-geselligen Oberfläche war dem schärferen Blick eine gewisse Erregtheit, ja Gereiztheit deutlich genug erkennbar. Nur Doctor Paulus hatte sich aus der stürmischen Conferenz, die stattgefunden haben mochte, den Gleichmuth der Seele auch diesmal gerettet. Er setzte sich zu Silvia und fragte sie nach ihrem Bruder, ob sie sein neuestes Werk, das, wie er höre, jetzt im Druck vollendet sei, schon gelesen habe? – Ich sehe, fuhr er fort, als Silvia die Frage verneinen mußte, dem Buche mit der äußersten Spannung entgegen. Es wird, wenn ich nicht irre, für Walter's Zukunft entscheidend sein; nicht blos deshalb, weil er der Partei der Dunkelmänner diesmal offen den Handschuh hinwirft und sie nicht zaudern werden, denselben in ihrer Weise aufzunehmen, sondern weil jetzt, wo Walter ein großes Thema groß zu behandeln gezwungen ist, es sich herausstellen muß, ob er ein Poet von Gottes Gnaden ist, oder nicht. Mir wird er nicht schlechter, wenn er es nicht ist, denn ein tüchtiger Mensch wird er alle Wege bleiben; und so habe ich ihn denn schon vor Wochen auf die Möglichkeit des Falles, daß er seine Kraft auf ein anderes Feld werfen muß, vorzubereiten gesucht.

Silvia hörte nur mit halbem Ohre zu: der Doctor bemerkte ihre Zerstreutheit, und der Richtung, welche ihre Blicke hatten, folgend, sagte er:

Haben Sie einen großen Einfluß auf Ihren Vetter, Fräulein Silvia?

Nein – weshalb? erwiederte Silvia, die Augen schnell zu dem Doctor wendend.

Weil, entgegnete dieser, ich gern einen guten, klugen Menschen wüßte, der etwas, oder genauer, der viel, sehr viel auf ihn wirken könnte. Von Walter, das weiß ich, hat er sich mehr und mehr zurückgezogen, und doch wäre Walter gerade der rechte Mann, wenn es überhaupt ein Mann vermag. Vielleicht vermag es nur eine Frau, und es fuhr mir eben durch den Kopf, Sie könnten diese Frau sein.

Aber um was handelt es sich, Herr Doctor? fragte Silvia, und ihre Stimme und ihre Mienen verriethen eine ungewöhnliche Bewegung.

Eine große Kraft vor einem großen Irrthum, vielleicht vor dem Untergang zu bewahren. Denn welcher Irrthum, zumal für einen Politiker, wäre großer, verhängnißvoller, als der, zu wähnen, er könne gegen den Strom schwimmen, ja diesen Strom selbst umlenken, zurückstauen und zwingen, dahin zu fließen, von wo er kommt? Ich will nicht sagen, daß Ihr Vetter schon auf diesem Punkte hält – wäre dies der Fall, so vermöchte ihm Niemand mehr zu helfen – ich meine nur, daß er sich in einer Richtung bewegt, die bis zu diesem Punkte führen kann. Vorläufig wähnt er nur – und das ist freilich schon schlimm genug – ein einzelner Mann sei im Stande, in sich die Summe der Kräfte, der Einsichten, der Kenntnisse zu vereinigen, die sonst eine gute Zahl tüchtiger Parteiführer nur mit Mühe, und auch dann niemals vollständig, unter sich gegen- und wechselseitig zusammenschießt. Wie verderblich ein solcher Wahn werden kann, ist leicht begreiflich. Wenn wir auch dann und wann einmal in der Maßlosigkeit der absoluten Selbstgenügsamkeit Berge versetzen zu können glauben, so bricht sich diese Ueberhebung an der unveränderlichen Schwere der Dinge, und der Verzweifelnde, mit Fug und Recht an seinen Kräften Verzweifelnde, greift nach Allem und Jedem, was nur ungefähr so aussieht, als könne es seiner Ohnmacht zu Hilfe kommen.

Der Arzt machte eine Pause, als er eine unruhige, vielleicht ungeduldige Bewegung Silvia's bemerkte, und sagte: Ich weiß nicht, ob Sie mir gefolgt sind, Fräulein?

Doch, ja, erwiederte Silvia, ich bin Ihnen gefolgt; ich meine nur, daß große Menschen nicht mit dem Maßstab der Alltäglichkeit gemessen werden dürfen.

Große Menschen, erwiederte Doctor Paulus lächelnd, große Menschen! Wer ist groß? Wenn ich ein Gläubiger wäre, würde ich antworten: Niemand, denn der allmächtige Gott; so aber sage ich: Der ist groß unter uns, der sich zu dem Gedanken der Solidarität der menschlichen Interessen durchgerungen hat, der diesen Gedanken in alle Modificationen, so weit es ihm möglich ist, verfolgt, und dessen ganzes Thun in Folge dessen nun auch nichts weiter, als die Objectivirung dieses Gedankens ist. Diese Größe aber, liebes Fräulein, ist, wenn mich nicht Alles täuscht, keineswegs die, nach welcher Ihr Vetter strebt.

Und verzeihen Sie, Herr Doctor – warum sagen Sie, der Sie ja, wie ich weiß, zu ihm schon seit langer Zeit in genauerer Beziehung stehen, ihm das nicht Alles selbst?

Würde ich mich an einen Dritten wenden, wenn ich, was in meiner Macht steht, nicht schon vergeblich versucht hätte? erwiederte der Arzt mit sanftem Vorwurf.

Silvia erhob sich rasch. Ich will versuchen, was ich vermag, sagte sie und ging dann zu den Uebrigen, die um den Kamin herum saßen.

Doctor Paulus folgte ihr langsam.

Die Unterhaltung war jetzt eine allgemeine geworden; man sprach vom Theater, von neuen Büchern, von der Schwierigkeit, mit der sich in Deutschland selbst gute Werke einen Weg bahnen, und welche Ursachen diese Erscheinung in einem wegen seiner hoher Bildung gepriesenen Lande doch haben möchte. Man erörterte mit Einsicht und Kenntniß die Vortheile und Nachtheile, die dem Deutschen, der nur Hauptstädte, aber keine Hauptstadt hat, aus dieser Decentralisation auch für die ästhetische Cultur erwüchsen. Man war im Allgemeinen der Ansicht, daß, welche Förderung auch in einer früheren Epoche die politische Zersplitterung unserer Literatur gewährt habe, heutzutage davon nur in einem sehr beschränkten Sinne die Rede sein könne. Leo wollte selbst dies nicht zugeben. Ich liebe die Unterscheidung nicht, sagte er, die Goethe in dem bekannten Worte zwischen dem Talente und dem Charakter macht. Wenn der Charakter sich nur im Strome der Welt bilden kann, so gilt das wahrlich vom Talente nicht minder. Ein Talent, das sich in der Stille gebildet hat, ist ganz gewiß eine Treibhauspflanze, deren Blüthen in der rauhen Luft der Wirklichkeit bald verwelken. Giebt es überhaupt ein Talent ohne Charakter? Ich behaupte nein. Ein Mensch ohne Charakter kann nicht nur nicht richtig handeln, er kann auch nicht richtig denken. In seinen feinsten Schlußfolgerungen wird ihm seine Charakterlosigkeit plötzlich in die Quere kommen, und seinen bis dahin richtigen Gedankengang zum Falschen umbiegen.

Davon bin ich umsomehr überzeugt, sagte Doctor Paulus, als diese Erfahrung, die Jeder im täglichen Leben machen kann und die sich nur auf zu vielen Seiten unserer schönen Literatur findet, durch die höchste Philosophie auf das Herrlichste bestätigt wird. Eines und Alles! Denken und Ausdehnung; ideelles und reales Sein – es sind nur Anschauungsweisen der einen untheilbaren, unveränderlichen Substanz.

Der Doctor hatte dies, zu Leo gewendet, gesagt mit einem Ausdruck, dem man das herzliche Verlangen, eine Brücke der Verständigung zu finden, deutlich anhörte; aber Leo schien nichts davon zu bemerken, oder bemerken zu wollen, und fuhr in dem Tone schneidender Kälte, in welchem er bisher gesprochen hatte, fort:

Man nennt uns im Auslande ein Volk von Denkern; ich meine, wir sollten uns sehr besinnen, bevor wir ein so zweideutiges Compliment acceptiren. Wenn Denken und Handeln, wie soeben behauptet wurde, im höchsten Sinne identisch sind, so denken wir entweder gar nicht, oder unsere Gedanken sind trübe, verworrene Phantasien eines überreizten und erschöpften Gehirns. Sind wir doch so weit gekommen, daß wir jene Identität, die allen kräftigen Völkern, ja allen kräftigen Individuen angeboren ist, und von ihnen ohne langes Besinnen bethätigt wird, geradezu leugnen, daß man alle Tage in tausend Wendungen den Satz ausstellen hört: Warum sollen wir unseren Arm nach den Früchten ausstrecken, die, wenn sie reif sind, uns von selbst in den Schooß fallen? Und zu solchen Axiomen, die weiter nichts sind, als die Erklärung unseres vollständigen, schmachvollen Bankerotts an jeder Energie, jeder Virtus; zu solchen Argumenten, die den Sätzen der Philosophie, den Lehren der Geschichte, ja dem gesunden Menschenverstande Hohn sprechen, rufen die Erwählten der Nation, die Verwalter ihres geistigen und materiellen Kapitals: Ja und Amen! Sie werden es rufen, bis einmal wieder der Genius des Volkes einen Mann erweckt, der das Verhältniß von Recht zu Macht ein wenig anders faßt und aus diesem Konglomerat von dumpfen Träumern ein Volk von handelnden Menschen macht.

Silvia hatte, während Leo so sprach, unwillkürlich die Mienen der anderen Männer beobachtet, und da konnte ihr nicht entgehen, daß Leo's Worte in einem genauen Zusammenhange mit dem, was in der Conferenz verhandelt war, stehen mußten. Man blickte einander verlegen an, und selbst auf Doctor Paulus' Stirn legte es sich wie eine Wolke. Mit schneller Gewandtheit sagte Silvia:

Du hast die Unterhaltung von dem literarischen Gebiet auf das politische gelenkt, das heißt auf ein Feld, wohin wir Frauen Euch Männern nicht folgen können. Ich dächte, wir kehrten zu unserem ursprünglichen Thema zurück, das mir überdies noch lange nicht erschöpft scheint.

Doctor Paulus fiel sogleich mit einem Scherz ein, aber die Verstimmung wollte nicht weichen, trotzdem Emma, der bei den ernsthaften Gesprächen ganz ängstlich zu Muthe geworden war, alle ihre gesellschaftlichen Talente aufbot. Einer von den Herren erinnerte sich, daß er noch eine Verabredung für heute Abend, ein anderer, daß er noch einen Commissionsbericht für die morgende Sitzung zu beenden habe. Silvia fand, daß es schon sehr spät sei, und wollte nach Hause, trotzdem der Wagen des Freiherrn, der sie hätte abholen sollen, noch nicht da war: sie zöge es vor, zu gehen. Leo bot ihr seine Begleitung an, die sie annahm. Emma war sehr verwundert, als ihre Gesellschaft so plötzlich auseinander fiel. Sie umarmte Silvia beim Scheiden und nannte Leo einen bösen Menschen, weil sie überzeugt sei, daß er durch sein conversationelles Talent die Gesellschaft hätte halten können. Leo schien dies Compliment nicht zu hören, wenigstens erwiederte er nichts. Silvia blickte finster drein. Gleich darauf hatten sie zusammen das Haus des Bankiers verlassen.


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