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Seit dieser Nacht ging mit Leo eine Veränderung vor, die Allen auffiel. Nicht blos, daß sein für gewöhnlich schon blasses Gesicht noch blasser geworden war – in seiner ganzen Haltung, in seiner Stimme selbst zitterte eine Unsicherheit, die man früher nicht an ihm bemerkt hatte. Sonst war er wohl scheu und zurückhaltend gewesen, aber durch diesen Schleie hatte immer der Stolz mit trotzigen Augen hervorgeblickt; von diesem Stolz war jetzt wenig mehr zu spüren, die dunklen, flammenden Augen suchten den Boden. Auch in seinem Betragen gegen die Anderen vermißte man jetzt die frühere Selbstständigkeit. Ja, manchmal hatte er die Miene eines bösen Schuldners, der jeden Augenblick fürchtet, man werde das geliehene Capital von ihm zurückfordern.
Nur in Einem Punkte war er derselbe geblieben, in seinem eisernen, durch nichts zu brechenden Fleiße. Die meisten Stunden des Tages, und vorzüglich die Abendstunden, verbrachte er in der Bibliothek unter seinen Büchern. Hier war er in der Nähe des Doctor Urban, der entweder in seinem Zimmer nebenan, oft auch in der Bibliothek arbeitete. Leo hatte die Nähe des Lehrers nie wie die beiden anderen Knaben möglichst gemieden; jetzt schien er dieselbe mit Eifer zu suchen.
So saßen sie eines Abends – Henri und Walter waren auf dem Schlosse, Frau Doctor Urban war schon zu Bett gegangen – an dem großen viereckigen Tisch mit der grünen Tuchdecke gegenüber. Zwischen ihnen brannte eine doppelarmige Lampe. Der Doctor, welcher an seiner Predigt für den nächsten Sonntag arbeitete, schrieb eifrig mit leichter, ja beinahe fliegender Feder; Leo, der in einem griechischen Classiker gelesen hatte, stützte jetzt den Kopf in die Hand und blickte lange und nachdenklich zu dem eifrigen Gelehrten hinüber.
Doctor Urban, der eben mit einer Seite zu Ende war, legte die Feder hin, um das Geschriebene mit den Augen noch einmal zu überlaufen. Er nickte wohlgefällig; was er da las, hatte augenscheinlich seinen vollständigen Beifall.
Wollen Sie es nicht laut lesen, Herr Doctor? fragte plötzlich Leo.
Der Doctor schaute auf, nicht eben verwundert; er war dergleichen bei seinem Zögling schon gewohnt.
Warum? fragte er.
Thun Sie's doch, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, bat Leo noch dringender.
Sie sind ein wunderlicher Christ, sagte der Doctor mit einem eitlen Lächeln; was ich da eben geschrieben – es ist allerdings ganz aus dem Zusammenhange – aber Sie haben ein Ohr für stilistische Schönheiten; ich glaube, der Rhythmus in diesen Perioden ist mir gut gelungen. Also hier: Es ist ein eigen Ding um den Glauben, meine Geliebten im Herrn. Er ist nicht wie der Schaum des Meeres, der oben auf den Wellen schaukelt und den die Winde verspritzen hierhin und dorthin, sondern wie die Perle, die in der purpurnen Tiefe ruht. Darum, so Ihr den Glauben gewinnen wollet, die kostbare, glänzende, unschätzbare Perle, müßt Ihr tauchen in die Tiefe, ja in den Abgrund! Müßt Euch nicht abschrecken lassen durch die Ungeheuer, von denen der Abgrund wimmelt – den grinsenden Zweifel, den zähnefletschenden Hohn, den beißenden Spott. Tief und tiefer, liebe Brüder und Schwestern, tief und tiefer! Die Perle des Glaubens entgeht Euch nicht! Ihr habt sie, Ihr haltet sie, und der Abgrund verschwindet mit all' seinen Grauengestalten – auf dem sanften Grün himmlischer Wiesen wandelt fortan Euer heiliger Fuß; tröstend und dienend umschweben Euch die lichten Gestalten lieblicher Engel.
Der Pastor hatte seinen weichsten Kanzelton bei den letzten Worten angeschlagen. Er schaute von seinem Blatte auf, den sicher erwarteten Beifall seines Schülers zu vernehmen.
Und haben Sie denn selbst diesen Glauben? fragte Leo.
Die Stimme des Knaben klang hart und rauh, wie die eines Kranken, dessen Geduld erschöpft ist. Doctor Urban hatte ein feines Ohr und hörte, daß jene Stimme aus einer Brust kam, die einst übervoll gewesen, jetzt aber leer und durch bloße Phrasen nimmer wieder zu füllen war.
Sie sind ein wunderlicher Mensch, sagte er ausweichend.
Ich möchte eine offene Antwort, Herr Doctor, sagte Leo; ich frage nicht aus müßiger Neugier; es handelt sich um meine Seligkeit. Wenn das wahr ist, was Sie da geschrieben haben, so bin ich ein Elender, ein Verworfener; ist es aber nicht wahr, was ist denn das Wahre? Und warum sagt man es nicht, sondern leere Worte, an die man selbst nicht glaubt?
Der Pastor lächelte; es war ein sonderbares, unheimliches Lächeln.
Sie verlangen viel zu wissen, lieber Leo, sagte er endlich; ich könnte Ihnen beim besten Willen dies Alles nicht so auf der Stelle und so auf einmal beantworten; aber da Sie ein guter Kopf sind und ich Respect vor Ihnen habe – was ich von sehr wenigen Menschen sagen kann, lieber Leo – so will ich Sie wenigstens nicht ganz ohne Antwort lassen, wenn ich auch hie und da für Sie werde in Räthseln zu sprechen scheinen. Etwas, das nothwendig ist, ist, vernünftig, und selbst wenn es nicht vernünftig ist, muß man es doch gelten lassen. Der Glaube aber ist nothwendig; ich will nicht sagen für alle Menschen, nicht für die zum Beispiel, welche, wie wir, den wahren Zusammenhang der Dinge durchschauen, wohl aber für den Pöbel, der eben, weil er seine Blindheit nicht los werden kann, Pöbel ist und immer bleiben wird. Wollen Sie, um mit dem Dichter zu reden – dem Dichter der Freiheit, lieber Leo! – daß man dem ewig Blinden des Lichtes Himmelsfackel leihe? Eine Welt in Flammen ist das Resultat noch jedes Versuches der Art gewesen. Das haben die Weisen aller Zeiten gewußt und haben danach gehandelt. Sie werden den Schlüssel zu diesem Räthsel finden, wenn Sie älter sind. Es ist im Menschenleben nicht anders, als in der ganzen Natur. Damit der Starke nicht auch zum Schwächling werde, müssen die Schwächlinge Schwächlinge bleiben. Fragen Sie Ihren Onkel, ob er es anders in seinen Schonungen hält. Sie sind eine starke junge Tanne, Leo, und dürfen und werden sich durch Ihre Nebenbäume – ich hätte beinahe Nebenmenschen gesagt – nicht in Ihrem Wachsthum hemmen lassen. Ich glaubte eine Zeit lang, das Schicksal habe noch in anderer Weise für Sie gesorgt; aber gleichviel, bei einem Kopf und einer Arbeitskraft, wie Sie sie besitzen, können Sie füglich des Geburtsadels entbehren. Vielleicht – wer kann es wissen – kommt einmal die Zeit, wo Sie mir wiedererstatten können, was ich jetzt für Sie thue; vielleicht erklimmen Sie eine Höhe, auf welcher Sie nur die Menschen achten werden, die zu verachten gelernt haben; wo es Ihnen vollkommen klar sein wird, daß dies scheinbar so fürchterliche Gesetz von der Herrschaft der Starken und Klugen über die Schwachen und Dummen auch eine Ordnung Gottes ist, die aufrecht erhalten sein will, und am besten, sichersten durch gewisse Mittel, deren sich, wie gesagt, die Weisen aller Zeiten bedient haben, aufrecht erhalten wird. Und Leo, wenn Sie einmal auf jene Höhe sich hinaufgeschwungen haben, dann erinnern Sie sich dieser Worte, und erinnern Sie sich auch dessen, der sie Ihnen gesagt hat. – Doch da höre ich die Anderen nach Hause kommen. Was wir hier mit einander verhandelt haben, bleibt natürlich unter uns. Der Anfang der Weisheit ist Verschwiegenheit.
Der Pastor lächelte abermals und reichte Leo die Hand – eine große, kalte, etwas feuchte Hand, die der Knabe mit einem gewissen Schauder berührte. Bis heute war er stumm und trauernd um die Pforten des Paradieses geschlichen, immer harrend, sie könnten sich doch noch einmal wieder öffnen. Nun war auch diese Hoffnung ihm geraubt; die Thür war und blieb verschlossen. Und warum sollte sie nicht verschlossen bleiben? Was dahinter lag, war ja kein Etwas – war nur eine glänzende Phantasmagorie, ein schöner kindischer Traum, ein Nichts.