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Fünftes Capitel.

Als er erwachte, sah er das braune Gesicht seines Onkels über sich.

Der Förster hatte, als er von dem Schlosse kam, sich sogleich nach Feldheim begeben, um mit dem Bruder zu sprechen. zu seinem Leidwesen erfuhr er dort von einem Bauer, der auf dem Felde arbeitete, daß der Doctor – so wurde Anton, der fortwährend in seiner chemischen Küche Getränke kochte und unter anderen Herrlichkeiten auch ein Lebenselixir erfunden haben wollte, von Allen in der Nachbarschaft genannt – schon vor Tagesanbruch mit einem langen Stock in der Hand und einem rothen Bündelchen unter dem Arm das Dorf verlassen habe. Von Leo wollte Niemand etwas wissen. Der Junge ist ja wie eine wilde Katze, meinte eine alte Frau aus der Nachbarschaft; wenn es dämmert und dunkel wird, streicht er aus dem Hause; ich wohne schon an die zehn Jahre ihnen gegenüber und weiß noch heutigen Tages kaum, wie er aussieht. – Der Förster beunruhigte sich nicht, als er das Häuschen verschlossen fand und Niemand auf sein Rufen antwortete. Leo hatte sich ohne Zweifel, der Verabredung gemäß, bereits nach dem Försterhause begeben.

Dahin machte sich denn nun auch Fritz Gutmann auf, und er schlug, um schneller nach Hause zu kommen, denselben wenig betretenen, ihm freilich wohlbekannten Waldpfad ein, den heute Morgen Leo zuerst gegangen und hernach in seiner schweifenden Laune verlassen hatte. Der Pfad führte direct auf eine Brücke, die man aus ein paar Baumstämmen und daran befestigtem schwankendem Geländer ein paar Schritte unterhalb der Wasserfälle über den Bach geschlagen hatte. Von der Brücke gelangte man über eine schöne Wiese und durch ein Stück Waldland zur Försterei.

Als Fritz Gutmann in die Nähe der Brücke kam, fiel ihm ein, daß er seit längerer Zeit nicht an den Wasserfällen gewesen war. Sie hatten heute Morgen, als er über den Schloßberg ging, so erinnerungsreich zu ihm herauf gegrüßt; es packte ihn plötzlich eine Sehnsucht, die Moosgrotte wiederzusehen, in welcher er die Fräulein und den kranken jungen Herrn verborgen hatte. Er bog rechts ab und kletterte am Ufer des Baches hin. Drüben auf dem Ufer flog etwas Weißes durch die Stämme, als er in die Nähe des Bassins kam; es war der Eindruck aber so flüchtig gewesen, daß selbst sein scharfes Auge nicht hatte ausfindig machen können, was es war. Er setzte sich an dem Rande des Bassins auf einen Steinblock, nahm das Gewehr zwischen die Kniee und lehnte den Kopf in die aufgestützten Hände.

Wie eine Melodie, die man nicht wieder loswerden kann, wenn sie uns einmal die Seele bewegt hat, verfolgte ihn das Bild der alten Zeit. In dem langen Gespräch mit dem Freiherrn war es ihm immer gewesen, als hörte er die Knabenstimme von damals, und hernach, als die Unterhaltung im Schlosse fortgesetzt wurde, hatte Fräulein Charlotte ein paarmal »lieber Herr Gutmann« zu ihm gesagt, und das hatte so geklungen, als ob es nicht heute Morgen, sondern vor dreißig Jahren gesagt worden wäre. – Hier war die Stelle. Auf diesem Steine hatte er gesessen in jener Schreckensnacht, und da war Charlotte zu ihm getreten und hatte zu ihm gesagt: Du läßt mich nicht lebend in ihre Hände fallen. Versprich es mir! Und er hatte es ihr versprochen. Das war das erste und das letzte Mal im Leben gewesen, daß sie ihn Du genannt hatte; in einem Augenblicke, von dem sie in ihrer Aufregung glaubte, daß es der letzte sein würde. Und wenn es nun der letzte gewesen wäre! für sie und für ihn! Wäre er da nicht gestorben in der Gewißheit, von ihr geliebt zu sein? Mit ihr gestorben? Konnte das spätere Leben die Seligkeit dieses Augenblickes ersetzen?

So saß der Förster, das Gewehr zwischen den Knieen, das Haupt in die Hände gestützt, und sann und sann. In den Wipfeln zu seinen Häupten rauschte es alte, vergessene Geschichten; die plätschernden Wasser zu seinen Füßen erzählten von Lenz und Jugend und Sonnenschein – vor dreißig Jahren!

Plötzlich fuhr der Förster jäh aus seinen Träumereien auf. Ein Laut wie das Aechzen eines Sterbenden hatte sein Ohr berührt. Noch einmal, lauter, vernehmlicher hörte er den Klageton; und als er sich hastig durch das dichte Farrenkraut nach der Stelle, von der das Aechzen kam, hingearbeitet hatte, sah er seines Bruders Sohn mit zerschmettertem Schädel, todt oder sterbend.

Dem Förster stand das Herz still bei diesem furchtbaren Anblick; aber der alte, vielerprobte Mannesmuth verstattete kein müßiges Entsetzen. Und als er mit dem Wasser aus dem Bache das Blut von der Stirn und den Augen des Knaben weggewaschen hatte, athmete er tief auf, und etwas wie ein Lächeln flog über das ernste, wettergebräunte Gesicht. Es war keine Todeswunde, nur eine ganz tüchtige Schramme, die einen starken Blutverlust zur Folge gehabt. Dennoch dauerte es eine geraume Zeit, bis es dem Förster gelang, den noch immer halb Bewußtlosen ganz in's Leben zurückzurufen. Der verständige Mann vermied es, den Verstörten, Bleichen durch vieles Fragen zu belästigen. Er ließ ihn einen tüchtigen Schluck aus seiner Flasche nehmen und ein Stück Brod essen, das er beständig in seiner Jagdtasche bei sich trug. Dann geleitete er ihn auf dem kürzesten Wege zur Försterei, wo Tante Malchen schon über das lange Ausbleiben des Bruders, das sein Lieblingsessen zu gefährden drohte, in große Ungeduld gerathen war.

Leo's bleiches Gesicht und blutige Stirn erregten einiges Erstaunen, das der Förster indessen klug zu beschwichtigen wußte. Er selbst glaubte gern, was Leo ihm noch unterwegs in abgerissenen Worten erzählt hatte, daß er im Walde sich verirrt habe und zuletzt vor Hunger und Müdigkeit umgefallen sei. Und das glaubten natürlich auch die Anderen. Silvia machte eine bestürzte Miene, als sie hörte, daß der Vater den Leo an den Wasserfällen gefunden habe. Aber da in der Verwirrung sich Niemand um sie bekümmerte und ihre langen Locken, noch ehe sie nach Hause kam, wieder trocken gewesen waren, so beruhigte sie sich bald. Uebrigens sprach schon am nächsten Morgen Niemand mehr von Leo's Unfall. Der Förster besonders hatte ganz andere Sorgen. Die Rückkehr des Bruders aus der Stadt verzögerte sich über alle Gebühr. Der brave Mann hatte sich mit seiner lebhaften Phantasie schon alle möglichen Unglücksfälle ausgemalt, die den Kranken, der Unruhe einer Stadt seit Jahren Entwöhnten betroffen haben könnten, und er war am Abend des zweiten Tages eben im Begriff, anspannen zu lassen und mit dem Knecht nach der Stadt zu fahren, als Anton gänzlich erschöpft, mit Staub bedeckt, hochgerötheten Gesichtes, aus dem eine weiße Nasenspitze gespenstisch hervorstarrte, auf dem Försterhofe ankam. Und augenscheinlich war es nicht blos körperliche Hinfälligkeit, was aus diesen düsteren, abgespannten Mienen sprach. Der Förster sah sogleich, daß seine Befürchtung eingetroffen und Anton den Zweck seiner Wallfahrt verfehlt habe.

Anton war von dem Landrathe, Herrn v. Hey, welcher in dieser Angelegenheit das Decernat hatte, unfreundlich empfangen worden. Herr v. Hey hatte zwar sein Bedauern ausgesprochen, einen Mann in diesem Alter und von dieser Bildung in einer so abhängigen Lage zu sehen, aber auch sogleich hinzugefügt, daß die Regierung mehr als je Ursache habe, nur solche Leute in die Gemeindeämter kommen zu lassen, auf die sie sich unter allen Umständen verlassen könne. Außerdem habe ja die Regierung in diesem Falle nur das Bestätigungs-, nicht das Wahlrecht; dieses sei, wie Supplikant wisse, in den Händen der Gemeinde, oder genauer des Freiherrn von Tuchheim. Ob er die Stimme des Freiherrn zu haben glaube? Als Anton, im Vertrauen auf die Fürsprache des Bruders, dies bejahen zu können versicherte, hatte der Rath wieder mit den Achseln gezuckt und gemeint, er müsse sich sehr wundern, daß der Freiherr seine Wahl auf keine jüngere und rüstigere Kraft gelenkt habe; ob Supplikant ein ärztliches Zeugniß über eine ausreichende Gesundheit beibringen könne? Er habe sich darauf, um die Sache schneller zur Entscheidung zu bringen, zu dem ihm schon von früher her bekannten Kreisphysikus begeben und dieser eine sorgfältige Untersuchung mit ihm angestellt.

Als Anton in seiner Erzählung bis hierher gekommen war, schwieg er plötzlich und starrte gesenkten Hauptes düster vor sich auf die Erde. Dann entrang sich seiner kranken Brust ein Seufzer und er murmelte:

Es ist aus mit mir, Fritz; es kann sich noch eine Zeit so hinziehen, aber es kann auch sehr bald vorbei sein, sagte der Doctor. Nun, mir ist es recht; ich habe das Leben satt, und wenn ich nur weiß, daß es dem Leo nicht schlechter geht, stürbe ich lieber heute als morgen.

Der Förster hatte schon seit längerer Zeit für das Leben des Bruders gefürchtet, dennoch erschütterte es ihn sehr, seine Vermuthungen durch den Kranken selbst bestätigt zu hören. Sein mitleidiges Herz floß über. Er wollte nichts vom Sterben wissen; die Gutmanns seien eine langlebige Familie, der Vater sei achtzig, der Großvater gar fünfundachtzig Jahre alt geworden; auch Mutter und Großmutter hätten sich eines langen Lebens erfreut. Anton sei allerdings niemals so rüstig gewesen, wie die übrigen Familienmitglieder, aber das schade nichts; kränkliche Leute lebten oft am längsten. Es komme nur darauf an, daß er in seinem Gemüth ruhiger werde und vor Allem seine Absicht, Leo aus eigenen Mitteln erhalten zu wollen, durchaus aufgebe. Der Förster, der zu bemerken glaubte, daß seine kräftigen, herzlichen Worte nicht ohne Eindruck blieben, kam dann auf die Absicht des Freiherrn zu sprechen. Er zählte Anton die unschätzbaren Vortheile auf, die dem Knaben auf diese Weise erwüchsen; er erklärte es für ein Verbrechen gegen die Kinder, für eine Impietät gegen den Freiherrn, der allezeit der Familie Gutmann ein gar gnädiger Herr gewesen sei, wenn man ein so großmüthiges Anerbieten zurückweisen wollte.

Der Förster hatte, in der geheimen Furcht, bei Anton auf den entschiedensten Widerstand zu stoßen, noch lebhafter und eindringlicher, als es sonst schon sein Wesen war, gesprochen. Er war deshalb freudig überrascht, als jener, ohne eine Spur seiner gewöhnlichen Empfindlichkeit, sich sofort mit dem Plane einverstanden erklärte.

Macht, was Ihr wollt, sagte er mit einem matten Lächeln; ich habe seit gestern, wo ich Doctor Homann's Stubenthür hinter mir zumachte, nichts mehr zu sagen.

Da er den Bruder in so unverhofft günstiger Stimmung fand, wagte der Förster auch noch mit einem zweiten Wunsche hervorzutreten. Die beiden Jungen hätten sich in den paar Tagen so aneinander gewöhnt, daß es eine rechte Freude für Beide sein würde, wenn man sie jetzt nicht wieder trennte, sondern beisammen ließe, wie sie ja später in der Pension bei Doctor Urban in innigster Gemeinschaft leben würden.

Des Försters Beredtsamkeit feierte heute Abend einen Triumph nach dem andern. Auch diesen Vorschlag fand Anton durchaus annehmbar; ja es schien fast, als ob er sich mit einer gewissen Hast aller weiteren Verantwortung für seines Sohnes ferneres Wohlergehen zu entledigen wünsche.

Dann aber erfaßte ihn die alte Unruhe. Er wollte sogleich nach Hause; nur mit Mühe behielt man ihn zum Abendbrode, bei dem er die Speisen nur eben berührte. Kaum aber, daß gegessen war, machte er sich bei aufgehendem Vollmonde nach Feldheim auf den Weg, die ihm angebotene Begleitung der Försterfamilie und selbst seines Sohnes entschieden ablehnend.

So war denn Leo ein Gast in seines Onkels Hause, und die Sorgfalt, mit welcher Tante Malchen seine wenigen Kleidungsstücke und seine dürftige Wäsche nachsah, ausbesserte und ergänzte, bewies, daß die gute Dame das bedeutsame Wort des Bruders: sie müßten fortan Leo als zu ihnen gehörig betrachten, vollständig begriffen hatte.

Tante Malchen's Gemüth war in diesen Tagen so vielfach und tief bewegt, daß sie kaum wußte, woher die Zeit zur Arbeit und zugleich zu allen Thränen nehmen, die zu weinen sie dringende Veranlassung hatte. Des armen Anton so nahe bevorstehendes Ende, des Bruders Fritz unbegreifliche Halsstarrigkeit, der jetzt, wo die Tage bedeutend abnahmen und es manchmal schon empfindlich kühl war, noch immer bei offenem Fenster schlafen wollte; der Anblick des armen Leo, der nun so bald verwaist sein sollte; der beiden anderen Kinder, die, wenn ihr Vater fortfuhr, so auf seine Gesundheit einzustürmen, auch wohl allzu bald allein in der Welt stehen würden – diese Sorgen und Befürchtungen hätten auch wohl ein stärkeres Herz, als das der guten Dame erschüttern können. Aber selbst dies, so viel es war, war noch nicht Alles. Einen noch heftigeren Kummer bereitete ihr der neue Entschluß, den man plötzlich über Walter's Zukunft gefaßt hatte. Warum in aller Welt sollte der Walter nun nicht werden, was sein Vater und sein Großvater gewesen war: ein rechtschaffener, gottesfürchtiger, gelernter Förster? War es recht und billig, einen Menschen, dem seine Laufbahn so gleichsam von Gott vorgezeichnet war, in andere Bahnen zu locken, von denen Niemand zu sagen vermochte, wohin sie führen würden? Was hatte den beiden Geschwistern Gutmann, die sich aus dem grünen, frischen Wald in die graue, staubige Welt gewagt hatten, ihr Vorwitz Anderes, als Kummer und Elend und höchstens sehr fragliche Vortheile gebracht? War der Anton mit all' seinen Talenten nicht ein elender Mensch geworden? War der Sara Gewissen so rein, wie sie wünschen mußte, wenn sie des Abends vor dem Einschlafen zu dem Herrn, ihrem Gott betete? Ja, betete die Sara überhaupt wohl? Malchen hatte über diesen Punkt die ernstesten Zweifel und unterließ daher niemals, die Schwester, als möglicherweise der Fürbitte gar sehr bedürftig, in ihr Gebet einzuschließen. Und nun sollte ihr Liebling, ihr Abgott, ihr Walter in dieselben verhängnißvollen Fußstapfen treten? sollte Gefahr laufen, sein reines Gemüth mit dem Schmutz dieser Welt zu beflecken? seinen gesunden Kopf durch übermäßige Anstrengungen zu zerrütten? Das Lernen war ihm ja nie so außergewöhnlich leicht geworden, wie etwa der Silvia, die Alles behielt, was sie nur einmal mit den Augen überlaufen hatte, oder dem Leo, der ja überhaupt anders war, als alle anderen Knaben, und den man gar nicht mit gewöhnlichen Kindern vergleichen konnte.

Und angenommen auch, Walter studirte Theologie und würde ein Prediger des Herrn, ein Verkündiger des Evangeliums – so bliebe doch immer die schreckliche Frage: Wer wird an Fritzen's Stelle treten, wenn ihn der Tod oder das Alter einmal abrufen? Tante Malchen mußte sich sagen: Ein Fremder wird es thun, ein Unbekannter wird schalten und walten in den durch so viele Erinnerungen, durch das Andenken an geliebte, längst dahingeschiedene Menschen geheiligten Räumen; und sie, die hier geboren war und hier zu sterben gehofft hatte, würde genöthigt sein, ihren Fuß über eine fremde Schwelle zu setzen, ihre Kniee an einem fremden Heerd zu wärmen, ihren letzten Seufzer in einem Zimmer auszuhauchen, in welchem sie vielleicht das Muster der Tapeten nicht einmal genau kannte!

Dieser trübe Gedanke verfolgte die gute Dame bei Tag und bei Nacht, denn sogar in ihre Träume schlich er sich in einer oder der andern Gestalt; und dabei war ihr, als ob das Försterhaus nie so ganz ihre Heimath gewesen sei, als eben jetzt, wo sie im Geiste schon von ihm Abschied nahm.

Das traute einstöckige Haus mit dem niedrigen, weitvorspringenden Dache! Die drei Fenster, welche es auf jeder Seite der Thür hatte, standen sämmtlich ein wenig schief, hinüber und herüber, und waren für den Uneingeweihten kaum zu öffnen oder gar nicht zu schließen; aber desto blanker waren die Scheiben und desto weißer die Gardinen. Ueber der Thür erhob sich ein in seiner Spitze mit einem mächtigen Hirschgeweih geschmückter Giebel mit noch zwei Fenstern, vor denen große, grün angestrichene Blumenbreter befestigt waren, auf welchen den ganzen Sommer hindurch die schönsten Blumen in Töpfen blühten. Diese Giebelstube hatte Tante Malchen seit so langer Zeit bewohnt, sie wußte kaum, wie lange. Die Blumenbreter waren ihr vorzüglicher Stolz; aber noch nie, so lange sie zurückdenken konnte, hatten sie in solchem Flor gestanden, wie in diesem Herbst. Sie mußte immer wieder unwillkürlich hinauf blicken, wenn sie des Abends auf der kleinen Wiese, die sich vor dem Hause bis an den nahen Wald erstreckte, ihre Promenade machte. Durch wie viele Erinnerungen war diese Wiese geheiligt! Hier hatte sie als kleines Kind mit den Geschwistern um die Kniee der Eltern, um die Kniee des Großvaters, dessen Bild in der Wohnstube über dem Sopha hing, die schönsten Spiele gespielt – im Zwielicht, wenn die Sterne aus dem Blau des Himmels zu funkeln begannen – jene Spiele, von deren trauter Heimlichkeit und halb mystischer Seligkeit das kältere Herz der Erwachsenen kaum noch eine Ahnung hat. Hier auf diesem Platze hatte der Fritz in jener Schreckensnacht gestanden, als ihn die Franzosen aus dem Hause schleppten. Hier hatte sie zu dreien Malen sich die Trauerzüge ordnen sehen, welche die Särge des Großvaters, des Vaters, der Mutter zum Kirchhof in Tuchheim geleiteten; hier hatte sie die Festtafel hergerichtet, als Fritz die Försterstochter aus dem benachbarten Schwarzenbach heimführte, das schöne, blasse, junge Mädchen mit den schönen, sanften, blauen Augen, das fortwährend kränkelte und so bald starb. Da war Tante Malchen nun wieder in ihre alten Rechte eingesetzt, und eine wie große, neue, verantwortliche Pflicht mußte sie dazu übernehmen! die Erziehung der armen, so früh der Mutter beraubten Kinder! Hier war endlich für das liebevolle, fleißige, aufopferungsfähige Weib ein schrankenloses Feld der Wirksamkeit. Nun konnte sie sich plagen, Tage durcharbeiten, Nächte durchwachen, Freuden und Leiden durchkosten und erdulden in dem guten, mitfühlenden Herzen. Aber wie vergalten die Kinder auch ihre unermüdliche Sorge! Gab es einen Jungen wie ihren Walter, einen Jungen mit einem Paar so treuherziger, blauer Augen, der so muthig und so bescheiden, so brav und so gut war! Und Silvia! – Die gute Dame verfiel in tiefe Nachdenklichkeit, so oft sie den Versuch machte, den Charakter dieses Kindes zu ergründen. Manchmal glaubte sie den Schlüssel zu dem Räthsel zu haben; aber noch viel öfter mußte sie unter vielem Kopfschütteln sich bekennen, daß sie weiter als je davon entfernt sei. Nun hatte Tante Malchen noch ein drittes Pflegekind, das ihre Sorgenlast wahrlich nicht verringerte. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß der düstere Knabe, so wenig wie sein Vater, zum Glück geboren sei. Schon daß er die dunklen Augen seiner Mutter hatte, die aus einer böhmischen, zur Zeit des alten Fritz in Feldheim eingewanderten Familie stammte, war äußerst bedenklich. Tante Malchen hatte noch nie glückliche Menschen mit schwarzen oder schwarzbraunen Augen gesehen. Der junge königliche Förster Hartwig, der sich vor fünfundzwanzig Jahren in dem benachbarten Nesselbruche erschoß, hatte auffallend dunkle Augen gehabt. Es konnte die Gute bis zu Thränen wehmüthig stimmen, wenn sie Leo's braune Augen oft mit einem seltsam starren und doch unbestimmt ziellosen Blick voll unergründlicher Schwermuth in die Ferne gerichtet sah. War es nicht, als ob der Knabe in solchen Momenten in dem Buche seines Schicksals lese? Sie hatte schon ein paarmal die Karten in die Hand genommen, um endlich einmal zu wissen, wie wenig sie für den armen Jungen zu hoffen, wie viel sie zu fürchten habe; aber immer hatte sie ein geheimnißvoller Schauder verhindert, die Antwort des Orakels abzuwarten.


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