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Zweiundfünfzigstes Capitel.

Auf Leo's Studirtisch hatte der jugendliche Diener die Lampe angebrannt. Der Tisch – ein prachtvolles, reich mit Schnitzwerk verziertes Möbel aus massivem Eichenholz – war mit Büchern, Broschüren, Zeitungen, Briefen, Papieren aller Art bedeckt. Auf einem Tischchen neben dem Studirsessel lag das im Laufe des Tages Angekommene, sorgfältig geordnet. Der Diener wußte, daß strengste Pünktlichkeit und Ordnung unverbrüchliches Gesetz seines Herrn war und also auch sein eigenes Gesetz sein mußte. Er schraubte, als er einen Wagen vorfahren hörte, die Lampe heller, warf einen prüfenden Blick umher und eilte dann seinem Herrn entgegen, ihm im Vorzimmer die Sachen abzunehmen.

Leo trat herein und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Er war seit heute elf Uhr Morgens, mit Ausnahme der kurzen Zeit, wo er in einem Hotel ein flüchtiges Mahl eingenommen, unterwegs gewesen – und dies war die Erholung, die er sich gönnte. Er war von Jugend auf nicht gewohnt, sich zu erholen – er hatte niemals Zeit dazu gehabt, und jetzt weniger als je.

Er setzte sich an den Schreibtisch und musterte das während seiner Abwesenheit Eingelaufene. Zuerst die Briefe, unter ihnen drei mit ansehnlichen Summen beschwerte Briefe, in welchen ihm die Herren Commerzienrath Winkler, Verlagsbuchhändler Treibel und Bankier Neidhardt mit fast gleichlautenden Worten anzeigten, daß sie gewohnt seien, in ihrem Hausarzt zugleich einen Hausfreund zu sehen, und daß sie mit einem Manne, auf dem auch nur der Verdacht der Autorschaft der Broschüre: »Was sie sein sollten, und was sie sind!« ruhe –

Und so weiter, und so weiter, murmelte Leo, ich habe es erwartet, daß sie abfallen würden: der beste Beweis, daß die Rotte meine Geißel gefühlt hat; aber ihr sollt noch mit Scorpionen gezüchtigt werden! Und dies hier? »Wenn Sie der Verfasser von ... sind, wie man sich überall erzählt, weshalb nennen Sie sich nicht? Sie sind nicht, wie ich, eine Stimme aus dem Volke, die namenlos bleiben mag. Volkstribune müssen einen Namen haben. Oder fürchten Sie sich vor Ihren Gegnern in demselben Athem, mit dem Sie uns dieselben verächtlich machen? Das ist unmöglich. Anonymus.«

Leo stützte den Kopf in die Hand. Wie das fortbrennt! Das Material ist aufgeschichtet, bergehoch. Ein einziger Funken, und er steht in Flammen. Das würde Tusky und seinesgleichen genug sein. Sie gehen von dem Principe aus, daß man das Alte nur einfach umzustürzen brauche, das Neue wachse eben von selbst. Aber das ist im besten Falle die Philosophie von Titanen, bei der der Kosmos zu Grunde geht. Nur wer sich bewußt ist, eine Welt schaffen zu können, soll sich vermessen, eine Welt zu stürzen. Wie wenig in dem chaotischen Gewirr von durcheinander arbeitenden Zerstörungskräften, die fortwährend aufeinander platzen und sich gegenseitig paralysiren, geleistet werden kann – das weiß ich aus eigenster Erfahrung. Es thut mir leid um Sie, mein Herr Anonymus; so, wie Sie es wollen, kann ich Ihnen nicht helfen.

Was ist denn dies für ein duftiges Billet?

 

»Mein trotziger Freund! Weshalb halten Sie sich, dem zürnenden Peliden gleich, in Ihrem Zelte verborgen? kommen zum wenigsten nicht zu mir? Wer ist Ihr Patroklus? Ich beneide ihn. Oder bedürfen Sie nicht einer theilnehmenden Seele, jetzt, da mehr als je über Sie gesprochen wird – Gutes und Schlechtes, wovon ich, wie Sie sich denken können, nur das Erstere glaube? Und gerade so macht es der Papa. Ach! er will Ihnen so wohl! Zeigen Sie, daß Sie auf unsere Freundschaft noch einigen Werth legen, und diniren Sie morgen zu der gewöhnlichen Stunde mit uns. Wir werden ganz entre nous sein!

Ihre beste Freundin Emma v. S.«

Leo lächelte. – Sie thun, als ob sie nicht daran glauben. Natürlich, es ist ihnen das Bequemste, so lange sie mich nicht fallen lassen können. Und sie läßt sich als Lockvogel gebrauchen! Schämen Sie sich, Fräulein Emma! Eine Dame mit so großen Prätensionen von Geist und Feinheit so geistlos-plump! Pah!

Er warf das rosafarbene Papier verächtlich fort und nahm ein anderes Billet, das ganz zu unterst gelegen hatte. Als er die zugleich feste und zierliche Handschrift erkannte, erbrach er es hastig.

»Ich habe Deine Broschüre gelesen. Sie ist, wie ich sie erwartet habe: scharf und kühn, wie Trompetengeschmetter, das zum Kampfe ruft. Ja, zum Kampfe! Ich sehe ein, daß Du nicht länger schweigen, nicht länger diesen Schwätzern das Feld unbestritten lassen konntest – und dennoch! Jetzt, da das Signal gegeben ist, erzittert mein Herz. Welches wird der Ausgang sein – nicht für die Sache, denn hier theile ich ganz Deine Hoffnungsfreudigkeit; aber für Dich! Stark wie Du bist, Du bist ein einzelner Mann.

Aber ziemt es mir. Dich anzuhauchen mit banger Sorge? Nein, nein! muthiger Ritter! wackere Lanze! und höchstens einmal ein: Vorgesehen, Herr Ritter! – nichts Anderes soll über meine Lippen kommen, während ich vom sicheren Balcon aus dem blutigen Spiele zuschaue. Könnte ich doch theilnehmen! Das ist mein Wunsch bei Tag und Nacht; aber ein so schönes Loos ist uns Frauen nicht beschieden. Wir können große Thaten nur träumen und, erwachend, uns sagen, daß wir machtlos sind, daß wir thatenlos unser Leben vertrauern müssen.

Heute Nachmittag ist mir ein sonderbares Abenteuer begegnet. Ich kam von ... und mußte eine Strecke durch den Park. Vor mir her ging eine ältliche Dame, die von einem Diener geführt wurde; auf dem Fahrwege, der neben dem Fußsteig hinlief, fuhr langsam eine Kutsche. Da ich schneller ging als die Dame, erreichte ich sie bald, und ich weiß nicht, was mich plötzlich, sobald ich in ihr Gesicht blickte, auf das Lebhafteste an Dich erinnerte – aber ich zuckte zusammen und hatte Mühe, meine Ueberraschung, die auch der alten Dame aufgefallen war, zu bemeistern und weiter zu gehen.

Ich hatte noch keine zehn Schritte gethan, als aus einem Reitwege, der den großen Weg rechtwinklig durchschnitt, ein Reiter in Galopp dahergesprengt kam. Nun weiß ich nicht, wie es geschehen war, ich hörte plötzlich hinter mir einen Schrei. Als ich mich umwendete, sah ich die alte Dame am Boden liegen, den Diener neben ihr knieen, den Reiter im Begriff, von dem sich bäumenden Pferde zu springen. Ich eilte hinzu. Glücklicherweise war die alte Dame nicht verletzt, die Brust des Pferdes hatte nur eben ihre Schulter gestreift und sie heftig zu Fall gebracht. Der Reiter – ein auffallend schöner junger Mann – stammelte höchst verworrene Entschuldigungen, hielt sich aber, als er sah, daß er kein größeres Unglück angerichtet, nicht länger auf, sondern schwang sich auf sein Pferd, es mir und dem Diener überlassend, der noch immer halb Ohnmächtigen in ihren Wagen zu helfen. Ich stieg mit hinein, da ich die Dame unmöglich in diesem Zustande allein lassen konnte, und hieß den Kutscher, so schnell als möglich nach Hause zu fahren. Wir gelangten in die Stadt. Das Rollen der Räder auf dem Pflaster brachte die Dame wieder zu sich; sie dankte mir mit verbindlichen Worten, und dabei blickte sie mich so verwundert an, wie ich sie vorhin im Park angeblickt hatte.

Ich hatte im Gespräche mit ihr des Weges nicht geachtet. Als ich aufblickte, sah ich, daß wir uns am Schlosse befanden. Der Wagen bog in eines der Portale und hielt auf dem Hofe vor einer Thür in einem Seitenflügel. Ein jäher Schreck durchzuckte mich. Ich wußte, auch ohne daß sie sich mir nannte, wer die alte Dame war; um so überraschter war sie, als ich in grenzenloser Verwirrung meinen Namen stammelte. Dann bin ich davon gestürzt; ich erinnere mich kaum noch, wie ich wieder aus dem Schloßhofe gekommen bin.

Jetzt schäme ich mich meines kindischen Betragens. Die abergläubische Furcht vor der Schloßtante, in die man uns Kinder hineingeängstigt hatte, einfach dadurch, daß man ihrer so selten und dann immer mit einer so seltsamen Miene Erwähnung that – diese Furcht lebt also noch immer in meiner Seele – und ich nenne mich einen freien Geist! habe ich mir je die Mühe gegeben, in dem Leben und dem Charakter dieser gewiß merkwürdigen Frau mit meinen Augen zu sehen? und verdamme sie ungehört! und fürchte mich vor ihr wie ein blödes Kind vor dem schwarzen Manne? Was ist denn Aberglaube, wenn dies keiner ist?

Und dann, Leo! Denkst Du des Abends, als wir an dem Schlosse vorübergingen und das Licht aus ein paar Fenstern im oberen Stock hernieder dämmerte und Du im Scherze fragtest, ob wir nicht der Schloßtante einen Besuch abstatten wollten? Du wirst mich eine romantische Träumerin schelten – aber wenn Du nun doch einmal das alte Königsschloß und seine erlauchten Bewohner in Deine kühnen politischen Pläne ziehen müßtest! – Ich stand an der Schwelle einer Thür, die in das dunkle Labyrinth führt, und habe sie nicht überschritten! habe eine Gelegenheit versäumt, die vielleicht nie wiederkommt! Theseus und Ariadne! Ja, wohl! Es giebt noch Helden, aber keine Heldenweiber mehr! Lache mich aus! Ich verdiene es gewiß; so oder so! –«

 

Dieser Brief trug keine Unterschrift.

Leo ließ ihn aus der Hand gleiten; dann erhob er sich und ging, die Arme über der Brust verschränkt, mit langsamen Schritten in dem Gemach auf und nieder.

Sie hat den Geist und den Muth eines Mannes, murmelte er.

Dann dachte er nicht mehr an Silvia. Er hatte die Schwelle überschritten, vor der sie stehen geblieben war; durch hohe Corridore und weite Säle war er in ein großes Gemach gelangt und stand dort einem Manne gegenüber, der vor ihm das Haupt senkte, den er mit der Kraft seines Geistes, mit der Gewalt seines Wortes beherrschte, er – des Herrschers Herrscher!

Man nennt ihn einen Schwächling – mag sein; aber er hat schon mehrere Male bewiesen, daß er sich für eine Idee begeistern kann. Gerade so einen Mann brauche ich. Ein Dummkopf würde mich nicht verstehen, ein tüchtiger Mensch im gewöhnlichen Sinne mir seine Schwerfälligkeit als Charakterfestigkeit verkaufen wollen; hier ist nun ein Mensch, der wie Thon ist in der Hand des Künstlers: weich und gefügig und bildsam! und – zerbrechlich! Nun ja! Es soll ja nicht für immer sein. In wenigen Jahren, in wenigen Monaten schon ließe sich Unendliches schaffen. Und doch! Es ist ein Traum; was habe ich mit Träumen zu thun?

Er trat wieder an den Tisch und legte den letzten Brief zu mehreren von derselben Hand in einen Kasten, den er verschloß. Dann setzte er sich wieder. Mit den Briefen war er zu Ende. Und dies hier? Er zog eine kleine Broschüre aus einem Kreuzband. Das Schriftchen – es war nur zwei Bogen stark – konnte eben erst die Presse verlassen haben. Das Papier war noch feucht. Der Titel lautete: «Was er sein könnte, und was er ist.«

Ueber Leo's Gesicht flog ein leises Zucken. Dies war eine Antwort auf seine Broschüre – eine Antwort, die über die Sache weg an seine Person gerichtet war.

Er begann zu lesen, und sein Gesicht wurde immer finsterer, je weiter er las. Er hatte sich geirrt. Es war kein Angriff gegen seine Person; wenigstens nicht gegen den wirklichen Leo, nur gegen einen idealen Leo: gegen einen Mann, der, mit solchen Talenten begabt, mit solchen Einsichten ausgestattet, so schreibt, wie Leo geschrieben hatte. Von einer Anspielung auf seine persönlichen Verhältnisse war nicht die leiseste Spur. – Der Verfasser von: »Was sie sein könnten, und was sie sind«, hieß es, ist uns der Repräsentant einer ganzen Gattung, einer jener hochbegabten Menschen, die, angeekelt durch die Erbärmlichkeit des Materials, mit welchem sie bauen sollen, durch die Langsamkeit, mit welcher in Folge dessen der Bau vorwärts schreitet, es machen, wie jene sagenhaften Bauherren des Mittelalters, die sich, damit es schneller ginge, ihre Burgen oder Tempel vom Teufel bauen lassen wollten. Der Teufel aber kann nichts vollenden, nur der Menschenfleiß kann es. Die über Nacht aufgethürmten Massen stürzen beim ersten Morgengrauen zusammen; was die tausend arbeitsamen Hände in langsam-mühseliger Arbeit schufen, dauert durch Jahrhunderte. Das freilich geben wir dem Verfasser zu: die Basis, auf der wir bauen, ist zu klein; wir müssen alle Schichten des Volkes mit in unsern Plan hineinziehen; aber er bedenke doch ja: je breiter die Basis, desto langsamer wird das Werk gefördert werden. Wenn er das bedacht hat – und er hat, diesen Gedanken auszudenken, die volle Kraft – dann wird er nicht sein, was er jetzt ist: ein Agitator, der die Verwirrung vermehrt – dann wird er einer der Werkmeister sein, denen ein Gott gegeben hat, die ganze Herrlichkeit des vollendeten Baues im Geiste zu schauen, und die sich doch die Mühe nicht verdrießen lassen, den Arbeitern zu lehren, wie man die Steine bricht.

Das ist er, wie er leibt und lebt! rief Leo, laut auflachend, Paulus, der Steinbrecher, sollte er heißen! Und das soll der Titel meiner nächsten Broschüre sein. Der Anonymus hat Recht; es geht nicht an, daß ich noch länger verborgen bleibe. Und eigentlich war ja dies auch nur ein Alarmschuß. Ich wollte sie aus ihrer faulen Ruhe aufschrecken; ich wollte ihnen zeigen: Ihr könnt nicht in alle Ewigkeit hineinschwadroniren. Es ist noch Jemand da, der Euch zwingen kann und zwingen wird, Eure Pflicht zu thun.

Er griff nach den Abendblättern.

Landtagsverhandlungen – der alte Schlendrian! Aber hier: Arbeiterunruhen – also endlich! Das ist Oel in's Feuer! Und die Sache scheint ernst zu sein, und noch dazu in unserer Gegend! Da sollte es mich wundern, wenn der gute Samen, den Tusky gesäet, nicht fröhlich wieder aufginge. Haben sie doch in den letzten Jahren den Boden trefflich zubereitet.

Leo stützte den Kopf in die Hand. Das Bild jener Tage, wo er, fast noch ein Knabe, halb wider seinen Willen in die von Tusky hervorgerufene Bewegung hineingerissen wurde, trat vor seine Seele. Wie begrenzt war damals sein Horizont gewesen, wie naiv sein Glaube an die Mission jenes Schwärmers, an die welterschütternde Bedeutung des Aufstandes, jenes Sturmes in der Waschschale, wie er später oft im Scherz die Bauern-Emeute in Tuchheim genannt hatte. Damals und jetzt! Damals ließ er sich willenlos treiben; jetzt fühlte er in sich die Kraft, der Bewegung eine bestimmte Richtung zu geben. Nicht umsonst wollte er alle Schmerzen einer Seele, die sich zur Freiheit durchringt, empfunden haben. Er, dessen heißes Knabenherz damals in Verzweiflung sich zusammengekrampft hatte, er hatte sich das Recht erworben, jetzt mit kaltem Blut und klarem Kopf die Mittel zu dem großen Zweck zu benutzen. Mochten ihn die Schwärmer einen Abtrünnigen, die guten Seelen einen gewissenlosen Egoisten schelten. Er wußte, was für klägliche Rollen die Schwärmer und guten Seelen in der rauhen Welt der unerbittlichen Thatsachen zu spielen sich nicht entblödeten. Amboß oder Hammer! Hier giebt es kein Drittes!

Er griff wieder nach der Zeitung. Mit geübtem Blick durchflog er die langen Spalten; plötzlich blieb sein Auge auf ein paar Zeilen haften:

 

»Soeben erfahren wir, daß heute Nachmittag die noch vorhandenen Exemplare eines kürzlich erschienenen, von dem Publikum mit großem Beifall aufgenommenen Romans in der betreffenden Verlagshandlung confiscirt worden sind, auch daß bereits eine Vernehmung des Autors – eines jungen, allgemein geachteten Lehrers an dem hiesigen *** Gymnasium – stattgefunden hat. Der incriminirten Stellen soll eine große Zahl sein; ja man soll beabsichtigen, der ganzen Tendenz des Buches, als einer allgemein gefährlichen, gegen göttliche und menschliche Ordnung sich auflehnenden, den Proceß zu machen. Es ist, so viel wir uns erinnern, das erste Beispiel, daß gegen ein rein belletristisches Werk, ein unzweifelhaftes Product der Poesie, die Paragraphen unsres Preßgesetzes angerufen werden. Wir würden Anstand genommen haben, eine so wunderbare, kaum glaubliche Nachricht weiter zu tragen, wenn sie uns nicht aus sicherster Quelle zugekommen wäre.«

 

Leo hatte diese Zeilen eben zum zweitenmale überlesen, als der Diener hereintrat, um zu melden, daß ein Herr, der heute schon ein paarmal dagewesen, den Herrn Doctor zu sprechen wünsche.

Ich muß Dich nothwendig sprechen, Leo, sagte Walter, in der Thür erscheinend und den Diener bei Seite schiebend; ganz nothwendig; eine Viertelstunde wirst Du wohl für mich erübrigen können.

Walter's Stimme war bewegt, auch in seinen Mienen drückte sich eine starke innere Erregung aus.

Ich habe es in diesem Augenblick erst gelesen, sagte Leo, die Lampe von seinem Arbeitsbureau auf den Tisch vor dem Sopha tragend.

Unmöglich! rief Walter.

Es steht in dem Abendblatt; ich glaubte, die Notiz sei von Dir selbst.

Wovon sprichst Du?

Wovon? Nun von Deiner Collision mit unserem Preßgesetz.

Ja so, sagte Walter, ich hatte wirklich nicht daran gedacht. Was mich zu Dir treibt – ich war heute schon zweimal hier – ist ein Brief, den ich heute Morgen vom Vater erhielt und der – wir sind doch ganz ungestört? – der Einiges enthält, das mich mit bangster Sorge erfüllt hat und worüber ich gern, wenn es möglich ist, von Dir Auskunft haben möchte. Es handelt sich um den Freiherrn. Der Vater schreibt: »Aber was mich mehr ängstigt« – er hat von Tante Malchen gesprochen, deren Gesundheit in letzter Zeit sehr wankend ist – »sind gewisse Anzeichen, die mich befürchten lassen, daß es mit den Vermögensverhältnissen meines guten Herrn nicht so steht, wie es stehen sollte. Nicht nur, daß er die sehr bedeutenden Summen, die ich ihm aus dem Ertrage der Güter schicken kann, vollständig aufbraucht, so daß für die Bewirthschaftung kaum das Nothwendigste, und oft auch das nicht einmal übrig bleibt; er verlangt mehr und mehr und ist ungeduldig, wenn ich erklären muß, daß ich das Aeußerste geleistet habe und meine Kasse leer ist. Und gestern befiehlt er mir in ein paar trockenen Zeilen, den Buchenschlag auf dem Finkenberge – unseren Stolz –abholzen zu lassen und zu Gelde zu machen, das heißt ein Kapital, das in dreißig Jahren fünfzigtausend Thaler unter Brüdern werth ist, heute für fünftausend weggeben. Das ist noch nicht Alles. Ich habe erfahren, daß er eine neue sehr bedeutende Hypothek auf Feldheim, das schon so hoch belastet ist, hat eintragen lassen, in demselben Augenblick, wo er mir in geschäftsmäßiger Kürze mittheilt, er habe das Forsthaus nebst dazu gehörigem Garten, Wiesen und Feldstücken mir und Euch und Euren Kindern als freies Erbe für alle Zukunft testamentarisch vermacht! Was soll ich davon denken? Ich habe darüber noch mit Niemand ein Wort gesprochen, aber die Angst quält mich zu sehr; ich muß Jemand haben, dem ich mich mittheilen kann, wen hätte ich da außer Dir? Auch bist Du am ersten im Stande, mir Aufklärung zu geben, vielleicht Beruhigung. Du bist ja doch so oft in seinem Hause. Ist Dir denn gar nichts aufgefallen? Vielleicht kannst Du auch von Leo etwas erfahren; er verkehrt, wie Du mir schreibst, viel bei dem Freiherrn und erfreut sich seines Vertrauens in besonders hohem Grade.«

Walter faltete den Brief zusammen, seine Hand zitterte dabei. Er blickte auf Leo und fuhr, als dieser schwieg, fort:

Du siehst, Leo, der Vater glaubt, daß zwischen mir und – und ihnen noch Alles beim Alten ist; er weiß noch nicht, daß ich schon seit Wochen nicht mehr dort gewesen bin. Ich habe auch sonst außer einigen Zeilen von Fräulein Charlotte keine Nachricht; Amélie schreibt mir nicht, weil ich es nicht wünsche; Silvia scheint mich vergessen zu haben, Dich sehe ich jetzt so selten. Ich kann dem Vater nichts Beruhigendes schreiben, ich stehe wie vor einem unheimlichen Räthsel. Vielleicht weißt Du mehr, ja, nach Allem, was ich von Deinem eifrigen Verkehr mit dem Freiherrn gehört habe, mußt Du mehr wissen. Steht es wirklich so schlimm mit ihm?

Walter blickte forschend in Leo's Gesicht; Leo machte sich mit der Lampe zu schaffen.

Du fragst mich mehr, als ich Dir beantworten kann, erwiederte er. Der Freiherr hat mich in der Angelegenheit mit Sonnenstein zu Rathe gezogen, und auch das ist eigentlich schon zu viel gesagt. Wir haben im Grunde nur immer über den vorliegenden Fall und die mancherlei ökonomischen und politischen Fragen, die sich daran knüpfen, theoretisirt. Einen Einblick in seine Verhältnisse habe ich dabei nicht gewonnen. Offen gestanden, ich habe auch kein besonderes Interesse daran. Mein Interesse bei der ganzen Sache ist, wie Du Dir denken kannst, ein rein politisches. Der Freiherr ist mir wichtig, ja er wird mir, wenn die Arbeiterunruhen sich, wie es ganz den Anschein hat, auch über den Tuchheimer District verbreiten sollten, noch viel wichtiger werden.

Um Gottes willen, Leo, wie kannst Du über diese Angelegenheit mit einer solchen Gleichgültigkeit sprechen, rief Walter in schmerzlichster Erregung. Ich fasse es nicht. Ist Dir denn das Haupt des Mannes, dem wir so viel verdanken –

Dem Du so viel verdankst, wolltest Du sagen, warf Leo ein.

Gleichviel! Es muß Dir ehrwürdig sein, dieses Haupt, so lange Du noch menschlich Menschliches empfindest.

Ich fürchte, wir haben aufgehört, uns zu verstehen, sagte Leo kalt.

Verzeihe mir, erwiederte Walter, der in seiner Erregung vom Stuhle aufgesprungen war; der Gedanke, daß den Freiherrn in seinen alten Tagen – denn er ist jetzt ein alter Mann geworden – ein solches Unglück, wie der Verlust seines Vermögens für ihn sein würde, treffen sollte – quält mich mehr, als ich sagen mag. Ich gebe zu: Du, der Du die Tuchheims – ja, Leo, und wohl auch uns – von Jugend auf als Fremde betrachtet hast, kannst nicht dasselbe empfinden; aber so fremd sind wir Dir nicht, daß Du in dem, was uns Alle so schmerzlich berührt, nur eine Ziffer sehen könntest, mit der Du zu rechnen hast. Ich bitte Dich, vergiß, was ich gesagt, und gieb mir, wenn Du kannst, eine Aufklärung über die Lage des Freiherrn.

Ich kann nur sagen, erwiederte Leo, daß ich die Befürchtungen Deines Vaters nicht ganz theile. Wozu er die großen Summen braucht, weiß ich freilich nicht; ich halte es aber nicht für unwahrscheinlich, daß er sich auf die Eventualität, dem Bankier, der mit einem Processe droht, starke Abzahlungen leisten zu müssen, vorbereitet. Wenn er sich überwinden kann, sich mit Sonnenstein gütlich auseinander zu setzen, so kann – da die Fabriken vortrefflich rentiren, – seine Situation nicht unbedingt schlecht sein; im anderen Falle freilich –

Und kannst Du Deinen Einfluß nicht dazu benutzen, ihn zu einem gütlichen Vergleich zu bestimmen? fragte Walter.

Ich fürchte, daß Du meinen Einfluß auf den Freiherrn weit überschätzest, sagte Leo ausweichend.

Walter stand auf, seine Miene war tief traurig. So hatten sie also wirklich aufgehört, sich zu verstehen. Sein Blick fiel auf die Broschüre. Er kannte sie sehr genau; er hatte den Inhalt und selbst die Form vorher mit Doctor Paulus auf das Genaueste durchgesprochen; er konnte fast sagen, daß er sie selbst geschrieben. Paulus und er hatten das Beste von dem Eindruck erwartet, den das Schriftstück auf Leo machen würde. Er muß ja einsehen, daß wir schließlich mit ihm auf demselben Standpunkte stehen! hatte Paulus mehr als einmal ausgerufen, und nur Rehbein hatte hartnäckig das kahle Köpfchen geschüttelt. Rehbein war der Klügere gewesen. Da lag die Schrift; Leo hatte sie gelesen, er hatte nichts von dem herzlichen Verlangen nach Verständigung, von dem das Schriftchen dictirt war, empfunden. Das sagten seine Züge, sagten seine Worte, sagte die Hand, die er jetzt Walter zum Abschied reichte.

Leo sprach von Walter's Fall, welches Aufsehen derselbe machen würde, von der Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit einer Verurtheilung; er scherzte, daß unter allen Umständen der Erfolg des Romans nun gesichert und eine zweite, oder gar dritte Auflage gewiß sei.

Walter hörte nur mit halbem Ohre zu; er war in diesem Augenblick nicht im Stande, an sich selbst zu denken. Er hatte die Empfindung, daß er jetzt zum letztenmale dem Freunde seiner Jugend, den er wie einen Bruder geliebt hatte und noch liebte, gegenüber stehe; daß, wenn er das Zimmer verlassen, sich zwischen ihnen ein Abgrund aufthun würde, über den keine Brücke der Verständigung mehr führte.

Leo, rief er plötzlich, versuche es einmal mit uns! Geh' den einsamen Weg, den Du eingeschlagen hast, nicht einsam weiter! Du mußt doch wieder Menschen haben, um wirken zu können, und wir stehen Dir am nächsten, viel näher, als Du glaubst. Vertraue mir! Männer wie Paulus – und ich könnte Dir hier manchen guten Namen nennen – empfinden den Jammer unserer Verhältnisse so tief, wie Du, sind, wie Du, von der Nothwendigkeit einer radicalen Reform überzeugt. Verbinde Deine Kraft mit der ihren, tritt mit ihnen in Reih' und Glied! Was vermögen denn die Guten, wenn sie nicht zusammenhalten!

Leo machte eine abwehrende Bewegung.

Wir haben dieses Thema schon des öftern besprochen, sagte er. Du und Deine Freunde, Ihr habt mich nicht zu überzeugen vermocht – auch durch jene Broschüre nicht. Sie ist doch von Euch? Nein, lieber Walter, wir müssen Jeder unseren Weg gehen, wie ihn die Sterne uns vorgezeichnet haben. Wir können so wenig unsere Rollen tauschen, wie die Väter, die uns erzeugten, und die Mütter, die uns zum Leben geboren. Wäre ich, wie Du, in geordneten Verhältnissen, wo Alles sich harmonisch ineinander fügt, aufgewachsen, vielleicht hätte ich dann mehr das Bedürfniß, Hand in Hand mit Anderen zu gehen, mich auf Andere zu stützen, in Reih' und Glied zu stehen, um mich Deines Lieblingsausdrucks zu bedienen. Vielleicht – vielleicht auch nicht. Nun aber, da ich fromme Denkungsart nicht mit der Muttermilch eingesogen habe, da mich der Vater mit Fußtritten zum Gelehrten machte und ich dann, nachdem ich durch eines Heuchlers und eines Fanatikers Schule gegangen, fast noch ein Knabe, hinausgetrieben wurde in das rauhe Leben, nun will ich auch sein, wozu mich Natur und Umstände schufen: ein einsamer Mensch, der das Große, das er erst geträumt und hernach erkannt hat, auf seine Weise in's Leben führt, oder, wenn ihm das nicht gelingt, wenn er in seinem Streben scheitert, beladen mit dem Hohn und dem Spott, den die Welt für Abenteurer und Narren in Vorrath hat, aus dem Leben scheidet.

Leo's dunkle Augen leuchteten in seltsamem Feuer, während er, die schlanke Gestalt hoch aufgerichtet und mit der Rechten gleichsam in die dunkle Zukunft deutend, die letzten Worte sprach. Der fast mystische Zauber, den Leo's Persönlichkeit in früheren Jahren auf ihn ausgeübt hatte, umschauerte Walter wieder. Wie hatte er, wie hatte Paulus wähnen können, sie seien im Stande, diese dämonische Natur zu bändigen! So mochte man auch der Sturmeswolke sagen: Komm' hieher!

Er drückte Leo stumm die Hand und verließ das Zimmer. Als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, that Leo schnell ein paar Schritte, als wolle er ihn zurückrufen. Aber noch ehe er die Thür erreicht, blieb er stehen. – Was könnte es helfen, murmelte er, über lang oder kurz müßten wir uns doch trennen; warum nicht heute ebenso gut wie morgen?

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als ständen da die friedlichen Bilder, die in seiner Seele auftauchten – Bilder aus der Jugendzeit, aus seinem Zusammenleben mit Walter in den schattigen Tiefen der Tuchheimer Wälder, in dem kleinen Giebelzimmer des Försterhauses, aus dessen niedrigem, weinumlaubtem Fenster sie so oft gemeinsam zu den blitzenden Sternen aufgeschaut hatten. Er war doch nicht immer so einsam gewesen, brauchte jetzt vielleicht wiederum nicht einsam zu sein. Hatte sich nicht Walter in einer Weise entwickelt, wie er es nie für möglich gehalten? Konnte, durfte er im Interesse der Sache einen solchen Bundesgenossen zurückweisen? Und doch! und doch! Er kannte sie ja, diese Ideologen, die ihre Kämpfe im reinen Aether der Gedanken führen und deren Streiche deshalb immer in die leere Luft treffen! diese Gefühlsmenschen, die Großes erreichen wollen und sich dann immer wieder durch Privatrücksichten von ihrem Wege ablenken lassen! Was hat Walter in diesem Augenblicke, wo er sich seiner Haut wehren muß, wo für ihn so viel auf dem Spiele steht, an des Freiherrn Angelegenheit zu denken? Sie wollen Politiker und Privatmann, mitleidloses Werkzeug einer Idee und gemüthvolle Familienmenschen – Alles in einem Athem sein und sind darüber nichts!

Leo schleuderte sich mit einem Ruck empor, als jetzt die Klingel zum Vorsaal scharf angezogen wurde. Er hörte seinen Diener mit einer – wie es ihm schien – weinenden Frauenstimme sprechen.

Was giebt's? rief er dem Eintretenden entgegen.

Der Diener meldete, das Dienstmädchen von Frau Castellan Lippert sei dagewesen und habe gesagt, daß der Herr Doctor doch schleunigst hinkommen möchte. Sie habe noch Anderes gesagt, was er aber vor dem Weinen und Schluchzen des Mädchens nicht verstanden habe. Das Mädchen sei gleich wieder fort gelaufen. Leo schloß die Briefe und wichtigen Papiere in den Secretär und befahl dem Diener, die Lampe brennend zu erhalten. Er werde bald zurückkommen.


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