Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel.

Der Patriot, den sein Gegenstand allmählich erwärmt und dann im Innersten aufgeregt, hatte die empfangenen Eindrücke mit einer Wahrheit und Natur wiedergegeben, die seinem ganzen wilden Wesen einen neuen Charakter verliehen. Der widrige Ausdruck des schwarz gebräunten Gesichtes, das kleinlich Gemeine seiner Züge war verschwunden, seine Stirn hatte sich gewölbt, die listigen Runzeln waren von einem edeln Feuer geschwellt, ein sardonisch verächtliches Lächeln, das von Zeit zu Zeit um seinen Mund spielte, gab ihm zugleich einen entschiedenen Ausdruck von Übergewicht über seine Zuhörer; er war ein ganz anderer Mensch geworden. – Mit jener außerordentlichen Biegsamkeit des Organs, die man an den Südländern, selbst der untersten Klassen, bemerkt, und die nicht selten die Herzen und den Verstand ihrer Zuhörer unwiderstehlich fortreißt, hatte er bald humoristisch launig, bald melancholisch bitter, nun halb singend, dann wieder in der kräftig gediegenen Kriegersprache die mannigfaltigen Schicksale der Patrioten vorgetragen. Der Umstand, daß seine Erzählung, in all ihren Bestandteilen geschichtlich wahr, seinen Zuhörern Tatsachen enthüllten, die ihnen bisher gänzlich verborgen geblieben waren, da die spanische Regierung alle möglichen Vorsichtsmaßregeln ergriffen hatte, den eigentlichen Charakter der sogenannten Rebellen und des Krieges selbst dem Lande vorzuenthalten, hatte nicht wenig dazu beigetragen, das Interesse seiner Zuhörer und so sein eigenes im höchsten Grade aufzuregen. Die grause Wahrheit, mit der er das Schicksal des unglücklichen Guanaruato, der reichsten Stadt Mexikos in wenigen Meisterzügen hinwarf, hatte seine Zuhörer mit einem Schauder erfüllt, der sie in atemloser Stille noch starren machte, als der Erzähler schon lange geendigt hatte.

»Und Eure Aussichten?« fragte nun der junge Edelmann in einer Bewegung, die seine Stimme zittern machte.

Jago sah den Fragenden mit Hoheit an. »Die Henne, die das Ei der Revolution gelegt hat, ist geschlachtet,« sprach er hingeworfen; »bürge Euch aber dafür, das Ei wird den Spaniern doch noch den Magen abdrücken. Hidalgo ist in der Ewigkeit, aber andere leben noch! Ist noch ein Padre da. Wollte, er wäre ein guter Soldat! Aber immerhin, das Kleid macht den Mann nicht, und bisher war er unser Mann; spricht wenig, denkt aber viel; kurz und scharf angebunden. Hidalgo gab ihm eine kärgliche Ausstattung, als er ihn mit nicht mehr als fünf Offizieren, solchen nämlich, wie Ihr dort seht, nach Valladolid sandte«; er deutete auf die zwei Wichte, die sich in einiger Entfernung auf den Nasen hingestreckt hatten. – »Zu Petalan machte er Bekanntschaft mit zwanzig Negern, denen er die Freiheit versprach, wenn sie fechten wollten. Zwanzig Feuergewehre, die sich vorfanden, dienten, sie zu bewaffnen. Acht Tage nachher schlossen sich die Gebrüder Galeana mit ihren Leuten an ihn an; bald darauf kamen die beiden Bravos, auch Vincente Guerrero, und sofort ging es frisch los.«

»Kennst du Don Vincente Guerrero?« fragte der Jüngling.

»Vom Sehen«, erwiderte der Mestize. »Der Cura von Nucupetaro ist Euch gar kein übler Mann; er zäumt das Maultier da, wo es gezäumt werden soll, und legt ihm nicht wie Hidalgo die Trabuco zuerst und das Gebiß zuletzt an. Er exerziert seine Leute trefflich, und die Disziplin ist so gut wie bei Euren Gachupins. Ei, Disziplin und Munition und Kriegsvorräte! Hätte ich nur zehntausend Musketen, Mexiko sollte bald sehen! – –«

Der junge Don wurde einigermaßen ungeduldig, faßte sich jedoch bald wieder, und mit einer Menschenkenntnis, die weit über seine Jahre ging, ließ er der Zunge des Patrioten freien Lauf, die wirklich bald wieder auf den Gegenstand zurückkam, der für ihn das meiste Interesse hatte.

»Ja, Morellos,« fuhr er fort, »wißt Ihr,« sprach er geheimnisvoll leise, »daß er dem Oberst Paris bereits den Rückweg nach Mexiko gezeigt, daß er ihm siebenhundert Gefangene abgenommen, daß sich diese alle wie ein Mann an Morellos angeschlossen, daß er vierzehn Tage darauf die Brigade Llanos und Fuentes aufs Haupt geschlagen?«

»Alte Geschichten!« erwiderte Don Manuel. »Wo ist er gegenwärtig?«

»Ah, Señor! Überall und nirgends: in Oaxaca, glaube ich, vor Acapulco.«

»Erbärmlicher Lügner! Ich komme von Mexiko; in Cuautla Amilpas ist er.«

»Wenn Ihr es besser wißt, warum fragt Ihr?« versetzte der Patriot. »Bei San Jago! ich habe nun geplaudert, daß ich darüber ganz meine Leute vergessen, die da hinten im Walde ihre Siesta halten. Wenn sie wissen, daß jemand für sie wacht, so schlafen sie wie Schildkröten, ohne Empfindung, und alle wollte ich sie, wenn ich San Christóbal wäre, in den Sack stecken. Einstweilen Adiós, Señor! In zehn Minuten sehen wir uns wieder; auf alle Fälle jedoch, ehe Ihr Euch auf Euern Weg hinüber nach Cholula macht.«

Er wandte sich mit einem leichten Rucke an seinem Hute, und war im Begriffe, auf den Wald zuzugehen, der in einiger Entfernung begann, als ein Schuß aus diesem herauskrachte, der ihn auf einmal festbannte.

Einen Augenblick horchte er mit blitzenden Augen, als ein zweiter und dritter folgte.

»Die Spanier!« schrie er, indem er auf ein Felsenstück sprang und wild seine Augen umherrollte: »Sie sind uns auf dem Nacken! Lauf, Mateo! Lauf, Hipólito! Wollt ihr fort? Ist ja gerade, als ob ihr Blei oder sonst etwas zwischen den Beinen hättet! Lauft, um der heiligen Jungfrau willen! Und schießen sie euch tot, so kommt ihr lebendig ins Himmelreich!«

Die beiden Leutnants des Capitán, unsere beiden Zambos, hatten sich eine Strecke in Bewegung gesetzt, dann aber wieder innegehalten. Jago zog nun eine kleine silberne Pfeife aus seinem Gürtel, mit der er aus Leibeskräften zu pfeifen begann.

»Mögen uns alle Heiligen beistehen, und besonders du, San Martin!« rief er, in verzweifelnder Angst hin und her springend. »Ich hoffe, sie kommen nicht von Tesmelucos, sonst sind wir gepfeffert und gesalzen. Bei San Jago!« schrie er, sich auf die Stirne schlagend »heute ist Freitag nach Lichtmeß! – Zehn Zoll dicke Wachskerzen mit einem silbernen Armleuchter, heilige Jungfrau von Guadalupe! Mit einem funkelnagelneuen silbernen Armleuchter, sobald ich seiner habhaft werde, wenn du mich diesmal aus der Klemme errettest!«

»Fürwahr, Jago,« fiel Don Manuel ein, »wenn dies eine Probe deines Heldenmutes sein soll, dann glaube ich, du hättest wahrlich besser getan, bei deinen Maultieren zu bleiben.«

Der Arriero warf dem Sprecher einen bittern Blick zu, erwiderte jedoch kein Wort: denn der Jüngling hatte kaum gesprochen, als wieder eine Salve von kleinem Gewehrfeuer aus dem Walde herauskrachte. Zugleich stürzte ein Trupp halbnackter Indianer und Mestizen und Zambos aus dem Walde heraus, mit kaum einer andern Bekleidung als Schaffellen um ihre Schultern; dicht hinter ihnen drein die königlichen Dragoner, die, an den Rand des Plateaus herangaloppierend, den baumlosen Vordergrund von allen Seiten zu umzingeln anfingen.

Die während ihrer Siesta überfallenen Patrioten kamen nun in größerer Anzahl aus dem Walde. Als sie den Ausweg die Barranca hinab gesperrt fanden, erhoben sie ein furchtbares Geheul, und zur Linken und Rechten ausbrechend, rannten sie wie verzweifelt in allen Richtungen umher, vergeblich bemüht, den Dragonern, die sich in einen Halbmond geformt hatten, zu entgehen. Gleich einer Herde Schafe trieben diese sie vor sich her, indem sie zugleich wütend auf die wehrlosen Indianer einhieben.

Der junge Edelmann hatte anfangs mehr neugierig als teilnehmend der unnatürlichen Jagd zugesehen; aber als die Dragoner auf die unbewaffneten Indianer einzuhauen anfingen, schien ihm die Szene peinvoll zu werden. Allmählich begannen die Symptome von Ungeduld stärker bei ihm hervorzutreten, seine Augen funkelten, und Zorn und Entrüstung malten sich in seinen Zügen.

Die Indianer waren gänzlich verwirrt geworden. Sie liefen scharenweise dem Rande der Barranca zu, prallten wieder zurück, kamen wieder, aber so wie sie sich dem Schlunde näherten, sprengten die hinter dem Eichengebüsche haltenden Dragoner an sie an und drängten sie mehr und mehr dem Felsen zu. Einzelne Reiter kamen noch immer aus dem Walde heraus, die wehrlosen Schlachtopfer vor sich hertreibend. Als sie die Indianer in einen dichten Knäuel zusammengedrängt hatten, preßten diese letzteren auf einmal in instinktmäßiger Übereinstimmung mit aller Gewalt ihre Leiber gegen die Schlucht zu. Beinahe waren sie an dieser angelangt; doch die Dragoner hatten ihre Absicht erraten, und rasch sich auf dieser Seite verstärkend, nahmen sie den ganzen Knäuel in die Witte und fingen nun ein furchtbar scheußliches Morden an. Je dichter der Haufen sich zusammendrängte, desto gräßlicher wurde das Gemetzel. Es mochten der Patrioten zwischen fünf- und sechshundert sein. Auf einmal hielt der Knäuel der wehrlosen Schlachtopfer, und unter herzzerreißendem Geheule sich auf die Knie werfend, hoben alle ihre Hände und schrien mit herzzerreißender Stimme: »Schonung! Um der Liebe Gottes willen, Schonung!«

»Glückliche Reise zur Hölle!« gaben die Dragoner zur Antwort, und Köpfe und Hände fielen in allen Richtungen.

»Verwünschte Hunde!« schrie der Jüngling, übermannt vom Zorn und nun im höchsten Grade empört über die unmenschliche Grausamkeit der Soldaten. Und kaum hatte er die Worte gesprochen, als er auch beide Pistolen zugleich abschoß, zurück zu den Maultieren stürzte und zwei andere Pistolen aus den Halftern der Packsättel riß.

»Um der Liebe Gottes willen! Gedenkt Eurer Mutter! Gedenkt des Grafen! Gedenkt Elviras!« flehte Alonso, ihm in die Arme fallend.

»Nimm,« schrie der Jüngling. »Nimm,« schäumte er in höchster Wut, »oder beim lebendigen Gotte! ich schieße dich selbst nieder, ehe ich diesen unmenschlichen Schergen länger zusehe.« Und den Diener mit Gewalt von sich schüttelnd, sprang er wieder wie rasend vorwärts und schoß beide Pistolen ab. Zwei Dragoner hatten bereits die Sättel geräumt.

»Virgen Santa!« jammerte der alte Diener. »Er wird sich, die Familie und uns alle unglücklich machen. Zielt wohl, Pedro, Cosmo! An Pardon ist nicht mehr zu denken.« Und mit diesen Worten schossen die drei Diener ihre Gewehre gegen die Dragoner ab. Jago und die Arrieros, rasch diesem Beispiel folgend, hoben ihre Trabucos, und ein halbes Dutzend Dragoner leerten nach einander die Sättel.

Es erfolgte eine kurze Pause. Das Schießen aus dem Hinterhalte hatte gleich so vielen Blitzschlägen auf die unmenschlichen Dragoner und ihre Schlachtopfer gewirkt. Die letztern schauten einige Sekunden verwildert und starr umher, ungewiß, woher die unerwartete Hilfe komme, als Jago mit einer Donnerstimme schrie: »Nieder mit den Hunden! Nieder, nieder!« Die Indianer horchten einige Sekunden, und dann, als wären sie auf einmal rasend geworden, stürzten sie sich über die getöteten und verwundeten Dragoner, rissen, trotz den mörderischen Hieben der Reiter, die Waffen der Gefallenen an sich und begannen nun ihrerseits den Angriff.

Dem jungen Edelmann begann warm im heißen Kampfe zu werden. Jeder Schuß, der auf den zehntausend Fuß über der Meeresfläche erhobenen Bergesrücken fiel, rollte mit dem Gebrülle eines Zweiundvierzigpfünders über die Gebirge hin, die das Echo mit einem zehnfachen Donner wiedergaben.

»Habt ihr geladen?« schrie er, indem er auf einen Trupp Dragoner anlegte, der auf den Felsenabsatz zugesprengt kam und von welchem er den vordersten wieder aus dem Sattel schoß. Ihm folgten die Diener und Arrieros, und wieder leerten fünf Dragoner die Sättel, und wieder stürzten sich die Patrioten über die Gefallenen und, keiner Wunden achtend, entrissen sie ihnen die Waffen. Der Kampf wurde wütender, indem er gleicher wurde.

»Dank sei Gott und Ihren Gnaden. Unsere Zeit ist gekommen« murmelte Jago. Und mit dem Donnerrufe: »Nieder! Tod den Spaniern!« sprang er über den zehn Fuß hohen Absatz mitten unter die Kämpfenden und stürmte dann mit seinen Indianern auf die Dragoner los. Diese fingen an, schnell Grund zu verlieren, denn während zwanzig Patrioten, nun wohl bewaffnet, sie von vorne angriffen, hatten sich Hunderte in ihre Flanken geworfen, waren auf die Rücken der Pferde gesprungen, hatten sich an die Reiter angeklammert und diese aus ihren Sätteln gerissen, die Verwundeten sich mit den verstümmelten Armen und Füßen um die Schenkel der Pferde gewunden und mit ihren Zähnen in diese eingebissen. Das Schmerzensstöhnen der Tiere übertäubte bei weitem das Geheul der Kämpfenden. Es war ein grausenerregender Knäuel; die Indianer waren eingefleischte Teufel geworden. Die Dragoner konnten sich nicht mehr regen, kaum mehr bewegen; Mann und Roß waren von den Indianern umwunden. Keine zehn Minuten waren verflossen, und keine dreißig Reiter waren mehr auf ihren Pferden zu sehen. Der Edelmann hatte mit Entsetzen diesem Ausbruche indianischer Wut zugesehen. Auf einmal sprang er über den Felsen hinab und rief mit lauter Stimme: »Halt! Halt!«

»Tod dem Verräter!« entgegnete der Major der Eskadron, der bisher verzweifelt gekämpft und sich mit dem kleinen Überreste seiner Leute an die Felsenwand zurückgezogen hatte. »Tod!« schrie er nochmals, indem er seine letzte Pistole abschoß und dann sein Schwert erhob, um den Fehlschuß zu verbessern; doch ein Kolbenschlag stürzte Roß und Reiter zu Boden.

»Halt!« rief der Jüngling nun stärker: »Halt!«

»Die Zeit der Barmherzigkeit ist vorüber!« brummte Jago, und ihm nach seine Indianer.

»Beim lebendigen Gott, ich spalte dir den Schädel, wenn du nicht Einhalt tust!« schrie ihm der Jüngling zu.

Vergebens; das Wutgeschrei der Indianer übertäubte seine Stimme.

Indem tönten die Ave-Maria-Glocken von Cholula herüber, und die Glocken aus den Dörfern der Ebene fielen in unbeschreiblich wohltuender Harmonie ein.

»Ave Maria!« schrien hundert Indianer; »Ave Maria!« wiederholten die Mestizen und Zambos; und alle, Freunde und Feinde, ließen ihre bluttriefenden Hände sinken, und ihre wilden, verstörten Blicke senkten sich gleichfalls, und indem sie mechanisch die Medaillen der Jungfrau von Guadalupe erfaßten, die an ihren Hälsen hingen, und diese küßten, fingen sie laut und kadenzartig an zu beten: » Ave María, audi nos peccatores.«

Und als wären die Glockentöne höherer Befehl, neigten diese wütenden Menschen die Häupter, erhoben und falteten die Hände, knieten auf den Körpern ihrer getöteten Feinde nieder und begannen in demütigen Formeln Vergebung für sich und diese Feinde zu erflehen.

Über die Täler und Ebenen hin hatten sich bereits die Schatten der Dämmerung, über die Barranca die der Nacht gelagert; aber die Berge der Sierra Madre funkelten noch immer in glühenden Flammen, und die majestätischen Schneeberge erglänzten erst jetzt in ihrer ganzen Glorie und Pracht gleich Ungeheuern, in Flammen stehenden Leuchttürmen. Zugleich erhob und nahten sich Tausende von Geiern und Adlern, deren krächzendes Geschrei sich mit dem Stöhnen der Sterbenden und dem Geheul der Verwundeten vereinigte, um die ganze Szene zu einer der gräßlichst erhabenen zu machen. Sowie der letzte Glockenschlag verklungen war, erhoben sich die Indianer, sahen einen Augenblick sich schweigend und lauernd an, dann die übrig gebliebenen Spanier, und ohne einen Laut von sich zu geben, stürzten sie über diese mit einer Schnelligkeit und Wut her, die kaum mehr menschlich schien. In wenigen Sekunden war keiner der Dragoner mehr am Leben. Sie waren zu Tode gewürgt worden.


 << zurück weiter >>