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Die Glocken von den Kirchtürmen hatten mittlerweile fünf geschlagen, und der Morgen graute von Osten herüber; die wenigen noch sichtbaren Sterne schienen zu zittern in der Morgenfrische und erbleichten, während hinab gegen den Popocatepetl die roten Streifen seines schneeigen Hauptes gleich feurigen Flaggen sich um seine hehren Krater legten. Dann begann ein mattes blasses Licht über das Tenochtitlangebirge herüber zu brechen; aber die Stadt lag noch in Finsternis und Schlaf begraben, und nichts unterbrach die Totenstille als das Vigilancia der Schildwachen und das Rasseln der Totenkarren, welche die in der Nacht entschlummerten Leperos in ihre enge Wohnung oder die Hauptwachen abführten. Es war eine eigene Stille, diese Stille der Tausende, dieses Totenleben, bewacht von den Wächtern der ertötenden Fremdherrschaft. Am See Chalco und seinem Kanal fing es dann an, sich zu regen, und Hunderte von Kanoes flogen im Schatten der weichenden Nacht über den mehr und mehr erglänzenden Wasserspiegel dem engen Kanal zu, begleitet von dem Morgengesange der Indianerinnen und den Gitarrentönen ihrer Männer.
»Jesu Maria und alle Heiligen, halb fünf Uhr!« jammerte der Mayordomo. »Noch eine Stunde – horch, die Glocke von der Kathedralkirche – die Stunde, in der der Erzbischof die Messe ansagte, ist ja noch nicht gekommen. Wird er gehen?«
»Er ist schon gegangen, aber nicht zur Messe«, flüsterte Don Pinto dem alten Manne in die Ohren. »Zum Teufel mit deiner Altweiberfrömmigkeit.«
»Gespenst der Nacht und der Hölle! Alle guten Geister loben Gott den Herrn«, kreischte der Mayordomo, der, zurückschaudernd, an den Grafen stieß, welcher, in seinen Schlafrock gehüllt, zu den Gemächern der jungen Condessa schritt.
Gleich einer Alabasterstatue, von griechischer Hand gemeißelt, lag sie hingegossen, ohne Atem, ohne Bewegung. Erst nach langen Zwischenräumen öffneten sich ihre bleichen Lippen, zitterten einige Sekunden leblos und unwillkürlich, und schlossen sich wieder.
»So dauert es jetzt schon geschlagene zwei Stunden«, wisperte Sancheca, das Kammermädchen, indem sie sich über das Engelsgesicht hinbog und den kalten Schweiß von der Stirn küßte.
Auch der Graf, eine Träne im Auge, bog sich über die Schlummernde hin.
»Niña! Niña! Wollen wir nicht für den Unglücklichen, der uns verläßt, beten?«
Sie hörte nicht, sie gab keine Antwort.
Ein entfernter Trompetenstoß ließ sich im Kabinette hören. Die Augen der ohnmächtig Schlummernden öffneten sich.
»Niña!« bat der Conde wieder im zärtlich väterlichen Tone, »Niña, wollen wir nicht für den Unglücklichen beten, der uns verläßt?«
Auf einmal öffnete sie die Augen, blickte stier und starr um sich, schüttelte das Lockenköpfchen, schaute den Grafen wie verwundert an, streckte ihre Arme aus, und ihn um den Hals fassend, lispelte sie: »Nicht für ewig verloren.«
Ein zweiter Trompetenstoß schmetterte herüber. Ein starkes Detachement Dragoner mit einem Stabsoffizier an der Spitze hielt, und ein Jüngling in reicher Uniform sprang vom Pferde.
Sogleich war eine zweite heftige Stimme, die Don Manuels, zu hören, der wie rasend schrie: »Fort, um's Teufels willen! Fort, oder ich erschieße mich auf dem Platze!«
»Jesus Maria!« stöhnte der Mayordomo. »er ist Beelzebubs, ohne Messe, ohne Viatikum, ohne Beichte.«
Selbst die rohen Dragoner schauderten ob der Heftigkeit des Jünglings und bekreuzten sich mit einem Entsetzen, das dem jungen Edelmanne vollends seine Besinnung zu rauben schien. Ohne ein Wort weiter zu sagen, warf er sich auf sein Pferd; der Major, der ihm ernst und bedenklich nachgeschaut hatte, gab das Kommandowort, und der Zug setzte sich in Bewegung. Die Maultiere schlossen sich an die hintersten Glieder an, in wenigen Minuten war alles zwischen dem Laubwerke der Bäume verschwunden. Der Graf und Carlos hatten sprachlos den Enteilenden nachgesehen.
»Was soll das?« sprach der erstere endlich zum jungen Grafen, der noch immer verstört bald durchs Fenster, bald auf das Bett der Condessa blickte. »Es ist noch eine halbe Stunde vor sechs?«
»Wir haben plötzlich Ordre zum schleunigen Aufbruche erhalten. Die Cavecillas zeigen sich vom Malinche herab bis zur Barranca von Juanes und bedrohen unsere Kommunikation mit Puebla; die von Xalapa und Veracruz ist bereits unterbrochen.«
»Das ist eine schlimme und wieder eine tröstliche Nachricht«, sprach der Graf in tiefem Nachdenken, »eine sehr schlimme und eine sehr tröstliche Nachricht. Fürchte für die Niña nichts, Carlos!« fuhr er mit bewegter Stimme fort, und sein Blick fiel wieder auf die Leidende. »So sehr sind unsere häuslichen Leiden mit denen unseres Volkes verwoben, daß nur die gänzliche Genesung des letzteren unseren Jammer vollends heben kann. Ja, teurer Carlos, das Leiden deiner Schwester ist mir nun Labsal geworden; denn es wendet meinen wahnsinnigen Blick wenigstens für einige Zeit von dem Elende meines Vaterlandes ab; es ist Zerstreuung.«
»Gott, was sind wir für Menschen, die hier noch Zerstreuung suchen müssen. Elvira!« flüsterte er der Schwester zu, auf die er zueilte und ihr einen Kuß auf die Lippen drückte.
Das liebliche Kind öffnete wieder die Augen und sah den Bruder mit einem wehmütigen Blicke an. »Wehe mir!« lispelte sie, und schaudernd, wie gerüttelt vom Fieberfroste, schrak sie wieder zusammen und entschlummerte.
»Jesu Maria!« rief der junge Graf, »und ich soll gehen und sie verlassen?«
»Fürchte nicht für sie«, sprach der Graf. »An ihrer baldigen Genesung zu zweifeln, wäre an ihrem Zartsinn verzweifeln. Das Leiden unseres Volkes ist so groß, daß sie ihr eigenes darüber vergessen wird.«
Und mit diesen Worten küßten sich beide. Der junge Graf eilte aus dem Saale dem Detachement der Dragoner nach.