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Haigerloch

Wer von der Alb in die Ebene herabgestiegen ist und den Hohenzollern hinter sich hat, erwartet von dem flachen Lande zwischen jenem Gebirge und dem Schwarzwalde keine Naturreize mehr. Noch einige Hügel, noch einige dichte Buchenwälder, dann folgt ein langweiliges Blachfeld mit kahl gelegenen Dörfern, ein Weg, auf welchem den Reisenden nur der Rückblick auf die blauen Berge der Alb und die Erinnerung an das Schöne und Erhabene, was ihn auf ihren Gipfeln und in ihren Tälern erfreut und überrascht hatte, für die nichts bietende Nähe zu entschädigen vermag. Hinter dem Dorfe Rangendingen wird das Feld so einförmig, daß man nach stundenlanger Leere froh ist, in der Ferne auf scheinbar ununterbrochener Ebene eine Kapelle, von grünen Linden umgeben, auf wenig erhöhtem Boden liegen und die Gegend beherrschen zu sehen. Wenn wir aber auf diese Oase zueilen wollen, um im Schatten der Bäume auszuruhen, tut sich zwischen ihr und uns ein unerwarteter Abgrund auf: Wir blicken wie in einen der Trichter aus Dantes Hölle hinab, in welchem, der Himmel weiß, um welcher Verschuldung willen, das fürstlich sigmaringische Städtchen Haigerloch gebannt liegt und auf die wunderlichste Art Platz genommen hat. »Dies ist wahrhaftig eine tollgewordene Stadt!« war der erste Gedanke, der dem Verfasser dieser Zeilen laut entfuhr und einen alten fürstlichen Gärtner lachen machte, der ein kleines Gärtchen umgrub, das sich hinter dem Schlosse, welches zuvorderst auf einer Felsenzunge liegt, bis zur Ebene herauf dehnte. Im Angesichte dieses tollen Städtchens erzählte mir der Mann von einem tollgewordenen Volke. Er war während der ersten französischen Revolution bei einem Herzog und Pair zu Paris Gärtner gewesen; aber dieser Herzog hatte die rote Mütze aufs Haupt gesetzt, war der Pair seines eigenen Dieners geworden und gab den schmutzigen Ohnehosen, die das Estrich seiner Säle besudelten, die republikanische Accolade. Ich horchte dieser Erzählung nur halb und mußte immer auf die seltsamen Gassen hinunterblicken, die an den grünen Bergwänden hinab und hinauf und um den Bach herum zu kriechen schienen, während Kirche und Schloß sich eines hohen und behaglichen Platzes auf der die Tiefe zerschneidenden Felszunge bemächtigt hatten. Immer klarer wurde es mir: Diese Stadt lebt; sie hat einst auf der Ebene gestanden; irgendein Ereignis hat sie zur Verzweiflung getrieben, und in der Todesangst ist sie in diese Tiefe hinabgesprungen. Meine Vorstellung bekam Konsistenz in dem folgenden Gedichte:

 

Haigerloch in Schwaben

Auf der Höhe schläft die Stadt
      Wie ein frommes Kind,
Ihre Straßen, gleich und glatt,
      Schöne Glieder sind.

Drunten tief im Tale schäumt
      Durch Gestein der Bach,
Während oben alles träumt,
      Ist er plätschernd wach.

Auch die Wolken schlafen nicht,
      Wandeln hin und her,
Endlich drängen sie sich dicht,
      Ein Gewittermeer.

Und die Windsbraut fährt heraus,
      Und die Blitze sprühn,
Daß die Gassen, Haus an Haus,
      Wie von Flammen glühn.

Und der Donner grollend fährt
      Nieder in die Schlucht,
Wo der Bach, vom Guß genährt,
      Strömend Pfade sucht.

Wasser gärt und Luft und Flur,
      Wie am jüngsten Tag,
Und das Volk der Städter nur
      Tief im Schlummer lag.

Da, wie bei dem wilden Drang
      Sich nichts regen will,
Wird's den Häusern endlich bang,
      Halten nicht mehr still.

Denn sie selber sind erwacht
      In dem grausen Sturm,
Taumeln auf in schwarzer Nacht,
      Hoch voran der Turm.

Dieser wandelt schwer und bang
      Durch die Gassen quer,
Unter aller Glocken Klang,
      Mit der Kirch einher.

Doch die leichten Häuser sind
      Bald vorangerannt,
Drängen sich herab geschwind
      Von der Hügelwand.

Da erhebt sein moosig Haupt
      Hinten auch das Schloß,
Und vom Efeu dicht umlaubt
      Schreitet's durch den Troß.

Alles strömt dem Tale zu,
Bis an Bachesrand
Plötzlich unwillkommne Ruh
Die Verirrten bannt.

Denn aus Felsenufern spritzt
      Drohend er herauf,
Und das ganze Wetter blitzt
      Aus der Wellen Lauf.

Jenseits streckt ein Felsenstein
      Seine Zung ins Tal;
»Ach, wer drüben könnte sein!«
      Seufzen all' zumal.

Sieh, da faßt der Turm sich Mut,
      Hat besehn den Platz;
Bei der Blitze falber Glut
      Macht er einen Satz.

Und es tut's die Kirch ihm nach,
      Tut's ihm nach das Schloß,
Drüben stehn sie hinterm Bach
      Auf dem Felsgeschoß.

Und die hüben finden Raum
      Leidlich in dem Tal,
Flechten längs dem Wasserschaum
      Ihre Gassen schmal.

Winden ihre schiefen Reihn
      Aus der Schlucht empor,
Und zuoberst gräbt sich ein
      In den Lehm das Tor.

Und verwehet ist die Nacht,
      Und die Luft wird stumm;
Und die Städter sind erwacht,
      Sehn sich staunend um.

Seltsam Wunder! Wie und wo?
      Wer erschuf dies heut!?
Welcher Wahnwitz hat sie so
      In die Kluft gestreut?

Nach der Heimat heißt der Trieb
      Sie zur Höhe sehn.
Nur ein kleines Kirchlein blieb
      Dort in Linden stehn.

Dieses hat auf Gott vertraut,
      Lief nicht in der Irr,
Und noch jetzt es ruhig schaut
      Nieder aufs Gewirr.

Drunten alle sehnen sich,
      Stadt und Schloß und Turm,
Ob nicht wieder wunderlich
      Nächtlich komm' ein Sturm,

Sie zu führen aus der Schluft
      An des Hügels Rand.
Aber stille bleibt die Luft,
      Und sie stehn gebannt.

Haigerloch scheint ursprünglich eine Grafschaft gewesen zu sein und ein eigenes Geschlecht dieses Namens besessen zu haben. Wenigstens enthält die Manessesche Sammlung ein dem Grafen Albrecht von Haigerlou zugeschriebenes Lied (I 24), der in sittsamer Rede das Los des Mannes preist, welcher »ein stetes Lieb mit Armen all um und um beschlossen hält und dem auch sie ohne allen Haß Treue im Herzen trägt; ein solcher ist glücklicher denn der Minnedieb, den man sagen hört: ›Verbotene Wasser sind oft besser denn Wein!‹«

Die Herrschaft bestand aus der oben geschilderten Stadt Haigerloch, einigen Dörfern, Meiereien und Klöstern, und die Einwohner bekennen sich zur katholischen Religion. Später erscheint sie als ein Besitztum der Grafen von Hohenberg, kam nach deren Absterben an Österreich und von diesem durch Tausch an Hohenzollern-Sigmaringen. Die seltsame Lage des Städtchens bewunderte auch der in seinem eigenen Lande die schönsten Gegenden zu Schlössern und Anlagen auswählende Herzog Karl von Württemberg und erklärte, daß sie durch Kunst verschönert zu werden verdiene, ja daß er selbst sich arm an diesem Orte bauen würde.

Zur topographischen Ergänzung des Gedichtes sei noch hinzugefügt, daß es nur von drei Punkten einen Zugang zu dieser versenkten Stadt gibt, den einen durch das Tal, die zwei andern von den Bergen herab. Das fürstliche Schloß, das mit andern Gebäuden auf dem Berge steht, ist geräumig und schließt ein Hauptgebäude, einen Seitenflügel und einen großen Schloßhof mit starkem Röhrbrunnen in sich; hinter ihm zieht sich ein schöner Lust- und Baumgarten, selbst ein Weinberg, eine Seltenheit in diesem Oberlande – das freilich sigmaringisches Unterland ist –, hin. Dem Schlosse ziemlich nahe, nur etwas weiter unten, steht auf einem ringsum schroff abstürzenden Felsen der Glockenturm mit der großen und schönen Schloßkirche, die zugleich Hauptpfarrkirche ist; noch sind zwei andere Kirchen in der obern und untern Stadt, und auf dem gegenüberstehenden Berge liegt niedlich gebaut und von Linden umgrünt jene fromme Kapelle, die der heiligen Anna gewidmet ist. Unfern von ihr führt die Landstraße in das obere Tor der Stadt; hier fängt ein anderer Berg an, der von beiden Seiten ein tiefes Tal hat. An diesem Berge nehmen die Häuser ihren Anfang, die bis in die Tiefe hinunter rechts und links stehen. Mitten durch geht die Landstraße. Ganz im Talgrunde liegt die untere Stadt. Die Landstraße zieht sich von oben ohne Beschwerlichkeit bis in die Vorstadt herab und von hier über eine lange, starkgebaute Brücke zwischen den beiden hohen Bergwänden durch fast unvermerkt wieder die Anhöhe hinauf und zur Ebene. Oben am entgegengesetzten Tore steht ein alter, der Sage nach römischer, hoch und massiv aus Knotenquadern gebauter Turm, auf welchem die Hochwacht ist und in dem einige Glocken, worunter eine von ansehnlicher Größe, hängen. Südlich an der obern alten Pfarrkirche von St. Ulrich stand vor Zeiten ein Dominikaner-Nonnenkloster, das schon im 16ten Jahrhundert eingegangen ist, und seit undenklichen Zeiten ist Haigerloch der Sitz eines katholischen Landkapitels. Die sehr zahlreichen Juden Haigerlochs bewohnen ein südlich von der Stadt gelegenes Tälchen, das »Hag«, wo sie eine Begräbnisstätte und Synagoge haben. Der Bach, dessen gebäumter Schlangenleib durch die seltsame Stadt sich windet, war ohne Zweifel Zeuge und Mitarbeiter großer Naturrevolutionen in diesem Tale. Auch sieht man unterhalb der Bleiche wirklich noch auf den mächtigen Granitfelsen schöne Muschelabdrücke. An demselben Flüßchen liegt, eine kleine Meile von Haigerloch, das Dorf und Bad Imnau, wert, berühmt zu werden durch sein edles, alkalisch-erdiges Stahlwasser, dessen obere Quelle von Kielmeyer, die untere von Klaproth untersucht worden ist und das große Ähnlichkeit mit den Wassern von Schwalbach und Spa hat. Die untere Quelle hat Jahrhunderte lang ihre vorzügliche Heilkraft im stillen bewährt; seit vierzig Jahren ist auch die Badeeinrichtung und der Gasthof auf den Fuß besuchterer Bäder eingerichtet. Die später entdeckte obere Quelle, die Fürstenquelle benannt, wird vorzugsweise zum Trinken benützt. Sie liegt am östlichen Ende des Badegartens, vierhundert Schritte von der untern Quelle entfernt. Beide sind mit niedlichen Häuschen gedeckt und durch Baumalleen verbunden. Das eigentliche Badehaus steht westlich vom Gasthofe. Es ist zu bedauern, daß dieser Kurort, der schlechten Wege halber, von Fahrenden nur durch Umwege besucht werden kann, wenn nicht die neueste Zeit, die in der Kultur dieser Gegenden rasch vorschreitet, auch hier schon das Nötige getan hat.


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