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Das Tal, das alle Schönheiten der Albnatur in größter Vollständigkeit und Fülle in sich vereinigt, ist das Uracher Tal. Die Zierde dieser Gebirgsabhänge, die reichen Buchenwälder, bekleiden seine Berge vom Gipfel bis an den untersten Saum der Wiesen, die den ebenen Grund des Tales bilden und einen zweiten Wald der mannichfaltigsten Obstbäume beherbergen, die im Frühling mit ihren Blüten die Tiefe, über der in den dürren Wäldern noch der Winter raschelt, zu einem Paradiesesgarten umschaffen. Doch ist der Sommer die schönste Jahrszeit für dieses waldige Felstal, dessen eigentlich malerischer Teil mit dem in einem lieblichen Obstwalde ganz versteckten großen Pfarrdorfe Dettingen beginnt, wo es nicht mehr viel über eine Viertelstunde breit ist und die Felsen zuweilen so nahe rücken, daß das Tal ganz geschlossen scheint. Zur Linken fließt dem Wanderer die Erms, das klare, muntre Waldwasser, das die schmackhaftesten Forellen beherbergt. Zu beiden Seiten der Heerstraße vereinigen sich Kirschen-, Zwetschen-, Birn-, Äpfel- und Nußbäume auch zur Sommerszeit, wenn die Blüte längst vorüber ist, zu einem freundlichen Gemisch von mannichfaltigem Hellgrün, während die abwechselnden Formen des hier ebenfalls in verschiedenen Gestalten sich gefallenden Gebirges in das undurchdringliche, saftige Dunkel der Buchen gehüllt sind und im heißesten Sommer durch ihren bloßen Anblick ein Ahnungsgefühl der Kühle erwecken. Auch in stille, schattige Seitentäler tut das Auge von Zeit zu Zeit einen erfrischenden Blick. Das schönste derselben, östlich von der Feste Hohenurach, der Brühl genannt, ist die abgeschiedenste Waldgegend, nach allen Seiten von den höchsten Bergen eingeschlossen, mit immergrünem, bewässertem Wasen bedeckt. Von der südwestlichen Gebirgswand rauscht uns der dreifache Wasserfall des Brühlbaches entgegen, der sich hier die ganze Albhöhe herab über eine Tuffsteinmasse fast senkrecht ergießt und auf den die Felsen und Wälder der Albhöhe niederschauen. Gegen Mittag schlingen sich bei günstiger Sonne, wenn man den Fällen ganz nahe getreten ist, durch den Wasserstaub die Edelgesteine eines oft wiederholten Regenbogens. Ein wildes Gehölz umgibt den Schauplatz der Szene; eine köstliche Gruppe überhangender Bäume spiegelt sich oben am Rande in dem hervorspringenden Wasserbogen, dessen Fall gegen 80 Fuß betragen mag. Der Platz oberhalb des Wasserfalles, auf der sogenannten schönen Wiese, übertrifft an düstrer Abgeschiedenheit alles, was man in diesen stillen Bergen findet, und doch ist der Hinunterblick auf den ruhigen Grund, in das jungfräuliche, unbewohnte Tal, unaussprechlich befriedend. Man freut sich der ungestörtesten Einsamkeit, und nur der Blick auf die Burgtrümmer Hohenurachs im Hintergrunde mahnt an das Leben hinabgegangener Geschlechter.
Hier lebt und webt die Natur noch in ihrer alten Kraft und Stille, ja die Wunder der ewigen Gerechtigkeit wiederholen sich noch heutigen Tages hier auf diesen Höhen, in diesen Gründen. Ein reicher Bauer aus der Umgegend hatte seine Geliebte zu Urach vor Gericht verleugnet und geschworen, nicht auf dem Bette sterben zu wollen, wenn er löge. Dann ging er den steilen Gebirgspfad empor, seiner Heimat zu –
Er ließ die Magd wohl weinen
Und an der Brust den Kleinen!
Was murrst du, alter Wasserfall?
Was schüttelt ihr die Häupter all',
Ihr Eichen und ihr Buchen?
Ihr Winde, wen kommt ihr suchen?
Die hohen Felsen stehn zu Hauf,
Sie heben den weißen Finger auf,
Die Bauern alle, die andern,
Mit Eile, mit Eile wandern.
Der eine schleichet hinterher,
Sein Atem wird ihm kurz und schwer,
Zu des Gesteines Klötzen
Geht er, sich hinzusetzen.
Vergebens warten auf ihn die Wandergenossen.
Zuletzt im Regen und im Wind
Die Dirne kommt mit ihrem Kind,
Ihr ist, als ob es riefe
Wehklagend aus der Tiefe.
Da schleicht der Mond vor, ihr zu leuchten, und zeigt ihr im feuchten Grunde, zwischen Strauch und Baum, zwischen Fels und Wasserschaum, zerschellt und röchelnd, den Ungetreuen. S. die Romanze »Der Schwur«; G. Schwabs »Gedichte«, I, S. 325f.
Wir verlassen diese Einsamkeit und nähern uns auf der Landstraße der Feste Hohenurach wieder. Dieser stumpfe Bergeskegel, von seinem Fuß an mit Wald bewachsen, steht von drei Seiten ganz frei, und selbst die vierte, wo er gegen Süden mit dem höheren Gebirge zusammenhängt, hat eine solche Vertiefung, daß er dadurch zu einem ganz abgesonderten Berge wird.
Die Burg, mehr als 2000 Pariser Fuß über der Meeresfläche gelegen, beherrschte den ganzen Rücken des Berges und bot gegen die südliche Alb drei Terrassen dar: die untere Burg auf dem hintern, steil abstürzenden Felsrücken, mit einer in die Felsen gehauenen Brustwehr, in deren Schutze die Burgkapelle stand; dicht über dieser die obere Burg mit hohem Bollwerk, mit Halbmonden auf den vier Ecken und einem starken, hohen Turm, der den Haupteingang bedeckt; endlich über dem Bollwerk auf dem vordersten Felsengipfel die innere Burg, das eigentliche Schloß, welches die Stirn in das Haupttal hinabwies. Der einzige Eingang in die obere Burg ist in der östlichen, der Stadt zugekehrten Ecke. Vor dem Haupttore, welches auf das Bollwerk führt, ist ein breiter, tiefer Graben, in Felsen gesprengt. Der Umfang der innern Burg war nicht von Bedeutung. Der Schloßhof beschrieb ein unregelmäßiges Viereck. Zwei Hauptgebäude umzogen die nördliche und östliche Seite; auf der Westseite lief eine hohe Mauer mit einem Turm im Innern des Hofes; die Seite gegen das Bollwerk schloß der feste, mit einer wehrhaften Plattform bedeckte Eingang. An den äußern Ecken standen sehr feste Türme; zudem umlief die ganze innere Burg ein mit vielen Türmen besetzter Zwinger.
Das alles liegt jetzt in Trümmern, ist aber auch als Ruine noch groß:
Aus des Gebirges Kerkern
Schaut Urach ernst herab,
Mit morschen Turmeserkern,
Mit seines Dichters Grab.
S. G. Schwabs »Gedichte«, I, S. 301.
Dieser Dichter ist Nikodemus Frischlin, der von »den Hofteufeln«, dem Adel, eifersüchtigen Mitlehrern und endlich den Fürstendienern, die »der Könige lange Hand gebrauchten«, verfolgt, seines Lehrersitzes in Tübingen verlustig, auf der Flucht, aus der er Libellen geschleudert hatte, ergriffen, auf dieser Bergfeste eingekerkert ward und freiheitsuchend an den Felsen zerschellte (1590).
Ihn schlossen sie in starre Felsen ein,
Ihn, dem zu eng der Erde weite Lande.
Er doch, voll Kraft, zerbrach den Felsenstein
Und ließ sich abwärts am unsichern Bande.
Da fanden sie im bleichen Mondenschein
Zerschmettert ihn, zerrissen die Gewände.
Weh! Muttererde, daß mit linden Armen
Du ihn nicht auffingst, schützend, voll Erbarmen!
Just. Kerners »Dichtungen«, S. 128.
Die Erde hat ihn wenigstens lange labend in ihrem Schoße bewahrt, denn im J. 1755 ward auf dem Kirchhofe zu Urach ein eichener Sarg aufgegraben, in welchem der zerschlagene Leichnam, sonst noch unversehrt, eine Papierrolle in der linken Hand und in ein gelehrtes Staatskleid eingehüllt, gefunden wurde. Er hatte also doch ein ehrendes Begräbnis erhalten, wenn anders die Zeugen sich in ihrem Funde nicht getäuscht haben.
Ein früherer Gast dieser Kerkerfeste war, wenn Hohenurach hier nicht mit dem Schlosse der Stadt Urach verwechselt wird, der Vater des Herzogs Ulrich von Württemberg, der wahnsinnige Graf Heinrich, der, im J. 1490 von seinem Bruder Eberhard im Bart hierher gelockt, in einen Ring geschlossen sein früher Land und Leuten verderbliches Leben hier vertrauerte. Sein edles Gemahl Eva folgte ihm in diese wilde Einsamkeit, gebar ihm in der Gefangenschaft noch einen Sohn (1498), Georg, der durch seinen Sohn Herzog Friedrich I. Stammvater des jetzt blühenden württembergischen Hauses wurde, und wartete ihm getreulich ab bis zu seinem Tode (1519). Auch der berüchtigte Kanzler Enslin saß lange Zeit hier gefangen, bis er mit dem von ihm verführten Kommandanten der Burg am 22. Nov. 1613 auf dem Marktplatze zu Urach enthauptet ward.
Wer die Burg Hohenurach erbaut hat, ist unbekannt; wahrscheinlich Egon oder Egino I., der im 11ten Jahrhunderte lebte. Von seinen zwei Brüdern baute der erste, Egino, der zweite, Rudolf, vollendete die Burg Achalm. Die urkundliche Geschichte des Hauses Urach umfaßt zwei Jahrhunderte; es gehörte zu den ausgezeichnetsten und merkwürdigsten Schwabens. Schon der Sohn des Stifters, Konrad oder Kuno, brachte es bis zum Kardinal. Er war Begleiter des Papstes Gregor VII., Zeuge der Szene zu Canossa und nachher einer der heftigsten Gegner Heinrichs V. Im J. 1111 hielt er als päpstlicher Legat zu Jerusalem eine Kirchenversammlung und sprach hier über den Kaiser den Bann aus, den er auf verschiedenen Synoden wiederholte; auch präsidierte er das Konzil zu Soissons, wo Abälards Prozeß verhandelt wurde. Nur sein eigener Wille verhinderte, daß er nicht zum Papst gewählt wurde. Sein Bruder Gebhard, Bischof von Speyer, liegt im Kloster Hirsau begraben. Von den spätem Grafen erhielt Egon der Fünfte nach einigem Kampfe durch seine Gemahlin Agnes im J. 1219 das Breisgau. Sein Erbe war sein ältester Sohn, Egon VI.; der zweite Sohn, Kuno, Bischof von Oporto und Kardinal, war einer der berühmtesten Männer seiner Zeit, groß in weltlichen wie in geistlichen Geschäften. Als päpstlicher Legat hatte er in Frankreich, England und Deutschland die glänzendste Rolle gespielt. Auch er lehnte als Kardinal die Papstwürde ab und zog sich nach einem langen, geräuschvollen Leben in das stille Ermstal auf Hohenurach, den Sitz seiner Väter, zurück. Hier mit dem Bau des Klosters Güterstein beschäftigt, erhielt er den beschwerlichen Auftrag, als Legat nach Palästina zu gehen, um dort einen Kreuzzug leiten zu helfen, und starb im J. 1230 auf der Reise. Egons VI. Enkel, Graf Berthold von Urach, wurde Stifter des fürstenbergischen Hauses. Aber seine Linie erlosch mit ihm und mit ihm das Haus der Grafen von Urach. Die Grafschaft Urach mit Stadt und Burg ging jetzt, noch im dreizehnten Jahrhundert, durch Tausch an Württemberg über. Graf Eberhard im Bart liebte Stadt und Feste und hauste oft in beiden. Grausam verwüstete die Burg der Herzog von Alba im Schmalkaldischen Kriege (1547), und erst der baulustige Herzog Christoph stellte sie wieder her. Im 30jährigen Kriege war Hohenurach in schwedischen Händen und wehrte sich, als die Stadt längst übergeben war, hartnäckig gegen die Obersten des Feldmarschalls Gallas, und erst ganz ausgehungert erhielt die tapfere Besatzung ehrenvollen Abzug. Urach war das letzte Besitztum, das nach dem Westfälischen Frieden von den Östreichern dem rechtmäßigen Landesherrn wieder eingehändigt wurde. Während der französischen Überfälle von 1693 diente die Feste vielen zum Asyl. Die erste große Beschädigung erhielt es durch den Blitzstrahl 1694. Seit dieser Zeit blieb es baufällig und sparsam besetzt, bis es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ganz zerfiel und seine Steine zur Erbauung des benachbarten Jagdschlosses Grafeneck verwendet wurden.
Auf dem höchsten Punkte des Schlosses genießt man eine herrliche Aussicht in das Uracher Tal, das durch seinen schmalen Durchbruch durch das Gebirge, seine waldigen Bergwände und seine Ausmündung in ein breites, ebneres Land viel Ähnlichkeit mit dem Heidelberger Tale hat. Die Fernsicht auf der Burg ist beschränkt, und zwischen den beiden Bergsäulen des sich erweiternden Tales blickt nur ein kleiner Abschnitt der fernen Fläche herein, deren Hintergrund das Schloß Hohenheim und die fruchtbaren Bergebenen vor Stuttgart bilden.
Das Städtchen Urach am östlichen Fuße der Burg, gewerbreich durch die Leineweberei, den Leinwandhandel und die Bleiche, von Herzog Friedrich I. seit 1597 hier eingeführt, bietet einiges Merkwürdige dar, darunter die alte Residenz des Grafen Eberhard im Bart, das von Graf Ludwig von Württemberg 1443 aufgeführte und von Eberhard im Bart aus Gelegenheit seiner Vermählung im J. 1474 verschönerte Schloß, das schon Martin Crusius herrlicher fand, »als man es von außen dafür ansieht«, und einer königlichen Hofburg verglich. Die Wände des halbhölzernen Gebäudes sind mit üppigen Efeuranken bedeckt; in dem freistehenden Portal ist der Palmbaum des wallfahrenden Eberhards im Bart und sein eines Helden würdiger Sinnspruch: »Attempto« (d. h. »Tento«, »Ich wag' es!«) farbig eingezeichnet. Im Innern zeigt unter vielen Zimmern ein großer Saal mit steinernem Boden uns die Brautbettstatt jenes Eberhard, und ein zierlich gemalter und vergoldeter Rittersaal, der äußerst geräumig ist, erinnert vielfach an jenen Fürsten sowie an einige spätere Perioden der württembergischen Geschichte. In diesem Saale wurden bei der Hochzeit Eberhards mit einer mantuanischen Prinzessin vierzehntausend Personen gespeist; der Wein lief aus einem Brunnen unmittelbar in dem Saal in die Becher. In der Hausflur sieht man das in Lebensgröße sehr schön geschnitzte Bild des wahnsinnigen Grafen Heinrich.
Außer dem Schlosse verdient der durch den edeln Eberhard gestiftete St. Amandushof Erwähnung; Herzog Christoph räumte denselben dem frommen Lutheraner Hans Ungnad, Freiherrn von Sonneg, ein, der, einst österreichischer Gesandter zu Konstantinopel, jetzt ein Asyl in Tübingen gefunden hatte und zu Urach slavische Bibelübersetzungen und Drucke leiten wollte, mithin die erste Bibelanstalt gründete. Die Ironie des Schicksals vermachte seine Druckerei – der Propaganda zu Rom. Jetzt ist das Stift ein niederes evangelisches Seminar; seine Kirche, schon durch Eberhard im Bart zur Stadtkirche geworden, bewahrt den schön geschnitzten Kirchenstuhl Graf Eberhards. In dieser Kirche ließ Herzog Ulrich im J. 1537 ein Colloquium seiner Theologen halten, in dessen Folge alle Bilder aus den Kirchen entfernt wurden.
Das nahe Karthäuserkloster Güterstein, jetzt bis auf die Spur verschwunden (an seine Stelle ist ein Wasserwerk und in der Nähe ein Fohlenhof getreten), hatte wahrscheinlich großen Anteil an der Sinnesänderung des edeln, aber in seiner Jugend rohen und ausschweifenden Eberhard. »Der alte Vater«, ein Prior zu Güterstein, besaß sein ganzes Zutrauen, und als die Reue ihn nach dem Heiligen Grabe trieb, legte er hier sein Testament nieder und empfing kniend des alten Vaters Segen.
So erinnert fast alles in Urach und in der Umgegend an den ersten Herzog Württembergs, den herrlichen Fürsten, dem der Papst sein seltenstes Geschenk, die Heilige Rose, zuerkannte, den der Kaiser selbst der Kaiserkrone würdig achtete, der den Wissenschaften ihren Sitz in Tübingen gründete, der in einer schweren und mißtrauensvollen Zeit sich rühmen konnte, ruhig sein Haupt im wilden Walde in jedes Untertanen Schoß legen zu können, und der auf seinem Sterbelager sprach: »So jemand ist, dem wider Billigkeit meine Regierung schwer und ungerecht gewesen, dem soll es mit aller meiner Habe ersetzt werden; und wenn dir damit, mein gnädiger Gott und Schöpfer, noch nicht genug getan ist, so ist hier mein Leib: Züchtige ihn und mach ihn zu einem Sühnopfer!«