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Drittes Buch.
Wartburg

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Wartburg-Sonntag

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Dese Wohnung ist das Herrlichste, was ich je erlebt habe, so hoch und froh, daß man hier nur Gast sein muß, sonst würde man vor Höhe und Fröhlichkeit zunichte werden.

Goethe auf der Wartburg (1777)

. Um die Ränder und Zacken der Wartburg fließt einer Sommerfrühe blendend weißes Licht. Das Mauerwerk steht fest und hell auf seinem Felsen. Es ist eine männliche, eine taghelle Stimmung um Thüringens ruhmvolle Bergfeste.

Kirchenglocken schlagen in der Ferne an; hohe Wolkenstreifen wehen wie Fahnen über den Sonntagshimmel.

Schneeweiß quillt das Licht und kleidet den Sonntag in ein Festgewand. Wohlige Wärme weht über den Boden hin; sie verbindet sich mit der Frische der taunassen Erde zu einem funkelnden Dampf.

An den Wiesen erwarten uns die Grillen. Kein Wind bewegt das volle, schwere Wipfelgeschiebe, das an den Mauern der Landhäuser angelagert ruht. Morgenblank leuchten die Villen im Mariental. Die Straßen Eisenachs sind noch ziemlich still; aber man hat die Empfindung, daß heut' überall auf den Hügeln Freuden und Überraschungen warten. Und vereinzelte Jodler hallen jetzt schon aus waldigen Tiefen oder von den wunderlichen Felsgebilden des Marientals herüber …

Nun denn, ihr breiten Wände mit den Fensterbogen des Sängersaals, du Stätte des Minnesangs und ritterlicher Tüchtigkeit – sind deine Herren und Knappen, deine Sänger und Edelfrauen bereit? …

Mir ist, als wär' heute wiederum Sängerfest. Der Sänger Ofterdingen ist vor Jahresfrist im ersten Wettkampf erlegen und hat heute sein besseres Lied zu bringen – oder er verfällt dem Henker. Mir ist, als hört' ich da oben ein Türenschlagen in den Morgengemächern, ein Liedchenträllern der Kammerfrauen, wenn sie vorüberlaufen an offenen Fenstern. Und in Hof und Werkstatt ist ein Klopfen, Scheuern, Putzen. Frau Landgräfin Sophie bewegt sich in einem Gefolge von gesitteten Sängern in lebhafter Unterhaltung aus dem Burgtor; sie wendet sich mit dem farbenblitzenden Geleit nach rechts, um auf der Höhe des Bergrückens in bewegtem Gedankenaustausch zu lustwandeln. Gräfin Mechthild tritt bald darauf aus dem Frauenpallas, mit viel leiserem Gewänderrauschen als ihre hohe Freundin, begleitet von wenigen Dienerinnen: sie geht zur Morgenandacht am Waldkreuz. Errötend geht die blasse, süße Frau, da eine Kette von Neugierigen am Tore steht und die Minnigliche züchtig grüßt. Und immer hallen aus duftiger Ferne Waldhörner, aus der Landgrafenschlucht, aus dem Annatal, von heranziehenden Festgästen Man vergleiche hiezu und zu den folgenden Kapiteln meine Wartburgtrilogie (umfassend die dramatischen Dichtungen »Heinrich von Ofterdingen«, »Die heilige Elisabeth« und »Luther auf der Wartburg«)..

Knappen und Knechte, die müßigen Schelme, reiten im Stall auf den Pferdekrippen und pfeifen Schalkslieder oder treiben Possen. Einer thront umgedreht auf des Landgrafen bestem Schimmel, läßt die Beine über den Pferderücken hangen und spielt den empörten Burgherrn, wie er eben den Henker ruft; ein anderer gibt mit komischer Wildheit den Henker, einen Besen im Arm, die Rechte wie eine Tatze mit Grimassen ausgestreckt, langsam eindringend auf den lachend flüchtenden »Ofterdingen«. Die Stallrotte unterhält sich köstlich. Heut' ist der zweite Sängertag: wird der Österreicher, der gestern mit dem Schiedsrichter Klingsor in Eisenach einritt, diesmal bestehen?

Den Türmer kümmert das wenig. Der sitzt auf seiner erhabenen Warte und reibt sein Messinghorn blank. Von Zeit zu Zeit hat er einen Einfall: er biegt sich mit jähem Ruck herum, greift zwischen das Gerät und hebt handfest eine Deckelkanne zum schnauzbärtigen Mund. Langer, unerschütterlich langer Zug! Heut' ist jeder neue Gast ein neuer Vorwand zum Trunk. Und am späten Lichterabend wird er auf seinem Turm sinnlos blasen und lachen und Tänze stampfen, daß sich die wackligen Bretter biegen, und wiederum blasen, umlacht von lustigen jungen Gesellen, die ihn und seine Schnurren am Sonntagabend zu besuchen pflegen …

Aber aus den Ulmen und Buchen und Eichen rund um die umgrünte Burg dringt ein Finkenschlagen und Amselschmettern immer froher in den wachsenden Tag. Immer buntere Festkleider umranken den Berg. Das juchheit ins belebte Tal, das zieht empor, lagert sich auf den Wiesen, hält Frühstück …

Es ist ein gesunder, reiner und großer Morgen, durch den nun ein anschwellend Glockengeläut langsam und feierlich dahinschwimmt und alle Lüfte gewaltig erfüllt. Die Glocken von Eisenach läuten, die Posaunen rufen, Ritter reiten zu Berg – dort Klingsor, daneben Ofterdingen – der Wettkampf wird beginnen! Alles strömt in den überfüllten, nach Blumen und Kränzen duftenden Burghof.

* * *

Mein Elfenvolk umfliegt mich wieder; meine Freunde nehmen mich wieder in Empfang. Jung-Elfenland aus dem Ilmtal hat den trotzigen, Ferne suchenden Flüchtling eingeholt. Und Alt-Elsaß hat in Gestalt eines liebenden, empfänglich wieder auflebenden, Sinn und Seele öffnenden Vaters dies weltberühmte Gelände aufgesucht. Wir feiern ein Fest der Freundschaft – unser ist der Tag, unser die helle Burg!

Einen alternden Vater nach vielerlei Sorgen als Sieger über so lichtumflossene Höhen zu führen: es ist die reinste Genugtuung, die ein Sohn erleben kann. Ihn, der einst mich geleitet hat, nun selber durch so viel Eindrücke zu leiten; ihm darzureichen, was ich mir mühsam errungen habe; um sein Silberhaar den Goldkranz einer verklärenden Abendröte zu legen: – nichts kommt so tiefer Freude gleich.

Dazu sind wir umflogen von gar viel Anmut. Tausendschön und Marienblümchen haben sich vom grünen Grund gelöst und laufen nun rot und weiß an den Waldwiesen entlang. Unsere Kleinen werden nicht müde, seltene Blumen zu suchen und den Gästen der Wartburg an Kleid oder Hut zu stecken. Ihre Mutter strahlt vor Glück und Dank. Wir Männer schreiten in gemächlichen Gesprächen, bleiben von Zeit zu Zeit vergnüglich stehen, wischen die feuchten Stirnen und schauen zurück nach dem mächtigen Schattenriß der Burg oder hinunter nach dem vielfarbigen Häuserwerk von Eisenach.

Behagliche Ruhe atmet unser Gespräch. Wir freuen uns des Mittagsmahles und sind neugierig auf die Weine des Wartburgwirtes. Ich trage den Kindern die blauen Mäntelchen, und manchmal hängt sich die anschmiegsamste Kleinste an meinen Arm. Auf dem Kamm warten die bequem gesattelten Reitesel – mit Jubel schwingt sich das Völkchen darauf. So ziehen wir als des Landgrafen Festgäste ohne Hast empor. Wozu sollten wir von mittelalterlicher Poesie sprechen? Dieser Tag ist ja selber Poesie.

* * *

Bald halten wir unter Burgtor und Zugbrücke. Irmgard und ihre Schwestern springen von den Sätteln; Sonntagsvolk drängt sich auf der Brücke; die Burg ist voll Menschen, als wär' heut' wirklich ein Fest.

Und nun badet der Blick in der Pracht der Landschaft! Welche Fernsicht! Eisenach ist zwar zum Teil durch den Hainstein verdeckt, aber die wachsende Stadt drängt darüber hinaus und füllt das ganze Tal; helle Landhäuser sind auf den Waldberg hinaufgeklettert und grüßen zur Wartburg herüber wie mützenschwingende Zungen. Gleich vor uns hat sich der Metilstein vor die Ebene gelagert. Auch er trug eine Zeitlang eine Burg, in den Wirren des thüringischen Erbfolgekrieges. Aber sie verschwand ebenso rasch wieder wie die »Eisenacher Burg« am anderen Ende des Bergrückens. Die Wartburg ließ solche Nebenbuhler nicht aufkommen.

Am nordöstlichen Horizont steht wie erstorben in dieser lebendigen Landschaft der Hörselberg, kahl, lang, rötlichgrau – ein feierlich stummer Sarkophag. Dort hat Tannhäuser bei Frau Venus »im Tann gehaust«. Im Tann hausen heißt aber in sechs Tannenbrettern ruhen: im Sarg. Dort war Tannhäuser lebendig tot, unerwacht zur Lebenspflicht.

Jener Berg war einst der Göttin Hulda geweiht, der unermüdlichen Frau und Mutter, der emsigen Spinnerin. Eine schwächliche Zeit hat später diese Frau und Göttin in eine buhlerische »Venus« verwandelt; und man gesellte ihr einen »Ritter« bei, der nach sündigen Lüsten im Büßertum zusammenknickt, statt daß er sich zu Lebensstolz und Bessermachen aufrafft.

Von Norden her haucht uns der Saatenduft der schimmernden Ebene an, Sonntag, Glanz und glühende Luft! … In der Nähe ist welliges, waldbedecktes Gebirgsgelände, das durchlaufen ist von braungrünen Sommerwiesen mit ihren vielen Blumen und Rispen und Dolden; Felsen voll Heidekraut; weiche, runde Baumwipfel, die sich allerliebst anschmiegen an das fest und starr emporragende Mauerwerk der Sängerburg.

* * *

Hier sind wir im Herzen Deutschlands! Und sollte sich nicht der beste Prunksaal der Seele auftun, wenn wir durch Hof und Ritterhaus und Lutherzimmer, durch Landgrafenhaus und Sängersaal und Kapelle wandeln und deren Geschichte in uns einströmen lassen? Warum gingen Weimars Dichter an dieser unvergleichlichen Burg vorüber?

Der junge Goethe war von Weimar aus, über Stützerbach und Eisenach, einige Wochen auf der Wartburg, das Herz voll Liebe zu Frau von Stein, so daß er alle Dinge verklärt schaute, erst recht diese schon ohnedies reizvolle Landschaft.

»Hier oben! Wenn ich Ihnen nur diesen Blick, der mich nur kostet aufzustehn vom Stuhl, hinübersegnen könnte! In dem grausen, linden Dämmer des Monds die tiefen Gründe, Wieschen, Büsche, Wälder und Waldblößen, die Felsenabgänge davor und hinten die Wände, und wie der Schatten des Schloßberges und Schlosses unten alles finster hält und drüben an den sachten Wänden sich noch anfaßt, wie die nackten Felsspitzen im Monde röten, und die lieblichen Auen und Täler ferner hinunter, und das weite Thüringen hinterwärts im Dämmer sich dem Himmel mischt. Liebste, ich hab' eine rechte Fröhlichkeit dran, ob ich gleich sagen mag, daß der belebende Genuß mir heute mangelt; wie der lang Gebundene reck' ich erst meine Glieder. Aber mit dem echten Gefühl von Dank, wie der Durstige ein Glas Wasser nimmt und die Heiligkeit des Brunnens und die Liebheit der Welt nur nebenweg schaut. Wenn's möglich ist zu zeichnen, wähl' ich mir ein beschränkt Eckchen; denn die Natur ist zu weit herrlich hier auf jeden Blick hinaus! Aber auch was für Eckchens hier!« …

Wenn's möglich wär' zu zeichnen … Einige Zeichnungen nahm er in der Tat von diesem Waldberg mit. Aber die Seele der Burg, ihre Geschichte, ihre Gestalten – blieben ihm verborgen. Der Name Wartburg wird in den sämtlichen Werken des poesiefeinen Ministers von Weimar-Eisenach knapp dreimal erwähnt.

Erst gegen Ende seines sonst so vielseitigen Lebens, fünfzig Jahre nach seinem herbstlichen Aufenthalt hier oben, lernte Goethe das Nibelungenlied in Simrocks Übersetzung kennen (1827). Da freilich schrieb er die Worte: »Die Kenntnis dieses Gedichts gehört zu einer Bildungsstufe der Nation. Jedermann sollte es lesen, damit er nach dem Maß seines Vermögens die Wirkung davon empfange … Aus welchen Forderungen man wohl sieht, daß sich noch Jahrhunderte damit zu beschäftigen haben.«

Inzwischen hat uns treue Forschung redlich ein Erbe nach dem andern erschlossen. Wie sind wir reich! Lebt aber das Erschlossene? Ward es ein Stück unserer inneren Welt, durchwärmt und neugebildet von heroischen Dichtern der Gegenwart?

* * *

Am östlichen Hang des Schloßberges läuft ein kleiner Pfad auf eine felsige Lichtung. Dort sitz' ich zwischen den Elfen, während die anderen Mittagsruhe halten. Übermächtig ragt zu unseren Häupten die Nordfront der Wartburg.

Elfen und Wartburg … Der Klang des Wortes Wartburg, und was alles für den Kundigen dabei anklingt, ist allzu stark und will keinen Zweiklang geben mit jenem spielenden Bild …

Es gilt Abschied nehmen, liebe Mädchen. Man ist zwar im Kinderland mit großem Gewinn ein Weilchen Gast; man legt Lasten ab und schaut, lächelnd am Rain sitzend, Kinderspielen zu. Dann aber erhebt man sich und wandert weiter. Denn wir alle wachsen: morgen bin ich – wer weiß wo; und ihr seid Hausfrauen.

Drum vergleich' ich euch nicht mehr mit Elfen; ich necke dich nicht mehr mit den Gänschen, Irmgard. Ich vergleich' euch, am Fuße dieser Burg der Kämpfe, mit Walküren. Ihr werdet, ihr künftigen deutschen Frauen, auf das Schlachtfeld des Lebens hinabeilen, ausgesandt von Gottvater, um männliche Helden in gütig-starke Arme zu nehmen.

Während Haida wilde Äpfel zurechtschneidet, um sie uns »an der Sonne zu braten«, während Irmgard wilde Blumen pflückt, seh' ich im Geiste Norwegens Klippenstrand. Ich sehe den weißen Schaum an kahlgewaschenen Schären und höre den andonnernden Ozean. And über dem Ozean fliegen wilde Schwäne. Walküren sind weißgewandig und gleiten fliegend wie die wilden Schwäne. Wenn der Schwan am Himmel zieht, ist er ein weißes Wölkchen; schwimmt er im Meer, im Spiegelbild des Himmels, so gleicht er einer weißen Schaumflocke. Wo er auch weile, er bleibt weiß – und um ihn her ist Himmel!

So zieht denn hinab, ihr drei Sonntagskinder! Ich habe viel gelernt von eurem hellen Kindersinn – und kann euch nichts zurücklassen als Worte zartesten Dankes.

* * *

Der Tag klang aus. Der Sonnenuntergang glüht langsam zu Ende, gegrüßt von unserem Schaumwein.

Indem ich mir nun zurechtlege, was sich aus der Fülle unserer heiter oder ernst gestimmten Gespräche auswählen lasse, sehe ich wieder den betagten Dorfschulmeister aus dem Wasgau, im schwarzen Sammetkäppchen und mit behaglicher Pfeife, in seiner Sofaecke lehnen. Wir haben uns im geräumigsten Wohnzimmer versammelt. Unsere offenen Fenster schauen in den beginnenden Lichterschein von Eisenach.

O Sonntags-Sommernacht auf hoher Wartburg! Die Luft ist noch immer voll Lieder; Zuruf und Lachen der Heimkehrenden hallt am Berg entlang; unsere Gläser klingen darein. Wir werden im Gasthof zur Nacht bleiben; wir haben also das Gefühl, daß wir keine Eile haben; daß die Abziehenden uns das Feld räumen und uns die nächtliche Burg überlassen. Die Züge fahren da unten hörbar durch die Ebene – aber nicht für uns. Wir sind Herren unserer Zeit.

Der greise Elsässer erzählt vom Kriegsjahr 1870. Er gesteht, wie er sich damals entschieden als »Franzose« gefühlt, obwohl unser Unter-Elsaß niemals seine deutsche Mundart verleugnet hat. Aber er bekennt zugleich, wie er sich nun wohl fühle in den Anregungen deutscher Kultur. Daß ihn jemals sein Weg aus der Enge des fernen Walddorfes auf die Wartburg führen würde – nie hätte er sich das träumen lassen.

Das gibt Anlaß zu lebhafter Unterhaltung. Wir sprechen von der Geschichte der Wartburg; ich suche alte Zeiten lebendig und jene verschollenen Menschen verständlich zu machen. Unsere Freunde kommen dann auf ihre thüringischen und ostpreußischen Vorfahren zu reden. Besonders unsere Herrin, unsere Frau Hulda, die Enkelin eines tapferen Offiziers, gerät in ihr innigstes Feuer.

Sie erzählt mit ihrem eindringlichen Gebärdenspiel, daß ihr eben in diesen Tagen köstliche Erbstücke zugegangen: alte Orden, Patente, Briefe, Tagebuchblätter aus dem Feldzug 1813.

»Orden vom Großvater, der Johanniter, die Kriegsdenkmünze von 1813, ein offener Brief des Generals York von Wartenburg, worin er seinen Offizieren nach der Völkerschlacht dankt für ihre ›unvergleichliche Tapferkeit‹, ein Brief eines alten Generals, worin er meinem Großvater mitteilt, er hätte dem König wieder von seiner ›herrlichen Bravour‹ reden können. Macht das nicht stolz und glücklich? Da schreibt z. B. ein General, der junge Freiwillige im Nationalhusarenregiment habe sich ›als ein Mann von wahrer Ehre und unvergleichlicher Bravour‹ benommen. Dann ist da eine Urkunde des Kaisers Nikolaus I., der meinem Großvater den Wladimirorden für seine ›ausgezeichnete Bravour‹ an der Katzbach schickt. Und sonst allerlei vergilbte Papiere in einer morschen Ledertasche, die mein Großvater während des ganzen Feldzugs auf dem Herzen getragen hat. Ich habe vor Freuden die alte Tasche geküßt.«

»Am ergreifendsten erscheint mir aber«, fiel der ruhige Gatte ein, »diese ganz knappe Aufzeichnung vom Schlachtfeld, als eben dieser Offizier verwundet lag. Hören Sie nur: ›Seit Stunden verwundet liegen und von Durst gefoltert werden – Höllenpein! Wenn man altes Bandwerk vom Tornister, Halsbinden, Timpe um die zerrissenen Glieder zu flechten sucht – – Es lebe der König! – – Es lebe der König, schreit auch ein Grenadier, dem das Hirn aus der klaffenden Wunde fließt‹ – – Hier bricht das Blättchen ab. Nur ein Blatt – aber da stehen bitterernste Zeiten dahinter!«

Wir stießen an. Tüchtigen Männern! Tapferen Frauen!

Unter solch persönlichen und doch allgemein-deutschen Gesprächen verflog uns der Abend. Von Zeit zu Zeit traten wir an die breiten Fenster und bewunderten die immer stillere, aber immer mächtigere und hoheitvollere Sommernacht. Der Berg lag in strengen Schatten; die letzten Gäste waren verzogen; in seltsamen Streifen dehnte sich drunten der Wiesennebel …

Der Dichter Goethe, liebe Freunde, hat das Erfahrungswort gesprochen: »Man muß nur ein Wesen recht von Grund aus lieben, so kommen einem die übrigen alle liebenswürdig vor.« Und hat hinzugefügt: »Mit den Gefühlen der Hochachtung, der Verehrung ist es etwas ähnliches. Man erkennt nur erst das Schätzenswerte in der Welt, wenn man solche Gesinnungen an einem Gegenstande zu üben Gelegenheit findet.« Wir wollen dankend anstoßen! Denn wir haben solche »Gegenstände«, an denen sich zu üben eine Freude ist!

* * *

Wir waren noch einmal in die Mitternacht hinausgetreten, auf die Bastion, und hatten das Nachtbild voll auf uns wirken lassen. In solcher Mitternacht zog ein eisenklirrender Reitertrupp in die schwarze, silberumrandete Burg ein und führte einen ungepanzerten Gefangenen in ihrer Mitte: Luther. In solcher Mitternacht kam aus der Burg ein winziger Lichtschimmer: aus der Kemenate der betenden Elisabeth. In solcher Mitternacht sprühte aus allen Höfen und Fenstern Getös und Gelächter, Harfensang und Becherschall, und am Tor Fackelschein stadtwärts ziehender Sängergäste. Alles auf dieser einzigen Wartburg! …

Und da empfand ich in fester Ruhe, daß von jener Nacht des Wetterleuchtens, weitab im Ausruheland der Elfen, nichts Weichliches in mir zurückgeblieben sei. Jene Klagen der Wehmut hatten sich verzogen: ein ruhiger Entschluß bestand nun, wie eine Stadt auf dem Berge, die umblaut ist von weiten Horizonten. Die Frage jener Gartenhütte war beantwortet …

* * *

Nun komm herauf, Trostgesell meiner jugendlichen Hoffnungen und Gelübde, hoher Mond! So oft hab' ich in meiner Kindheit dein Licht getrunken und hab' mich erfüllt mit dem Weitblick eines Mondnachthügels, wenn der Abgrund der Unendlichkeit sich auftat, wenn die Menschen schliefen! Geh auch heute nicht vorüber an dieser bedeutsamen Stätte: denn unter diesem Dach schläft meiner Jugend Führer samt meinen verjüngenden Elfen, samt sorgenden Freunden! Heute bist du mir Sinnbild der Erfüllung. Komm empor aus deinen Gewässern, Seerosenantlitz, Liliengestalt!

Flimmernder Schein beginnt zu erzittern. Hinter dem Turm wird der Himmel hell. Die Wartburg scheint Glanz auszuatmen; es kommt aus den Tiefen der Burg ein sehr hohes, saitenfeines, hauchendes Harfen. Immer breiter erstrahlt der Himmelsbezirk; das Blau der Nacht weicht zurück oder verwandelt sich in Weiß; blendend erblüht nun die Fläche – und jetzt: – –

Blank und groß tritt der Vollmond hinter das Turmkreuz der Wartburg.

Tiefergreifende Pracht, die man wunschlos und wortlos anstaunt!

Am Nachbarfenster regt es sich: auch dort ist Andacht wach geworden, gelockt von dem einfallenden Mondlicht. Wir rufen uns halblauten Gruß zu und betrachten schweigend dies große Über-die-Erde-Wandern der erhabenen Leuchte der Nacht. Kein Laut in den Wäldern, schweigend lasten die Schatten der Burg …

Ein spätes »Gut' Nacht«, ein leises Fensterschließen und ein wohlig-müdes Zubettegehen. Und die Nacht gehört dem Weben der Nebel, den Elfentänzen in weiten Gebirgen, dem königlich darüber hinziehenden Vollmond.

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