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Weimar und Sanssouci

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. Mir liegt ein bedeutsamer und gedankenreicher Abend im Sinn, den ich im Park von Sanssouci verbracht habe.

Die Parkwipfel troffen unter der Last der schwülen, vor Feuchtigkeit fast greifbar dicken Luft eines regnerischen Augustabends Es war – nebenbei – der 22. August 1903: zu Berlin im Königl. Schauspielhause kam während dieses Regenganges mein Einakter »Der Fremde« zur ersten Aufführung.. Sanssouci starrte durch den Nebelduft wie ein Gespensterschloß. Tropfen lösten sich in der Tiefe des Blätterwerks; ihr Fallen ging wie Seufzer durch den menschenleeren Parkwald. Keine Fontäne stieg. Ratlos schauten die undeutlichen Hermen und Bildsäulen in diese nordische Nebelmasse. Die entfernten Berge der Havel und die nahen Türme Potsdams waren zugedeckt vom herabgesunkenen Wolkenhimmel. Der Wache haltende Soldat schritt gleichmäßig und ganz langsam hin und her, wie der träge stockende Pendelschlag der Zeit. Letzte Besucher verließen die breite Freitreppe und entwichen wie Schattengestalten aus dem unheimlich stummen Bezirk des großen Königs.

Solche Abende hindern die Sinne an einer eigentlichen Ausfahrt. Indem du nun den spärlichen Stimmen des ahnungsreichen Nebelparkes zu lauschen glaubst, horchest du in dich hinein und spähst in die Tiefen der Zeiten.

Weimar und Sanssouci … Zwei schwerwiegende Worte! Die deutsche Kultur des 18. Jahrhunderts liegt darin beschlossen.

Goethe und Friedrich der Große – beide einsam, und doch in ihrem Einatmen und Ausstrahlen gar vielsam. Beide gesammelt auf ihre Insel und doch eben dadurch Werte schaffend für das Ganze. Deutsche Baumeister alle beide.

* * *

In einer Familie entfaltet sich nach und nach ein gemeinsames Fluidum, ein bestimmter Familiengeist, wozu die stärkste Persönlichkeit das Hauptsächlichste beiträgt.

So war Weimar eine Familie mit ausgeprägtem Charakter. Und so das friderizianische Preußen.

Der König stand hier im Brennpunkt; er strahlte seine Persönlichkeit aus, er gab das Gepräge. Eigene Anlage und strenge Schicksale hatten ihn zur Einkehr und Sammlung gezwungen. Das Willenselement seines Vaters kehrte in ihm verfeinert wieder. Alles, was in seine Welt eindrang, ward von ihm in Energie umgesetzt oder abgestoßen. »Kurz und vive« war sein Sprechen wie sein Handeln. Offensive war sein Element, nicht nur notgedrungen, wie er einmal im Siebenjährigen Kriege an Marquis d'Argens schreibt, sondern aus innerster Natur.

So entwickeln sich in ihm rascher Verstand, klarer Ordnungssinn, Sachlichkeit, Gerechtigkeit, Sparsamkeit, Pflichtbewußtsein: Tugenden eines Herrschers und Feldherrn, Königstugenden.

Unterstützend kam hinzu, daß ihn keine Liebe des Weibes von dieser strengen Linie ablenkte. Ein tändelnd Schmachten, wie es die Rokokozeit liebte, ein Seufzen in beschwerenden Banden tieferer Leidenschaft war ihm unbekannt. Der Geschwindschritt seiner unermüdlichen Arbeitskraft kannte kein Idyll. An seiner Mutter und an seinen Schwestern, zumal an der Markgräfin von Bayreuth, hing er mit zärtlichster Liebe. Im übrigen hatte er sein Flötenkonzert und seine launigen und gehaltvollen Tafelgespräche.

Krankheit freilich hängte sich lebenslang an diesen Mann der Tat. Aber auch sie zwang er nieder. Ja, der körperliche Schmerz ward gerade sein Erzieher: er übte daran seine innere Widerstandskraft – wie an den Niederlagen auf den Feldern des Siebenjährigen Krieges. Thiébault erzählt in seinen Memoiren eine bezeichnende Erinnerung, die uns den ganzen Mann zeigt. Der König ließ eines Abends den genannten Akademiker nebst dem Obersten Guichard (Quintus Icilius) an sein Feldbett rufen. Er lag da unter seinem Mantel, die unvermeidlichen Stiefeln an den Füßen, den Hut auf dem Kopfe und darunter ein weißes Schnupftuch als Kopfbinde. Der Gichtkranke war gefoltert von Schmerzen. Aber in seiner bekannten Vorliebe für philosophische Gespräche ersuchte er die beiden, sich untereinander zu unterhalten, gleichviel worüber; er wolle nur zuhören, weil zu leidend, um selber teilzunehmen. Peinliche Pause! Worüber sich vor einem kranken König unterhalten? Endlich beginnen sie, ungeschickt, zaghaft: – und sofort greift der König ein und fällt in ätzenden Sarkasmen über den hilflosen Guichard her. »Allmählich ging er aber auf andere Gedanken über, die ihn zu einer Prüfung und einem Vergleich der verschiedenen Regierungsformen führten. Und nun wurde seine Rede ebenso ernst, wie ihr Gegenstand wichtig und delikat war. Der Oberst und ich konnten nur dabei sitzen und stumm zuhören. Der König, der so große Schmerzen litt, wenigstens zeitweise, sprach ganz allein bis nach neun Uhr. Aber fast jede Viertelstunde unterbrach er sich, weil er vor Schmerzen nicht weiter konnte; dann rief er seine Bedienten und ließ sich einen Löffel von irgendwelcher Arznei geben; hierauf fragte er uns, wo er stehengeblieben wäre, und fuhr in seinem Gedankengang fort. So bot er uns das Schauspiel eines beinahe todkranken Königs, der so heftige Leiden ausstand, daß sie ihm oft einen schrillen Schrei abpreßten und er sich minutenlang zusammenkrümmen mußte, und der trotzdem mit größter Klarheit den Ideenkreis seines Stoffes durchmaß und mit der vollkommensten Unparteilichkeit die Menschen und die Gesellschaft, unsere Bedürfnisse und unsere Leidenschaften beurteilte« … So körperbeherrschend war die Gesundheit seines Geistes und seines Willens.

»Alles in diesem Staate war Nerv und Kraft«, sagt er einmal von dem römischen Staatswesen in seiner Schrift über die deutsche Literatur. Wörtlich paßt das auf ihn selber. Wohl zeichnet ihn Höflichkeit des Herzens und, wie viele seiner Briefe bekunden, heftiges Empfinden aus: übergeordnet jedoch war der Wille.

In manchen dieser Tugenden und Kräfte erinnert er an Kant, dessen zerbrechliches Gehäuse gleichfalls von der Elektrizität seines befehlenden Geistes zusammengehalten ward, dergestalt, daß die Namen Kant und kategorischer Imperativ einen Begriff bilden.

Man weiß, wie sich Kant gewaltsam an regelmäßige und frühe Morgenstunden gewöhnte; genau nach der Uhr ging sein Tagewerk. Willen und Vernunft waren die herrschenden Kräfte, nicht Gefühl, nicht Stimmung. Dasselbe gilt von Tagewerk und Arbeitsplan des großen Königs. Der deutsche Geist, erschlafft seit dem Dreißigjährigen Kriege, ging zum ersten Male wieder schöpferisch ans Werk; und zwar begann er mit dem Organ, das am meisten darniederlag: mit dem Willen, geleitet von einer vertieften Vernunft.

So stehen Friedrich und Kant an der Spitze einer geistigen Erneuerung: einer Willens-Erneuerung.

Noch immer zwar galt die alte Staatsform des Absolutismus. Aber dem herrischen Worte L'État c'est moi des Roi Soleil war der Stachel genommen. Es hatte sich unter Friedrichs Händen verwandelt in das weise und gerechte Königswort: Ich bin meines Staates erster Diener. Und Diener waren alle anderen, wichtig jeder, wenn er sich nur eingliederte. Das architektonische Gefühl für die Harmonie des Ganzen war gewachsen: hierin war der König eines Sinnes mit Weimar. Der einzelne konnte sich wiederum fühlen und achten; das Individuum galt wieder. Es ging ein Hauch von Freiheit und Gerechtigkeit von solchem »Absolutismus« aus, unter dem jeder nach seiner Fasson an seiner Seligkeit wirken konnte, wenn er nur mit Vernunft und Pflichtbewußtsein sich der Staatsform und dem Wohle des Ganzen einzufügen gewillt war.

* * *

Und nun ermesse der sinnende Betrachter, was denn wohl dabei herausgekommen wäre, wenn dieses energische »Sanssouci« uns eine Poesie hätte bescheren wollen!

Mit anderen Worten: laßt uns den Reichtum und die Vielseitigkeit unseres deutschen Geistes und Gemütes preisen, die ein so ganz anders gestimmtes Weimar nach solchem scharf ausgeprägten Sanssouci ermöglichten!

»Von des großen Friedrichs Throne ging sie schutzlos, ungeehrt« – nämlich die Muse deutscher Dichtkunst. Wir von heute, die wir beide Geisteswelten überschauen, wir klagen nicht, wie hier Schiller geklagt hat, wir freuen uns dieser reichen Entwicklung.

Gerechtigkeit ist des Staatsmanns erste Tugend; aber die Tugend des Dichters ist Liebe. Rascher, klarer, schlagfertiger Verstand, verbunden mit Entschlußkraft, ist des Feldherrn erste Kraft; aber die Kraft des Dichters ist Durchwärmen und Durchsinnen seiner Gestalten und organisches Reifenlassen seiner Gedanken. Es sind zwei völlig verschiedene Fähigkeiten in demselben menschlichen Organismus.

Dort wesentlich Verstand – hier wesentlich Gefühl. Dort Voltaire – hier Rousseau. Dort Rom – hier Hellas. Dort Vernunft und Moral – hier seherische Empfindung und Anschauung. Dort energisches Vorwärtsdrängen – hier Besinnung und Vertiefung.

Friedrich empfiehlt zur Hebung des Geschmacks vor allem Sprachstudien, und zwar der älteren Kulturen, Roms und Griechenlands, aber auch Frankreichs und Englands. Er versteht darunter kein Herdersches Tasten nach dem inneren Poesiewert der Sprache, nein, er meint eine Art Rhetorik: Knappheit, Klarheit, Gedrungenheit. Frankreich in seiner klassischen und nachklassischen Literatur-Epoche schwebt ihm bei alledem vor; Racine und Voltaire sind seine Lieblingsdichter.

Und so war der literarische Gesichtspunkt dieses einsichtsvollen und willensstrengen Königs, der sein Leben als ein einheitlich Kunstwerk lebte, lediglich der »gute Geschmack«. Was aber verstand er unter gutem Geschmack? Innehalten der künstlerischen und sprachlichen Regeln.

»Damit unser Stil knapper werde, ist jede unnütze Einschaltung zu beseitigen; zur Erlangung von Energie sind die alten Schriftsteller, die sich kräftiger und anmutiger ausdrückten, zu übersetzen. Bei den Griechen sind die Thucydides und Xenophon zu nehmen, nicht zu vergessen die Poetik des Aristoteles. Besondere Sorgfalt ist darauf zu verwenden, die Kraft des Demosthenes gut wiederzugeben. Von den Lateinern werden wir das Handbuch des Epiktet, die Betrachtungen des Kaisers Mark Aurel, Cäsars Denkwürdigkeiten, Sallust, Tacitus, die Dichtkunst des Horaz nehmen. Die Franzosen können uns die Gedanken von Larochefoucauld, die Persischen Briefe (Montesquieu), den Geist der Gesetze (Montesquieu) liefern. Alle angeführten Bücher, von denen die meisten sentenzenreich geschrieben sind, werden die Übersetzer nötigen, müßige Ausdrücke und überflüssige Worte zu meiden; unsere Schriftsteller werden ihren ganzen Scharfsinn aufwenden, um ihre Gedanken knapp zu fassen, damit ihre Übersetzung dieselbe Kraft besitze, die man an den Originalen bewundert. Jedoch müssen sie, wenn sie ihren Stil gedrungener machen, wohl zusehen, daß sie nicht dunkel werden; und um Klarheit zu bewahren, die erste Pflicht jedes Schriftstellers, dürfen sie nie von den grammatischen Regeln abweichen« … So ermahnt Friedrich der Große die deutsche Muse! Es ist ein künstlerisches Behagen, zu beobachten, wie streng einheitlich das alles zu der Lebens- und Staatsauffassung des Königs stimmt.

Aber Natur und Frauen – sie sind die Erzieher des Dichters. Wie sollte der Mann, dem kein Rousseausches Natur-Evangelium aufgegangen war, der Mann, der keiner Frauenliebe Einfluß gestattete, jemals in sich erleben, was Poesie ist?

Und wie sollte dieser strenge, klare König zu Shakespeare ein Verhältnis finden, zum besten Frauengestalter, zum naturstärksten Poeten der Neuzeit? So vernehmen wir denn, ganz folgerichtig, über Shakespeare in Friedrichs Schrift folgende Worte:

»Um sich zu überzeugen, wie wenig Geschmack in Deutschland herrscht, brauchen Sie nur ins Schauspiel zu gehen. Dort werden Sie sehen, wie die abscheulichen Stücke von Shakespeare, in unsere Sprache übersetzt, aufgeführt werden und wie das ganze Publikum beim Anhören dieser lächerlichen, der Wilden von Kanada würdigen Farcen vor Freude außer sich ist. Ich nenne diese Stücke so, weil sie gegen alle Regeln des Dramas sündigen. Diese Regeln sind nicht willkürlich, sie finden sich in der Poetik des Aristoteles … Da treten Lastträger und Totengräber auf und halten ihrer würdige Reden; darauf kommen Prinzen und Königinnen. Wie kann dies wunderliche Gemisch von Niedrigkeit und Größe, von Possenhaftigkeit und Tragik rühren und gefallen?«

Das ist der deutlich ausgesprochene romanische Formalismus. Genau so urteilte Voltaire; und der französische Geschmack muß eigentlich immer so urteilen. Aber nur der französische Geschmack? Auch der römische Geschmack, sogar der griechische: denn selbst das altgriechische Kulturdrama mit seiner sorgfältigen Sprachbehandlung ist ein so wohlgefügtes Bauwerk, hat so viel »Kultur«, gegenüber der »Natur« in Shakespeare, daß dies alles den Idealen des Königs, auch wenn wir sie vertieft fassen, bedeutend näher steht als gerade Shakespeares formensprengende Gemüts- und Phantasiekraft.

Und hier will ich eine weiter schauende Betrachtung einschieben. Man fasse die Literaturepochen Europas mit einem weiten Blick, und man wird erkennen, daß man zwischen kunstbewußter Kulturdichtung und mehr gefühlsmäßiger Naturdichtung unterscheiden muß. Man wird unsere beliebte Wendung »romanischer Formalismus« etwas einschränken müssen: zwar die Romanen als solche neigen zu bewußtem Formalismus, aber auch die Romanen als ältere Kulturvölker. Wenn eine kräftige Zeitepoche oder eine einzelne Persönlichkeit schaffend einsetzen, so lieben sie beide allemal erst hitzigen Überschwang, womit Sprengung überkommener Formen verbunden zu sein pflegt. Bald aber lernen sie haushalten, bald suchen sie selber, in Sprache und Gedanken, nach geschlossenen, das Erworbene zusammenhaltenden Formen. So sehen wir, nach dem Götz und den Räubern, in Weimar eine Iphigenie und einen Wallenstein. So haben wir nach Shakespeare einen Milton; nach Alexander Pope dann umgekehrt wieder Burns und Ossian; nach Goethes strengeren Formen den Überfluß der Romantik. Und so könnte man fortfahren, Gegensätzlichkeiten und Ergänzungen nachzuweisen, die tief und wohltätig in der Menschheit begründet sind. Aber wir Deutschen – das ist richtig – werden immer die aus der Natur des Herzens entsprossene Dichtung höher stellen als die Kulturdichtung des Kopfes. Denn das seherische Herz, sagen wir mit Jean Paul und denken wir mit Goethe, »denkt den größten Gedanken«. Und warum soll sich nicht reife und feine Form damit verbinden lassen?

Das seherische Herz … das Herz, das sich an der ewig wunderbaren und geheimnisvollen Schöpfung und an der ebenso wunderbaren und geheimnisvollen Frauenseele entfacht und entfaltet hat: das war Sanssoucis Grenze. In dies Revier ist Friedrich nicht vorgedrungen. Er konnte gar nicht dahin vordringen; denn gerade durch den Verzicht auf diese Eigenschaften ward er ja so fest, so streng und geschlossen. Und nur durch solche strenge Geschlossenheit hinwiederum konnte Sanssouci für deutsche Kultur das leisten, was es geleistet hat. Wieder einmal waren eines Mannes stark entwickelte Kräfte zugleich seine Beschränktheiten. Es mußte sich neben und nach ihm ein Weimar entfalten, um das Gleichgewicht herzustellen; es mußte nach und neben den Staatsarbeiten des Kopfes nunmehr das Herz Deutschlands seine Sprache offenbaren.

* * *

»Gott im Himmel, was ist Weimar für ein Paradies!«

So jubelt Goethe, als es nach viermonatlicher Abwesenheit an süddeutschen Höfen wieder nach Weimar geht. Es sind die Schlußworte eines der unzähligen Zettelchen und Liebesbriefe an Frau von Stein.

Am 14. Januar 1780 – des Jahres, in dem Friedrichs Schrift über die deutsche Literatur erschien – führt er die geliebte Frau dann zum erstenmal nach jener Reise wieder auf die Redoute. Und nun laufen die nachbarlichen Zettel und Grüße tagtäglich hinüber und herüber.

»Nach meinem schönen Spaziergang heut' früh« – so lautet der Gruß vom Tage des Frühlingsanfangs – »möcht' ich auch einen guten Mittag bei Ihnen haben. Wenn Sie zu Hause essen, so komm' ich und bringe Ihnen Schneeglöckchen.«

Wir sind sofort in einer anderen Welt. Des Dichters Gartenhaus steht in einem ganz anders wachsenden Park. Dort, in Sanssouci, dehnt sich Gesetz und Regel auch auf den Terrassenpark aus, über dem sich das klare und strenge Schloß erhebt. Hier empfängt uns, statt der stattlichen Fontäne, ein munteres Thüringer Bergwasser. Ein neckisches Gewirr von Zweigen und Blüten spiegelt sich darin; abends erschreckt ein badender Dichter vorübergehende Wanderer; unbefangene Freiheit herrscht im Wachstum der Pflanzen wie in den Verkehrsformen. Und wie oft spät in die Nacht ist das unphilosophische Gartenhaus munter! Der Dichter hat die »Gras- und Wasseraffen« bei sich, Frau von Steins Kinder; sie backen Eierkuchen, warten ein Maigewitter ab und bleiben über Nacht. Oder der Herzog und noch ein paar »Vertrautinnen«, zu denen sich Seckendorf gesellt, (die Damen Neuhaus und Schröter) sitzen im Garten, »lärmen viel und machen viel Unordnung«. In mancher Sommernacht liegt Goethe unter blauem Mantel auf dem Altan, »unter einem herrlichen Gewitter, das den ganzen Süd überleuchtet«. Und die Frösche der nahen Ilm »schrillen ihm den Kopf wüste«.

Natur und Liebe! Das sind die zwei reizenden Führerinnen in der Poesiewelt von Weimar. Man neigt hier zu Scherz und Maskerade; man durchleuchtet hier rokoko-heiter mit Reim und Blumengebinde, mit Festspielchen, »Miseleien« und Ausflügen die nicht sehr angestrengten Tage. Und sogar tiefere Leidenschaft nimmt nicht eigentlich tragischen Verlauf: sie wird besänftigt und verklärt durch Anmut und Würde. Ein Fall wie der Selbstmord der Christel von Laßberg gehört noch in die Werther-Siegwart-Epoche. Die Wucht und Schwere eigentlicher Tragik – wozu etwa Kleists und Hebbels grüblerische Naturanlagen neigen – war hier gleichfalls eine Unmöglichkeit. Denn alles strebt nach Bejahung. Selbst Fausts Gretchentragödie wird als Bruchstück empfunden: es läßt diesem verklärungskräftigen Dichter keine Ruhe, bis auch dieser tiefste Mensch eingegangen ist zur Harmonie, die der Gottesschöpfung tiefster Sinn und Wille ist.

Gerade dieses Jahrzehnt (1780-1790) umfaßt nun Goethes bedeutsamste Entwicklungsepoche. Am Eingang dieser zehn Jahre leuchten noch die sonnig-leichtsinnigen Tage von Jung-Weimar, bereits gemildert durch die führende Frau; an ihrem Ausgang steht Goethes Vereinsamung, aus der dann in langsamer und weitsichtiger Arbeit das dauernde, gereifte, geistige Weimar im Bunde mit Schiller erstehen sollte.

Während Friedrich noch den »Götz« – das einzige, was er von Goethe wußte – als eine »abscheuliche Nachahmung der schlechten englischen Stücke« verwarf, hatte sich hier bereits die Iphigenie geformt, der Tasso war im Werden, zahlreiche Lyrik und kleine Spiele strömten einen Hauch Goetheschen Wesens aus – und der wachsende Dichter schwelgte in Thüringens Natur, in den kleinen Geschäften, Reisen, Abwechslungen seines Amtes und besonders in der alles verklärenden Liebe zu seiner thüringischen Edelfrau.

»Meine Seele ist wie ein ewiges Feuerwerk ohne Rast … Ich habe hundert Pläne, die ganz sachte in mir lebendig werden … Wir sind im Lande herumgeritten, haben böse Wege gesehen, in die viel verwendet worden ist und die doch nicht gebessert noch zu bessern sind, haben gute, in der Stille lebende Menschen gefunden und an Leib und Seele Bewegung gehabt …«

»An meinem Schreibtisch. Es regnet, und der Wind spielt gar schön in meinen Eschen. Ich suche Sie und finde Sie nicht; ich folge Ihnen nach und erhasche Sie nicht. Es ist nun die Zeit, da ich Sie täglich zu sehen gewohnt bin, ausruhe und mich mit Ihnen in ganz freien Gesprächen von dem Zwang des Tages erhole …«

»Eine Liebe und Vertrauen ohne Grenzen ist mir zur Gewohnheit geworden. Seit Sie weg sind, hab' ich kein Wort gesagt, was mir aus dem Innersten gegangen wäre … Aber freilich tausend und tausend Gedanken steigen in mir auf und ab … Mein Leben ist sehr einfach, und doch bin ich vom Morgen bis in die Nacht beschäftigt; ich sehe fast niemand als die, mit denen ich zu tun habe …«

»Wir wollen uns lieb und wert behalten, meine Beste; denn des Lumpigen ist zu viel auf der Welt …«

»Der erste Akt der ›Vögel‹ ist nahezu fertig; dazu hat Ihre Abwesenheit geholfen. Denn solang Sie da sind, lass' ich mir's in unbeschäftigten Stunden so wohl sein und erzähle Ihnen, was alles in dem Augenblick mir die bewegte Seele eingibt, dem mach' ich Luft, wenn sich's tun läßt. Und wenn Sie nicht da sind, hab' ich niemand, dem ich so viel sagen kann; da muß es einen anderen Ausweg suchen.«

So tönt es aus Sommerbriefen jenes Jahres 1780. Wie Sonnenschein auf die Frühlingserde, so wirkt in Weimar Frauenliebe lösend und lockernd auf das Dichterherz. Worte sprudeln wie Wasserbäche, Werke wachsen wie wilde Blumen, alles ist von einer aufwärts drängenden Freudigkeit.

Und der Herbst des Jahres setzt diese köstlichen Bilder und Stimmungen fort.

»Auf dem Kickelhahn, dem höchsten Berg des Reviers, den man in einer klingenderen Sprache Alektrüogallonax nennen könnte, hab' ich mich gebettet, um dem Wüste des Städtchens, den Klagen, dem Verlangen, der unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen. Wenn nur meine Gedanken zusamt von heute ausgeschrieben wären! Es sind gute Sachen drunter.«

»Meine Beste, ich bin in die Hermannsteiner Höhle gestiegen, an den Platz, wo Sie mit mir waren, und habe das S, das so frisch noch wie von gestern angezeichnet steht, geküßt und wieder geküßt, daß der Porphyr seinen ganzen Erdgeruch ausatmete, um mir auf seine Art wenigstens zu antworten. Ich bat den hundertköpfigen Gott, der mich so viel vorgerückt und verändert und mir doch Ihre Liebe und diese Felsen erhalten hat, noch weiter fortzufahren und mich werter zu machen seiner Liebe und der Ihrigen.«

»Es ist ein ganz reiner Himmel, und ich gehe, des Sonnenuntergangs mich zu freuen. Die Aussicht ist groß, aber einfach.«

»Die Sonne ist unter. Es ist eben die Gegend, von der ich Ihnen die aufsteigenden Nebel zeichnete; jetzt ist sie so rein und ruhig und so uninteressant als eine große, schöne Seele, wenn sie sich am wohlsten befindet …«

»Nach zehnstündigem Schlaf bin ich fröhlich erwacht. Oh, daß doch mein Beruf wäre, immer in Bewegung und freier Luft zu sein!«

Immer neu, ewig beweglich und seltsam ist das wogende Werden dieses innerlich Unbegrenzten.

»Welcher Unsterblichen
Soll der höchste Preis sein?
Mit keinem streit' ich,
Aber ich geb' ihn
Der ewig beweglichen,
Immer neuen
Seltsamsten Tochter Jovis,
Seinem Schoßkinde,
Der Phantasie

So klingt's aus diesen thüringischen Reisetagen. Der Oktober zwar wird wieder einmal durch ein Mißverständnis getrübt; an einem schlimmen Tage schreibt der Dichter: »Wäre der Herzog nicht den Berg mit hinaufgegangen, ich hätte mich recht satt geweint.« Aber am 7. November heißt es wieder:

»Heut' sind's fünf Jahre, daß ich nach Weimar kommen bin. Es tut mir recht leid, daß ich mein Lustrum nicht mit Ihnen feiern kann. Gestern hatten wir recht schön und wunderbar Wetter, kamen sehr vergnügt hierher. Ihrer Liebe wieder ganz gewiß, ist mir's ganz anders; es muß mit uns wie mit dem Rheinwein alle Jahre besser werden. Ich rekapituliere in der Stille mein Leben seit diesen fünf Zähren und finde wunderbare Geschichten. Der Mensch ist doch wie ein Nachtgänger; er steigt die gefährlichsten Kanten im Schlafe. Behalten Sie mich lieb!«

Und zwei Tage drauf, wie eine Summa unter eine Rechnung:

»Ich wollte anfragen, ob Sie diesen Nachmittag zu Hause sind. Ich käme von Hof herüber und brächte die erste Szene des Tasso mit«

So entsteht Dichtung! Aus dem überfließenden Reichtum seelischen Erlebens! Besonnt von Liebe, hervorgelockt von zärtlicher Innigkeit, durchweht von der freien Luft der Wälder und Hügel.

Zu Weihnachten schenkt ihm Frau Charlotte, als Ansporn zur Vollendung des »Tasso«, Schreibzeug mit Feder.

»Ich danke recht sehr« – antwortet der Dichter – »und weihe hiermit Ihre Feder ein … Mein Tasso liegt auf dem Pult und sieht mich so freundlich an; aber wie will ich zureichen?«

Mit diesen Worten, aus denen Tatendrang durch die Klage klingt, schließt der Silvestertag 1780.

Nur eine einzige Linie, freilich die Hauptlinie in Goethes innerer Welt, haben wir uns auf raschem Gang ins Gedächtnis zurückgerufen. Aber es genügt, um uns innewerden zu lassen: hier wandelt Frau Poesie sichtbar auf Erden – Frau Poesie, nach der in demselben Jahre der größte König der Zeit schmerzlich und vergeblich Ausschau hielt.

* * *

Es ist ein künstlerischer Genuß, die scharf ausgeprägte Hohenzollern-Linie zu verfolgen, vom Großen Kurfürsten über Friedrich den Großen bis zu unserem regierenden Kaiser. Es ist Deutschlands politische Linie. Es ist sozusagen des Reichskörpers Willens-Rückgrat. Alle menschlichen Tätigkeiten, die in besonderem Maße Energie und Ordnungssinn verlangen, kommen hier meisterhaft zum Ausdruck. Ganz besonders die Straffheit des Militärs und die Korrektheit des Beamtentums sind Tugenden von Sanssouci.

Aber Weimar? Weimar liegt nicht in dieser Richtung, kann nicht in dieser Richtung liegen. Es wird in alle Kunstpflege, die von Sanssouci ausgeht, gar leicht ein Element der Bewußtheit, ein Element von Politik und Energie hineingetragen. Weimar aber muß sich, wie eine zarte Pflanze, die aus Geheimnissen der Schöpfung empordringt, möglichst in einer freien Stille entfalten. So lange das politische Deutschland – ich könnte ebensogut sagen: das wirtschaftliche – an harter Arbeit ist, kann das dichterische Deutschland nicht zu Worte kommen. » Inter arma silent musae« – das gilt nicht nur von Schlachtfeldern.

Ein neuerer Schriftsteller hat diese Gegensätze landschaftlich zu veranschaulichen gesucht. In seinen »Gedanken über Goethe« stellt Victor Hehn einen Wesens-Gegensatz zwischen dem deutschen »Südwesten« und dem deutschen »Nordosten« fest. Goethe läßt er aus der südwest-deutschen fränkischen Ecke erwachsen und Deutschland das Eiland Weimar spenden. Dem anders gearteten Sanssouci (um in unserer Sprache zu bleiben) gibt er hingegen ein märkisches Gepräge und will es auf politische Tüchtigkeit beschränkt sehen. Bismarck, meint er, sei eine Fortsetzung Friedrichs des Großen. Und so erwartet er von der südwestdeutschen Ecke her eine Fortsetzung Goethes.

Ist dies etwa bloß geistreiche Spielerei? Nein, dieser Schriftsteller hat mit dieser klaren Formulierung, wenn man in großen Umrissen bleibt (denn wie sehr sind wir Deutschen durcheinandergeschüttelt worden!), nicht ganz unrecht. Sind nicht in den Deutschen der Hügelgelände, in den Seelen der Mainfranken, Thüringer, Hessen, Rheinländer, Schwaben usw., in der Tat wichtige Bestandteile, die den Bewohnern der Sand-Ebene abgehen? Laufen nicht bei uns die Wasser und Worte, die Gedanken und Empfindungen rascher und heller? Sind nicht die Menschen unbefangener, traulicher und weit weniger »formell« oder »korrekt«? Ist nicht die Landschaft, die unsere Augen und Herzen tagtäglich erfreut und bildet, reicher und gefälliger? Sind nicht Hügelungen überhaupt gleichsam ein Gebet der Erde, gleichsam empordrängende Schollen, die das Licht suchen? Und wo spiegelt sich das alles wider im jetzigen deutschen Dichten? – Nicht nur dem deutschen: dem europäischen Geiste, der Menschheit wär' es Wohltat und Erlösung, wenn nach so viel einseitiger Verstandes-Entfaltung auch wieder »Weimar« zu vertiefender Wirkung käme.

Friedrich starb in demselben Monat desselben Jahres (1786), in dem Goethe zu Karlsbad die Vorbereitungen zur heimlichen Flucht nach Italien betrieb. Durch diese Flucht wandte sich Goethe endgültig vom politisch-nationalen Deutschland ab und suchte das zu erneuernde künstlerische Deutschland, zu dem er in herber Sonderstellung den großen Grundstein gelegt hat.

Nicht ohne Bewegung liest man Friedrichs bekannte Weissagung am Schlusse seiner Mahn- und Klageschrift:

»Wir werden unsere klassischen Schriftsteller haben; jeder wird sie zu seinem Nutzen lesen wollen; unsere Nachbarn werden Deutsch lernen, die Höfe werden es mit Vergnügen sprechen; und es kann geschehen, daß unsre verfeinerte und ausgebildete Sprache, um unsrer guten Schriftsteller willen, von einem Ende Europas bis zum andren dringt. Diese schönen Tage unsrer Literatur sind noch nicht gekommen, aber sie nahen. Ich kündige sie Ihnen an, sie sind im Anzuge; ich werde sie nicht schauen, das zu hoffen verbietet mir mein Alter. Mir geht es wie Mose: ich sehe das gelobte Land von ferne, aber ich werde es nicht betreten.«

Er hatte seine Kulturarbeit getan, der nimmermüde König. Er konnte nun die Melodien des Thüringer Waldes wirken lassen.

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