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An einem Sommerabend, der durchflutet war von einer schräg hereindringenden Fülle von Sonnenlicht, stieg ich langsam einen Thüringer Waldberg empor. Unter mir, noch ganz nahe, lagen die schieferblauen Dächer von Kammerberg-Manebach. Hohe, schwarze Wälder stehen um das Dorf; die Felder über Manebach sind durchsetzt mit vielen Buckeln, Flecken und Wegen; im Wiesentale rauscht die rasche, helle Ilm.
Es war heiß im Tale, kühler im Walde. Ich nahm die weiße Sommermütze ab, atmete tief auf und ging noch langsamer als zuvor.
Anmutige Lichtflecken durchschimmerten den Tannenforst. Das tiefe Wanderlied der Ilm hob die Stille hier oben nur noch mehr hervor.
An mancher Lichtung schaut man in Täler. Eine blasse Röte quoll mehr und mehr aus geöffneten Toren des Westhimmels. Reiter sprengten heraus, Helme blitzten, Walküren kamen herab. Ein mildes, weites Licht breitete sich über alles Land, hängte sich wie Schaum an alle Bäume und Hügelränder, beseelte die ganze Welt. Lichtempfindliche Menschenherzen, lebensvolle Pflanzen und alles wilde Getier taten dieser herabgestiegenen Helle den Sinn auf, ließen sie ein, schauten dankbar den immer kühleren und immer farbigeren Himmel an. Und wenn ein Vöglein im Tannenwald wie verzagt etwas zwitscherte, so waren es gemilderte Laute innigen Dankes für einen bunt durchflogenen Tag, so war es ein unwillkürlich melodisch gewordenes Hinüberträumen in den unbewußten Zustand der Nacht.
Wer mit einem leichtschwingenden Herzen leidvoll begnadet ist, mit einem Nervengeflecht, das durch Leidenschaft und Kämpfe verfeinert worden, dem sehen sich solche sanft glimmende Leuchtabende mit all den Erlebnissen eines tönend und glühend vorübergegangenen Tages in Musik und Dichtung um, in sehr feine und verinnerlichte Dichtung von eigentümlich wehmutschönem Wohllaut. Es ist ein melodisches Zusammenklingen von Dank, Zuversicht und Heimweh. Du bist voll von einem reichen Siegesgefühl, aber du fühlst auch die Wunden des mühsam durchkämpften Tages. Werktägliches Glück ist dir in Stücke gegangen, aber ein feiner geartetes und nicht erwartetes Glück tritt nun auf Strahlen des Geistes zaudernd in deine Welt ein.
Drüben erhebt sich der umwaldete Schwalbenstein, auf dessen Gipfel einst Goethe an seiner »Iphigenie« geschrieben. Vor mir liegt der Kickelhahn, zu dem ich von Kammerberg aus langsam emporsteige. Wir sind hier in Goethes Revier, der aus Ilmenau oder aus »Manebach beim Kantor« manchen Brief an Frau von Stein gesandt hat. »Zwischen Gebirg und Fichtenwald« hat er hier »in des Kantors Gärtchen« gesessen und für die geliebte Frau gezeichnet (1777). Und immer wieder, bis zu seinem letzten Geburtstag, verwob sich gerade diese Gegend mit Goethes Leben, Lieben und Schaffen.
Um eine »Iphigenie« zu vollenden, diesen edlen Gesang von der Läuterung eines heißen Jünglingsherzens durch stärkere Frauengüte, muß man in den Sommer stillen Reifens eingetreten sein. Auf dem Gipfel des Aufstiegs erwartet dich zuletzt ein einfach Bretterhäuschen, kein Prunkschloß, ein einfach, aber weitschauend Bretterhäuschen, woran die schlichten, schönen Worte des Abendliedes geschrieben stehen:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh',
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch.
Die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Die Fichten am Wege stehen ungebeugt und aufrecht, mit gepanzerten Stämmen. Lichte Buchen, oft nur strauchhaft klein, mit leicht erzitternden Blättern, sind hier und da in diesen dunkel-ernsten Wald geraten, als hätten sich scheu lachende Mädchen zwischen heerhaft aufgestellte, bewegungslos finstere Reihen von Kriegsmännern verlaufen. Manchmal ist ein Ausblick möglich auf Rodungen und Waldplätze. Und plötzlich, umwacht von betagten Fichtenstämmen, rauhbehaart wie die Recken aus Hildebrands und Hadubrands Zeiten, wuchtet unmittelbar neben dir die Porphyrmasse des Hermannsteins.
Man geht einen kleinen Weg hinüber und entdeckt eine nicht sehr große Höhle, breiten Rachens und engen Schlundes, wie geschaffen, einem breitköpfigen Drachen gefahrvoller Urzeit zur eben ausreichenden Behausung, zur rückendeckenden Beschalung zu dienen. Alles rund herum ist bemoost und bewachsen mit krummen Stecken, Wurzeln und Rasenfleckchen. Aber am Eingang der Höhle, rechts und links, überraschen zwei friedliche, beruhigende Erztafeln mit Goldbuchstaben. Der alles mildernde Goethe, dieser Sohn einer geistigeren Sphäre der Erdentwicklung, hat dort Strophen auf Frau von Stein anschmieden lassen, auf Frau von Stein, die so entscheidend in sein Wachstum eingegriffen hat, so daß erst durch ihre Einwirkung der Dichter jener Mann bewußten Stilleseins geworden ist, als den wir ihn verehren.
So steht zwischen Schwalbenstein und Kickelhahn sinnig der Hermannstein mit folgenden scheu verhüllenden Dankworten:
»Was ich leugnend gestehe und offenbarend verberge,
Ist mir das einzige Wohl, bleibt mir ein reichlicher Schatz.
Felsen vertrau' ich es an, damit es der Einsame rate,
Was in der Einsamkeit mich, was in der Welt mich beglückt.«
Der Herzensbund zwischen dem großen Dichter und einer um etliche Jahre älteren, öfters kränkelnden Gattin, Mutter und Hofdame, die ihn auf entscheidender Lebensstufe lehrte, was »sich ziemt«, blieb nicht ohne schroffe Trübung. Aber sie fanden sich zuletzt wieder, auch nach dem schwersten Bruch, zu gemilderter Freundschaft. Noch kurz vor ihrem Tode bat sie, die Leichenträger möchten einen Umweg nehmen und nicht an Goethes Haus vorüberziehen; sie wollte ihm diese Gemütserschütterung ersparen. Seltsam und wie magisch, wie in mystische Tiefen hinabreichend, war dies fördernde Verhältnis zwischen den beiden, die an eine Art Seelenwanderung behufs immer höherer Vergeistigung glaubten, so daß Goethe seiner Freundin den Vers schrieb:
»Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag, wie band es uns so rein genau?
Ja, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau.«
Der Wald wird wirrer und enger. Zwei barfüßige kleine Mädchen mit Tragkörben haben mich überholt; sie bringen ihrem Vater, einem Waldarbeiter, die Mahlzeit. Nicht weit vom Wege sehe ich sie wieder; sie haben die Körbe abgestellt, nehmen mit Vorsicht Geschirre heraus, und der stirnwischende Vater nebst einem anderen Manne lassen sich zum Essen ins Waldmoos nieder.
Der Weg ist mit frisch geschälter, unter den Tritten knisternder Tannenrinde dicht belegt; eine Anzahl sauber zurechtgeschnittener Stangen liegt in der Nähe. Es duftet nach Harz.
Noch einige Plankenstufen, noch einige Schritte rechts und wieder links hinauf – und da steh' ich vor dem Goethehäuschen. Das frühere Hüttchen, an das der Dichter jenes Lied geschrieben – am Abend des 2. September 1783 – ist 1870 abgebrannt; ein neues, in derselben Art, steht an derselben Stelle. Die Hälfte des Reizes ist also verflogen. Aber der Wald hält uns schadlos.
Und dieser Wald ist anders, als man ihn erwartet. Wohl breitet sich auch heute die durchsichtig dünne, rötlich blasse Luft eines Sommerabends über das beruhigte Land. Über allen Wipfeln ist Ruh' – auch heute. Aber die Fichten auf dem Kamm dieses Berges reden von erlebter Unruhe eine beredte Sprache. Sie sind ungewöhnlich wetterzerzaust, sie sind behangen mit borstigen Flechten, sind schiefgeblasen und oben dünnästig, manchen ist die Spitze weggerissen oder verknorpelt, und ich entdecke sogar, unmittelbar vor dem Bänkchen, von dem aus man ins Waldtal schaut, Spuren eines Windbruchs. Gerade dieser Gipfel ist offenbar sehr den Stürmen ausgesetzt. Über den ganzen Kamm hin, wie ich beim Weitergehen merke, streben die Stengel des flechtenüberwachsenen Baumwerks nach Osten, wie wegflüchtend aus dem Bereich des Westwinds; und doch stehen diese grauen Tannen knorrig, trotzig und hart, erprobte Männer. So in der Tat, ja, so und nicht anders muß für uns zurückschauende Söhne der Gegenwart ein Berggipfel aussehen, auf dem das berühmteste deutsche Abendlied vom größten deutschen Dichter erlebt worden. Es ist kein behagliches Wachsen auf diesem Berge; der Weg deutscher Kultur und das Wachsen des einzelnen tieferen deutschen Menschen ist mühsam. Aber wir steigen auch höher als die andren, wir sind noch lange nicht zu Ende, wir haben der Welt noch viel zu sagen.
Ein Steinturm steht etwas weiter im Wald. Von seiner Spitze läßt sich ein schön Stück Thüringer Land überschauen, wasserblau an den zarten Bergrändern des Horizontes, gründuftig in den nahen Tälern, vielfarben, braun, rötlich und weiß dort, wo sich Städte, Dörfer und Felder wie Flickwerk zwischen das Waldland legen.
Hier ist Deutschlands schönes Herz! Die geistige Geschichte Thüringens ist die Geschichte deutscher Kultur. Was für Taten des Gemütes geschahen auf diesem Thüringer Boden, von Walther und Wolfram und Ofterdingen bis zur heiligen Elisabeth, zu Luther und den Dichtern Weimars! Im fernen Norden entdeckt man noch die Wachsenburg, westlicher den hohen Inselsberg, den Schneekopf, den Adlersberg, den Fuchsturm bei Jena, die Leuchtenburg – wie abwechslungsreich Tannenwald und Laubwald und bebautes Feld dieses lieben Thüringer Geländes! Und in all das empordrängende Leben eines jungmännlichen Junimondes hinein, gleichsam herunterrieselnd aus allen Wipfeln, nisten sich die milden Luftfarben des lautlos zerfließenden Tages ein und verklären dein abendlich Träumen.
Ich gehe immerzu rund auf der Turmfläche herum. Nach Erledigung der äußeren Orte und Namen, mit Hilfe der Weisungstafel, fängt das tiefere Empfinden zu suchen an. Wo hinaus liegst du, meine Heimat? Dort im Südwesten? Rund herum in Deutschland? Überall, wo treue, tiefe, warme Herzen sind, mit denen ich gleiche Geistessprache rede? Immer an schönen Abenden und auf einsamen Waldeshöhen nimmt uns dies unbestimmte Heimweh auf breit und ruhig ausgestreckte Flügel. Bleib mir treu, gewaltig Heimweh! Meine beste Kraft du, mein tiefstes Glück, bleib mir treu!
Bleib mir treu, gewaltig Heimweh!
Lilie, meiner Brust entblühend,
Strahlendünn durch alle Drangsal
Dringend in das ew'ge Licht!
Wenn ich tot bin, will ich wandern!
Wie ein zartes Sonnenstäubchen
Seinen Lichtstrahl aufwärts wandert,
Will ich heim ins ewige Licht!
Solang' ich aber im Körper bin, möcht' ich durch das Schaffen und Sorgen der Menschen wandeln wie eine Stimme des Waldes. Nur als Geist möcht' ich unsichtbar, aber wirksam durch dies neue Jahrhundert gehen, unbehelligt in meinem äußern Tun, am Gepräge des Jahrhunderts entscheidend mitschaffen, innig befreundet wenigen, geliebt von vielen, freundlich zu allen. Nur Schall eines Waldhorns möcht' ich sein, gleichwie vom verzauberten Barden Merlin nichts übrigblieb als die Stimme, die seltsam schön und mahnend durch Wälder und Herzen ging …
Doch hinunter zu Menschen! Auf grüner Hochfläche steht ein weimarisch Jagdhaus und nahe dabei das Waldwirtshaus »Gabelbach«, bekannt durch seine dichtende Tafelrunde. Hier sind wir in der muntren Welt der Sommerfahrer; Wandrer sitzen an Tischen, schlürfen ihr Getränk und bedichten ihre Karten. Alles ist in anmutiges Grün gehüllt; wehende Grasflächen umschimmern das Haus. Und in den Fenstern da unten, im äußersten Ilmenau, sitzen Abendlichter, und ein Teich schimmert herauf … Ilmenau!
»Anmutig Tal! du immergrüner Hain!
Mein Herz begrüßt euch wieder auf das beste!
Entfaltet mir die schwer behangnen Äste,
Nehmt freundlich mich in eure Schatten ein.«
Goethes berühmtes Gedicht, das eine Lebenswende kennzeichnet, klingt an. Und unter den vielen Bildern der Gaststube finde ich ein anziehendes ernstes Bildnis der Frau von Stein …
Wir sind hier in der Nähe von Stützerbach, das man durch das Rabental leicht erreicht. Goethe und Karl August haben in dieser Gegend ungeklärte wilde Tage verlebt. Aber ebenfalls hier wurde in jenem Bretterhüttchen, wie in einer besinnlichen Klosterzelle, das berühmte Abendlied gedichtet, und gleich tags darauf das große Bekenntnis »Ilmenau«.
… Wie dank' ich, Musen, euch!
Daß ihr mich heut' auf einen Pfad gestellet,
Wo auf ein einzig Wort die ganze Gegend gleich
Zum schönsten Tage sich erhellet!
Die Wolke flieht, der Nebel fällt,
Die Schatten sind hinweg. Ihr Götter, Preis und Wonne!
Es leuchtet mir die wahre Sonne,
Es lebt mir eine schönre Welt.
Das ängstliche Gesicht ist in die Luft zerronnen,
Ein neues Leben ist's, es ist schon lang begonnen …«
* * *
Am Tage nach diesen Stunden auf dem Kickelhahn brachte mich ein ähnlicher Abendgang nach dem Schwalbenstein. Steil den Fichtenberg hinan, oft ausgleitend auf dem glatten Nadelboden; dann auf ebenem Grasweg zu verwitterten Tränktrögen; und wieder steil hinan zu »Berthas Quell«, der mich erfrischte, und vollends zum nahen Felsen. Hier hat einst, in dem damals hier stehenden Häuschen – jetzt ist noch eine Schutzhütte vorhanden – Meister Goethe » sereno die, quieta mente«, bei heiterem Wetter und ruhigem Herzschlag, an einem einzigen Tage (19. März 1779) den lang hinausgeschobenen vierten Akt der »Iphigenie« gefunden.
Iphigenie, wie sie in Feuerbachs edler Gestaltung weißgewandig am Ufer träumt, das Land der Griechen mit der Seele suchend, ist eine symbolische Gestalt. Niemand wird sie vergessen, der jemals so »am Ufer« stand und nach seiner »Heimat« Ausschau hielt. Die ganze Erde ist ein skythischer Strand; etwas von Feuerbachs Gestalten – »Poesie«, »Medea«, »Iphigenie« – ist in uns allen.
Goethes dichterische Tätigkeit an dieser Stätte ist durch eine Erztafel am Felsen mitgeteilt. Derartige Tafeln mit dichterischen Worten sollten häufiger in deutschen Waldbergen eingeführt werden. Man hört da mitten im Walde gleichsam eine Geisterstimme aus höherem Reich, zumal wenn man allein wandert und zum Sinnieren Zeit hat. Feierliche Stille fehlt nicht in diesem Dom; es wandert sich ja ohne Geräusch auf dem braunen Nadelteppich.
Die Tafel enthält die bekannte Stelle aus der ersten Niederschrift der »Iphigenie«:
»Wem die Himmlischen viel Verwirrung zugedacht haben, wem sie erschütternde schnelle Wechsel der Freude und des Schmerzes bereiten, dem geben sie kein höher Geschenk als einen ruhigen Freund.«
Ja, man muß stolz sein können auf die Mithilfe seiner Freunde. Gegenseitige Achtung, durchwirkt von Goldfäden lauterer Herzenswärme, hebt und veredelt beide, Geber und Empfänger. Wer gibt, wer empfängt? Beide. Und beide werden im Austausch nur immer reicher. Man weiß gar nicht und kann nie ausrechnen, wieviel Bestes in uns erst im Strahlenbereich der Liebe und der Freundschaft die Schollen lockert und herausblüht. Freundschaft ist ein Talent der Männer, ist eine männliche Ergänzung zur weiblichen Liebe. Die Erztafel am Schwalbenstein grüßt hinüber zu den Erztafeln am Hermannstein; golden sind die Buchstaben dort und hier.
Sereno die, quieta mente stand ich im Hüttchen des Schwalbensteins und schaute hinab ins Ilmtal, hinüber in den hellgrünen Wald, dankbar treuer Freundesherzen gedenkend. Niemand ist je allein. Noch einmal: Niemand, der wahrhaft Leben in sich hat, ist je allein. Man muß ja ausstrahlen seine Eigenart und Fremdes an sich ziehen, einsaugen oder abstoßen – darin besteht der Lebensprozeß. Freunde und Herzensverwandte, ebenso wie Gattin und Kinder und wodurch sonst noch Liebe entwickelt wird, helfen mit am Gewebe der Weltvergeistigung, die unser köstlicher Menschenberuf ist. –
Diese Rückschau auf die zwei ersten Abende, die ich auf den umliegenden Höhen verträumt, schreib' ich an heiter bewegtem Junimorgen in meiner Kammerberger Gartenhütte, gleich am Anfang des Dörfchens, im Rauschen der nicht weit entfernten Ilm, mitten inne zwischen Schwalbenstein, Hermannstein und Kickelhahn – also mitten inne zwischen Freundschaft, Liebe und Höhenfrieden.