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Zweites Buch.
Weimar

.

Nachtgespräch im Park von Weimar

.

Stille ruhn oben die Sterne
Und unten die Gräber.
Doch rufen von drüben
Die Stimmen der Geister,
Die Stimmen der Meister:
Versäumt nicht, zu üben

Die Kräfte des Guten.
Hier winden sich Kronen
In ewiger Stille,
Die sollen mit Fülle
Die Tätigen lohnen.
Wir heißen euch hoffen.

Goethe

. Der Park von Weimar troff unter der schweren Nässe eines langen Regentages. In der Dämmerstunde schritt ich unter den altberühmten Bäumen hin.

Weimar! Eine Klangfülle, eine Akkorden- und Gedankenfolge drängt sich für den phantasiereichen Geist zusammen in ein einzig Wort. Vom Ertrinkenden sagt man, daß er sein Leben bis in alle Einzelheiten in blitzhafter Sekunde überschaue; in einem minutenkurzen Traum erlebst du verwickelte Ereignisse. Für die Pythagoräer und andere Mystiker ließ sich eine umständliche Anzahl von Dingen, Werten und Wesensarten in innerem Schauen zusammenfassen in eine Zahl, in ein Wort; Wort und Zahl waren in Urzeiten eins. Im Tode steht, nach aller Addition, Subtraktion und Division, das bleibend Wertvolle in einer einzigen magischen Zahl als Resultat deines Lebens vor dem erhellten inneren Auge. Frag' eine Mutter, die ihr Kind verlor, was sich in ein Wort kristallisieren kann: nenn' ihr den kurzen Namen des Kindes, und eine Summe voll Freud' und Leid wird lebendig! So gehen die großen Geister der Menschen in Form eines Namens auf die Nachwelt über; dieser Namen ist eine Zahl, ist eine Summe von Werten. Wie in einem Tautropfen spiegelt sich darin eine vergeistigte Landschaft.

Unsre Seele ist ein Brennspiegel: das Weltall ist in uns. Eine große Persönlichkeit ist besonders reine, tiefe, vergeistigte Widerspiegelung des Weltalls, ist eine Zusammenfassung der Schöpfung in einen unendlich kleinen und unendlich großen Menschen-Tautropfen. Der geistreiche Verstandesmensch Taine sagt es einmal, über Balzac sprechend, und er formt damit einen deutschen Gemütsgedanken, einen Gedanken aus dem Bereich der germanischen Mystik; er sagt: »Unsere Seele ist eine Kristallinse, die in ihrem Brennpunkte alle die glänzenden Strahlen sammelt, die das grenzenlose Universum aussendet, um sie wieder, wie strahlende Fächer entfaltet, in den unendlichen Raum hinauszuschicken. Das ist die Ursache, warum ein jeder Mensch ein Wesen für sich ist, vollständig abgesondert, unendlich zusammengesetzt, sozusagen ein Abgrund, dessen Tiefe nur der seherische Blick des Genies oder eine außerordentliche Bildung in ihrem wahren Wesen begreifen können.«

Solch ein Tautropfen ist für den schauenden Menschen das Wort » Weimar«.

* * *

Mir erweiterte sich plötzlich, als ich in die Tore dieser Welt eintrat, persönliches Herzeleid, das mich aus der Ferne treulich begleitet hatte, zu einer heroischen und seherischen Weltbetrachtung.

Vergeistert schauten aus der Dämmerung des wunderlich durchwisperten Regenparkes, mehr geahnt als deutlich gesehen, der kleine Tempel, die Felsen des Ilmufers, das Rindenhäuschen. Das wasserschwere Wipfelwerk stand als bewegungslose, stumm-lebendige Masse mir zu Häupten. Ohne Ufer, ohne Ende umwogte mich eine Meerflut von Klagen. »Was willst du auf diesem verstoßenen Stern? Kehr' heim zu deinen besseren Inseln! Willst du dem göttlichen Licht zurückerobern solch Sternchen des Unrats, an dem die Menschheit stärker hängt als Prometheus an seinem Felsen? Willst du in wimmelnden Kärrnerseelen anfachen die leuchtende Ruhe großer Herzen? Wagtest du zu hoffen, ein Flammenbündel eroberter Menschenherzen mit heimzuschleppen in Lichtreiche des Geistes? Gib's auf, kehr' heim!«

Mancher von uns kennt solche Anfechtungen. Sie sind ein Zusammenfluß von Tiefstimmungen, die man im einzelnen nicht aufzählen kann. Bei uns Geistesmenschen ist es zumal die Überfülle von unnütz und häßlich beschriebenem Papier rund um uns her, die uns oft so mutlos macht. Wir haben das Gefühl, Flammen in uns zu tragen, lichtkräftiger als aller Zeitgeist, schroff anders geartet als alle Schriftstellerei der Umwelt: und wir sind dennoch genötigt, in abgegriffenen Worten der Zeit, in der Presse der Feit einzugehen auf die Kleinlichkeiten der Zeit und – neue Aufsätze und Bücher auf die viel zu vielen alten zu häufen. Worte sind unser Werkzeug, Papier unser Mittel – wir müssen hantieren mit Dingen, die uns durch ihren Mißbrauch bis zum Grunde der Seele verleidet sind. Ich hasse die Literatur wie nichts auf der Welt! Und ich liebe sie mit der Leidenschaft eines Liebenden! Denn sie ist unsere Möglichkeit, mit vortrefflichen Köpfen und Herzen in elektrische Verbindung zu treten, Funken der Kraft auszutauschen, die Menschheit zu bereichern und aus dem Widerhall für uns selber wieder Kräfte einzufangen. Das ist unsere tiefe Freude, und das – heute sicherlich – unser viel tieferes Leid. Denn die frischesten Herzen und Tatmenschen lesen uns nicht und kennen uns nicht, haben keine Zeit für Papier, lieben und leben, leiden, siegen oder vergehen außerhalb der Literatur, fern von uns. Und wenn sie mit uns, d. h. unserer Quintessenz, unseres Wesens Duft, einem Buch von uns, zusammenkommen, so verstehen sie vielleicht unsere Sprache nicht. Worte sind trostlos arm, sind trostlos abgeblaßtes Allgemeingut!

* * *

Fast frierend schritt ich im Sommermantel menschenleere Pfade hin. Die uralt stattlichen und erfahrenen Bäume der Hauptallee ließen die segnende Flut mit erhabenem Verständnis über sich ergehen. Die kurzlebigen Halme der Wiesen senkten niedergeschlagen die Köpfchen; es ist ihr erster und einziger Sommer; sie sind rasch geknickt, rasch freilich auch wieder ermuntert. In den Büschen und Stauden ist eine zauberhafte Melodie von huschenden Füßchen und greifenden Armen, ein Springen und Fallen, ein Kichern und Seufzen, ein Hüpfen unsichtbarer Tropfen von Blatt zu Blatt, ein feines Aufklatschen auf der Wasserfläche der kleinen Ilm.

Fahl und erblichen schimmert Goethes weißgetünchtes Gartenhäuschen zu dem nächtlichen Wanderer herüber. Seine Fenster sind tot und erloschen; das Haus still; alles Lachen und Plaudern von ehedem verflogen. Mancher schöne Klang verzitterte dort in der Goldluft des Abends, wenn der kleine Fritz von Stein den großen Kinderfreund umsprang, wenn die edle Anmut einer Korona Schröter oder der Herzensreichtum einer erfahrenen Frau von Stein und so manche Spielgesellschaft des heitren Hofes den Park belebte oder bei Goethe zu Gast war. Heut' ist alles in Nacht verschlungen. Goethe ist tot; alle, die damals lebten, sind tot.

Goethe »tot«? Ich erschrak fast, daß ich in die Sprache des Werktags einen Augenblick entglitten war. Hier atmete freilich jener Menschen Körper, ja, mit allen Wunderlichkeiten und Unzulänglichkeiten der Spezies Mensch behaftet, hier schrieben und wirkten ihre Hände und Begabungen, hier sprach und hustete und lachte ihre Kehle, hier traten ihre Schuhe und Stiefel auf – ja, auf ebendemselben Erdreich, auf dem ich jetzt, abseits von den Lebenden, in eine geheimnisvolle Nacht hinaushorche. Seit meinen Knabentagen im Grenzgebirge sind sie mir ungestorben und lebendig, die Großen von Weimar. Schillers tapfere Lebensführung und, in späteren Jahren, Goethes breit-ruhige Weltanschauung waren der Traum meiner Jugend. Sind sie jemals für mich »tot« gewesen? Die Worte lebendig und tot reichen da gar nicht mehr: sie waren und sind in mir. Was sind für den, der geistig schaut, Nähe und Ferne, Raum und Zeit, Leben und Tod? Nichts! Alles aber ist dein Zustand. Sorge, daß du in denselben Zustand wie jene Großen eintrittst: und du bist bei ihnen, bist ihr Freund und Bruder, sie sind in dir und du in ihnen. Und alle seid ihr in Gott, im Geist. Jahrhunderte sind ausgewischt, ihr unterhaltet euch – nach einem Wort Schopenhauers – über Täler hinüber von Berg zu Berg. Äschylos ist nahe; du erlebst mit ihm die Läuterung des Orest, die seine eigene Läuterung war, dem Wesen nach nicht unterschieden von Dantes männlicher Läuterung durch Hölle und Purgatorio. Er hatte die Kraft, im Spiegel einer Dichtung festzuhalten sein Schauen in Welt und Seele: schau' auch du in den Spiegel, und derselbe Zustand überkommt dich, dieselbe Hoheit rauscht in dich ein! So haben sich Goethe und Schiller erziehen lassen vom Lebensstolz und Allvertrauen der großen Griechen oder eines Shakespeare, eines Kant. So sind sie selber zu Führern gereift und richten nun uns wieder auf. So reichen starke Herzen und Geister schwachgläubigen Zeitaltern mächtig die Hand; so lernt die leicht verzagende und umsinkende Menschheit immer wiederum schreiten, bergan schreiten, immerzu bergan! Reihe dich ein in die Kette: – und die Kraft aller Großen durchströmt auch dich! …

* * *

Ich atmete freier auf.

Und nun geschah Seltsames: es löste sich in der Nähe des Borkenhäuschens aus dem Dunkel der Nacht eine männliche Gestalt. Der schattenhafte Gast ließ den Regen achtlos auf den Hut und den umgehängten Mantel fallen. Ohne Umstände gesellte sich das unbekannte Wesen an meine Seite.

»Ihr Selbstgespräch«, so begann eine leise Stimme, »hat mich angezogen und reizt mich zur Anteilnahme. Zwar weih ich das Angenehme eines nachdenklichen Ganges recht wohl zu schätzen; aber erquicklicher sogar als das nährende Licht ist doch wohl mitunter ein ermunterndes Gespräch.«

»Gern zugegeben,« erwiderte ich mit unschlüssiger Allgemeinheit, »nur kommt es darauf an, mit wem und worüber man sich unterhält.«

»Das ›Worüber‹ scheint mir weniger wichtig«, erwiderte mein Gefährte. »Ich meine, man kann jedes Ding zweckmäßig betrachten, wenn man die rechte freundliche Ruhe des Beschauens und etliche Vernunft und Kenntnisse mitbringt.«

»Es kommt also auf die Menschen an, die sich miteinander unterhalten –«

»Und diese sind auch wieder ein gar verwickelt Ding und manchen Zufällen, Launen und Witterungen untertan. Es kommt auf den günstigen Augenblick an, mein Freund. Lassen Sie uns ohne weitere Einleitungen die Gunst des Augenblicks ergreifen und Ihrem stillen Gedanken gemeinsam weiter nachdenken.«

Mich schauerte ein wenig. Woher kennt dieser sonderbare Nachtwandler meine stillen Gedanken? Hatte ich laut gesprochen, wie mir das manchmal in erregten Augenblicken geschieht? Aber ich war in einer ungewöhnlichen Traumstimmung befangen, und ich hing daher nüchternen Einwendungen nicht weiter nach.

»Halten Sie sich auch heute gegenwärtig,« sprach mein Begleiter, »daß des Geistes Wesen stete Bewegung ist, daß ein milliardenhafter Schwarm von Gedanken und Gesichten unablässig durch uns hinströmt, wovon wir nur ein geringes Teilchen in unser Bewußtsein auffangen. Nun liegt es an unserem reinen und beharrlichen Wollen, daß wir nur bedeutende und förderliche Stimmen aus der Unendlichkeit in unsere Endlichkeit einlassen. Wir kleiden sie alsdann in Worte, wir setzen sie in Taten um – und lassen die so Geformten wieder hinaus unter die Menschheit. Glauben Sie meiner Erfahrung und Beobachtung, man tut gut daran, das Minderwertige nicht in die Phantasie einzulassen, denn das beschwert nur und verdrängt Besseres vom Platz. Es müßte denn sein, daß wir alles, auch das Häßliche, in Gold zu verwandeln die kraftvolle Gabe besitzen, was aber nicht jedermanns Sache ist. Ihr habt ein grundverkehrtes Wort in eurer neugierigen und lüsternen Zeit: man müsse ›alles gesehen‹ haben, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Unter dem ›Alles‹ versteht ihr das Unnütze. Das Leben muß euch gewaltig lang scheinen, daß ihr dazu Zeit zu haben glaubt.«

»Wir verstehen uns bereits vortrefflich«, unterbrach ich, angenehm verwundert. »Unsere Zeit hat weder Aufmerksamkeit noch Stille genug für die inneren Gäste der Schönheit, von denen Sie sprechen.«

»Und das ist sehr schade«, fuhr er fort. »Ihr ahnt nicht, wie reich euer Leben sein könnte. Wenn ihr willige Gastherren seid, so werden sich jene Himmlischen immer williger einstellen. Euer Organismus wird von ihnen geläutert, gebildet, bereichert. Hättet ihr Menschen die Augen, diese emsige Arbeit unsichtbarer Besucher und Freunde zu schauen – möget ihr sie nun Götter oder Elfen, Heilige oder Engel nennen – ihr würdet erstaunen, wie licht ein wohlgebildeter Geist anzuschauen ist.«

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Das alles klang so ruhig und so beruhigend, so fest und einfach, daß ich stehen blieb und meinem Begleiter ins Gesicht zu schauen versuchte. Aber die zwiefache Hülle der Nacht und des beschattenden Wipfelwerks gönnte mir keine nähere Aufklärung. Ich sah nur die zerfließenden Umrisse einer Gestalt lautlos neben mir wandeln; ich hörte nur den Wohllaut einer nahen, leisen und doch wunderbarwohlverständlichen Stimme.

»Das liebe ich an Goethe,« fuhr ich endlich fort, »ebenso wie an den Großen der Griechen oder an Shakespeare, daß er, aus Anlage und Grundsatz heraus, so gern das Lebendige und Fördernde überall anzog, mit feinem Wohlwollen, mit magnetischer Selbstverständlichkeit. Gutes ist wohl noch auch unter Abfällen und Lumpen, in Nachtasylen und unreinlicher Umgebung zu finden, behaupten freilich die Neueren; und sie haben hierin wohl nicht unrecht, sie glauben sogar hiermit ein neues Gebiet der Poesie hinzuerobert zu haben –«

»Wozu denn aber in verzerrten Menschenbildern suchen, wenn mir so viel schöne Landschaften und gut gewachsene Menschenpflanzen zur Verfügung stehen? Kann ich nicht an den letzteren reinlicher und plastischer deuten, was ich deuten will?«

»Nun, wir dürfen uns doch der Wirklichkeit nicht verschließen. Mir fällt dabei ein, daß allerdings Goethe weder Witzblätter noch Karikaturen leiden mochte, er wollte sich sein Weltbild nicht verzerren lassen; aber mir fällt auch ein, daß er zur Franzosenzeit, zur Zeit der Schlacht bei Jena, im Zimmer saß und sein ›Innerstes bedachte‹. Für uns moderne Menschen ist dies Verhalten etwas ganz Undenkbares!«

»Gestatten Sie mir eine Frage, mein Bester: Ist Ihnen aus Goethes ›Italienischer Reise‹ bekannt, daß er auf der Seefahrt nach Palermo einen Sturm bestand? Ist Ihnen des weiteren bekannt, was er während dieses nicht unbedenklichen Wetters getrieben hat? Lief er auf dem Verdeck umher und versperrte dem arbeitenden Schiffsvolk den Weg? Saß er in seiner Kajüte und jammerte laut? Nichts von allem. In seinem Tagebuch vom Sonntag den 1. April 1787 steht zu lesen: ›Um drei Uhr morgens heftiger Sturm. Im Schlaf und Halbtraum setzte ich meine dramatischen Pläne fort, indessen auf dem Verdeck große Bewegung war.‹ Er tat also, und hier erst recht, was seines Amtes und was seinem Wesen und Naturell gemäß war. Er bewies mithin ›Tatsachensinn‹, er erwies sich als ›Realpolitiker‹, so lauten ja wohl bei euch die neuesten Ehrenworte – bei euch, die ihr in wissenschaftlichen Vermutungen fast verworrene und verwegene Phantasten geworden seid. Denn ihr habt ja wohl dabeigesessen, als sich das Weltall aus dem Nichts entwickelte, und ihr wißt ja wieder einmal genau – was übrigens gewandte Geschäftsreisende und ähnliches Volk schon immer verfochten haben –, daß mit dem Tode ›alles aus‹ sei. Forscher sind bescheiden, Seher sind ehrfürchtig – ihr seid weder dies noch jenes. Ihr vorlauten Aufgeregten laßt euch von tausend Dingen der Umwelt beherrschen. Ihr also habt keinen Tatsachensinn für eure persönliche Pflicht, ihr

»Das ist zwar für unsere Zeit ein erstaunlicher Vorwurf, aber ich verstehe Sie. Ich selbst leide darunter, daß unsere Zeit die höchsten und innersten Menschenwerte blindlings mit Füßen tritt. Zumal die verwirrte Dichtung – –«

»Auch Dichtung ist Tat. Aber da bekunde sich ein viel feinerer Tatsachensinn, als er eurem Geschlecht innewohnt! Eure Journale und Tagesblätter fälschen ja das Weltbild, denn sie bringen meist oder fast nur gemeine Dinge, die für die breite Öffentlichkeit ›Interesse haben‹, wie man zu sagen pflegt: also Prozesse, Verbrechen, Unfälle, öffentliche Ehrungen, Paraden, Politik und Gehader, irgendwie also Dinge, die sich von außen her, vom platten Verstande vieler betrachten lassen, menschlich also nicht die höchsten und nicht die feinsten Dinge. Das stille Walten im warmen Hause, die reichen und tiefen Empfindungen der Güte, das Leid in einsamen, frommen und tapferen Seelen, die Stunden unscheinbaren und doch so wichtigen Glücks, das von heiteren Naturen ausgeht, alles Lachende in jungen Herzen und alles Still-Gute der gereiften Weisheit – wo sind denn diese Vorräte an inneren Gütern in euren Zeitungen? Abgehetzte Arbeitsnaturen tragen euch den Stoff zusammen – und ein Wesen der Unruhe und Herzenskälte strömt aus ihrem Werke, der Tageszeitung, in euch Leser über. Wenn ihr Tatsachensinn hättet, würdet ihr diese Tatsache zuallererst erkennen und danach tun.«

»Aber unsere Literatur selber ist ja von diesem Geist unterjocht!« fiel ich ein. »Das ist ja das Furchtbare!«

»Dichtung ist Tat nur dann, wenn sie Herzblut ist«, fuhr er fort. »Nur wenn eine Persönlichkeit jedes Wort mit Gehalt füllt und darin widerschimmern läßt ihre eigene hohe Entwicklung. Seid doch ›praktisch‹ und gestaltet euch selbst und euer Leben zu einem Kunstwerk! Stellt euch als Marmorbilder von Schönheit und Hoheit in den heiligen Hain deutscher und menschheitlicher Dichtung! Sucht euch Menschen und Ereignisse, an denen ihr fest und deutlich zeigen könnt, was Menschen und was Unmenschen sind! Ihr könnt ja so bunt und farbig reden, als ihr nur Lust habt, aber bleibt immer auf dem Grunde der Harmonie! Mein Freund, so beweist ihr Sinn für Realität. So seid ihr Nachgestalter der Schöpfung und Gehilfen Gottes, denn ihr sorgt für mannigfaltigen und tüchtigen Pflanzenwuchs. Könnt ihr das nicht, weil ihr zu unkräftig oder zu kurzsichtig seid, nun wohl, so bescheidet euch und mißbraucht nicht die Formen der Dichtung zu schädlichen Verzerrungen! Geht hinaus, werdet Heilkünstler und macht Menschen heil, werdet Lehrer und erzieht Menschen von Fleisch und Blut zu edlen Erscheinungen, werdet Beamte und helft regsam mitgestalten an der Harmonie des staatlichen Lebens – kurz, ihr unpraktischen Leute, beweist fördernden und ordnenden Tatsachensinn, statt das Unnütze zu vermehren!«

»Haben Sie Dank für Ihre Worte! Oh, wenn heut' Schiller und Goethe durch unser Geistesleben gingen, mit wieviel rascherem und stärkerem Tonfall würden sie Worte der Klage und Mahnung finden! Meinen Sie nicht?«

»Was der Gescheite weiß, ist schwer zu wissen.«

»Hier wandeln wir in klärender Zwiesprache unter majestätischen Regenbäumen in Deutschlands Herzensgau und geweihter Stadt. Ich horche zwar hinaus in die Gegenwart – aber ach, ich spüre nichts, was sich mit hartem Persönlichkeitsstolz bemüht, streng und einsam das hoheitvolle Werk Goethes und Schillers fortzusetzen. Und fortsetzen müssen wir's doch! Denn mit bedeuten Schiller und Goethe keinen Abschluß: wir werden in religiösen, nationalen und kosmopolitischen Dingen noch weiterhin Tiefes und Feines, Starkes und Zartes, Charaktervolles und Weitsichtiges zu sagen haben, mehr als die flachere Zeit jener beiden großen Bergwanderer, wenn wir nur erst nach so vielen achtbaren Errungenschaften der Außenwelt auch der Innenwelt wiederum Aufmerksamkeit gönnen. Sind Sie nicht auch der Meinung?«

»Das ›Wenn‹ und ›Ob‹ hat mich nie sonderlich beschäftigt. Tue jeder das Seine, und man wird ja sehen.«

»Was tun? Ich bin heute so von Herzen mutlos –«

»Mein Herr Begleiter, ich kenne das Possenspiel der Literatur in- und auswendig; es muß nur fortgespielt werden, weiter ist dabei nichts zu sagen. Die Fähigkeit, die innere Welt zu bedenken und mit der äußeren in Einklang zu bringen, ist heute wahrlich recht klein geworden. Aber setzen Sie tapfer Ihr Werk fort, nicht mutlos, nicht bitter, denn das wäre ja wiederum nur unschöne Verzerrung, und Sie würden eben dem Geiste untertan, den Sie bekämpfen. Halten Sie eine große Herzensruhe fest, die eben dadurch, daß sie sich in schön gefaßten Gleichnissen, in heitren Bildern und buntartigen Worten, Gestalten und Erfindungen ausstrahlt, feststeht im Wandel der Jahrhunderte. So werden sich die besten Geister daraus Helligkeit und Stetigkeit holen. Auf diese Weise wird das Feuer, das Prometheus der Erde gebracht, ein ›ewiges Lämpchen‹, das nie ausgeht, weil immer neue Hüter dem Lichtlein Nahrung geben. Nicht die Lauten sind die Herren der Welt, sondern die geistig Stillen und Starken. Leben Sie wohl, mein Freund. Kleinmut verträgt sich nicht mit Ihrem Amt. Sage dein Wort und kehre zu uns heim! Es ist ja bald gesagt. Auf Wiedersehen!«

Die Gestalt war in das nasse Dämmerdunkel entschwunden. Im Tiefsten wundersam bewegt ging ich zurück in meinen Gasthof.

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