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Goethes Einsamkeit

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Wenn ich manchmal zu lang im Schneckenhause
sitzen sollte, so klopfe freundlich an der Türe an!

Goethe an Jacobi, 1788

. Und Christiane Vulpius? Bedeutet sie nicht einen Rückfall nach der Geistigkeit der Frau von Stein und den geselligen Formen des Hofes? …

Nach Iphigenie und Tasso folgten die Römischen Elegien. »Angenehm häuslich-gesellige Verhältnisse geben mir Mut und Stimmung, die Römischen Elegien auszuarbeiten und zu redigieren« (Annalen). Korona Schröter, die Edelgestalt, war längst der erfahrenen Frau von Stein gewichen und starb später einsam und vergessen in Ilmenau. Christiane, das einfache Mädchen, das nichts zu bieten hatte als vollblühende Natur und Sinneseinfalt, zog in Goethes Haus ein. Sie stand eines Tages in seinem Garten, ein hübsches Kind, »von naivem freundlichen Wesen, mit vollem, runden Gesicht, langen Locken, kleinem Näschen, schwellenden Lippen, zierlichem Körperbau und niedlichen, tanzlustigen Füßchen« (Riemer). Sie hat sich nicht viel widergespiegelt in seinen Dichtungen, sie geleitete ihn nicht merkbar durch geistige Sphären: sie war seinem Erdenwallen eine gute Haushälterin. Sie lebte »wegen dem Geh. Rat (wie sie ihn zu nennen pflegte) oft sehr in Sorge. Er ist manchmal ganz hypochondrisch, und ich stehe oft viel aus, doch trage ich alles gerne, da es ja nur krankhaft ist … ich glaube gar, er wird wieder einmal recht krank … Der Geh. Rat hat nun seit einem Vierteljahr fast keine gesunde Stunde gehabt und immer Perioden, wo man denken muß, er stürbe … Sie können sich denken, wenn ein so unglücklicher Fall käme, und ich so ganz allein stände, wie mir zumute wäre. Ich bin wahrhaftig ganz auseinander.« So schreibt sie in Briefen. Und an ihrem Sterbebett (1816) sank der Staatsminister und Geheimrat in die Knie, weinte und rief: »Du sollst, du kannst mich nicht verlassen!«

Man muß dies verwickelte Kapitel in Goethes Leben mit besonderer Vorsicht lesen.

* * *

An Junozimmer des Goethehauses zu Weimar steht als kolossales Gebilde der Kopf der Juno Ludovisi. Es wirkt erhaben und beruhigend zugleich.

Es scheint kühl wie Goethe selber, dieses Marmorkunstwerk, solang man das Antlitz oberflächlich in Augenschein nimmt. Klare Stirn, maßvolle Ruhe, weiche Rundungen, eine abschließende Haarkrone, die das Gefühl satter Geschlossenheit vermehrt – und hinter der königlich-herben Hoheit dennoch um den Mund herum eine warme, verlangende Fraulichkeit.

Sind sie wirklich kalt, diese Künstler und ihre Marmorgebilde? Ich meine: nein; wir wissen vielmehr: es ist ein heißherziges Empfinden im Griechentum; aber die Empfindung ist gebändigt, geklärt, ausgeglichen durch Maß und Strenge.

Welche gesunde Sinnlichkeit quillt aus dem scheinbar so objektiven Homer! Welche Eindringlichkeit, welche Anteilnahme, welche wohlig-übertreibenden Beiwörter und Schmückwörter im marmorhaft gleichmäßigen Bau des Hexameters! Der »großgesinnte, edle, leidengeübte, erfindungsreiche Odysseus, die schönen, goldenen, ambrosischen Sohlen, die ungeheuren Gewässer, die entsetzliche Woge, die fürchterlich sausende Windsbraut, ein hohes, steiles, schreckliches Wassergebirge, der gewaltige Küstenerschütterer, die Wut naßhauchender Winde, das glückliche Land der götternahen Phäaken« – –! Alles ist bei Homer belebt und durchwirkt von Göttern, die in die Handlung eingreifen: aus den Fluten taucht Leukothea, über die Wasser von Ägypten her fährt Poseidons Gespann, Athene naht ihren Helden in der Gestalt guter Freunde. Die Welt ist diesen empfindenden, seherischen, verklärenden Menschen mit Recht voll Gottes, voll Götter – fast hätt' ich hinzugefügt: voll Elfen, voll Engel!

Der herbe Äschylos in seinem »Orest« ist so heißblütig wie nur je der Dichter des »Hamlet«; man muß nur durch die Form hineinhorchen in dieser Dichter Seelen.

Carlyle hat dies feine Gehör für den »ruhigen« Goethe. Er schrieb einem Freunde: »Eines Tages werden Sie einsehen, daß dieser sonnig dreinschauende, freundlich-höfliche Goethe in sich verschleiert ein Prophetenleid trug, tief wie das Dantes. Und mir und Ihnen muß es nur um so edler erscheinen, daß er es so niederhalten konnte. Ich glaube vor allem dies: kein Mensch kann so sehen, wie er sah, der nicht gelitten und gekämpft hat, wie selten ein Mensch es getan.«

Carlyle hatte keltisches Blut in sich, er war zornblütiger und wuchtiger und ist, weil er mehr Ethiker als Künstler war, nie zu Goethes Plastik durchgedrungen. Aber er verstand, liebte und verehrte den Altmeister gerade darum als »den einzig gesunden Geist, der seit Generationen in Europa erstanden«. Es ist der Kern von Goethes Lebensweisheit und Selbsterziehung, wenn Carlyle an Emerson schreibt: »Es ist nicht eine Ihrer geringsten Eigenschaften, daß Sie so ruhig warten können und die Jahre ihr Bestes tun lassen.«

Ruhig warten können? Es liegt zwar nicht für den gleichmäßigeren Emerson, aber für Goethes buntfarbiges Empfinden und Gestalten in diesen drei Worten eine ungeheure Lebensarbeit. » Tätig warten können« – ja, durch Tätigkeit die Welt überwinden: das hätte die Sache richtiger ausgedrückt.

* * *

Die Wirkungen zwischen Mann und Weib, zumal wenn jener eine empfängliche Künstlerseele ist, sind Geheimnisse der Natur. Wir kommen ihnen nie auf den Grund.

Aus Augen und Atem zweier Menschen verschiedenen Geschlechts, die aufeinander gestimmt sind, geht ein Strahlenwerk hin und her, teilt sich dem ganzen Körper und Wesen mit, beschwert die Betroffenen mit einer fast spürbaren Substanz, die nicht abzuschütteln ist. Magnetisch ziehen sich zwei Liebende an; ein leiser Druck der Hand durchströmt den Organismus. Sie haben ein Geheimnis miteinander, diese beiden, ohne sich je ein Wort verraten zu haben. Zwei rätselhafte Kräfte ihres Wesens verlangen zärtlich und stürmisch zueinander. Es ist eine Elektrizität zwischen ihnen zur Entfaltung gekommen, deren Tragweite nicht abzusehen ist. Das Mädchen mag noch so »geistig unbedeutend« sein, du magst ihre Untugenden noch so beredt aufzählen – der Vorgang dieses Ineinanderüberspringens zweier Funken ist unerschütterliche, beunruhigende, beseligende Tatsache.

»Was findet er nur an ihr?« fragt man sich dann verwundert. »Was mag dies Weib ihrem Gatten sein?«

Freunde, das kann niemand von uns wissen. Das erfahren und erleben nur die zwei Beteiligten. Es sind Geheimnisse der Natur – und nicht bloß der Natur: es sind ebenso Geheimnisse des unendlichen Geistes, der unergründlichen Seele.

Wenn ein Goethe derart festgehalten wurde im Strahlenkreis einer Christiane, so muß wohl etwas, was ihn ergänzte und wessen er bedurfte, in diesem Mädchen wirksam gewesen sein. Wir müssen es den Beteiligten überlassen.

* * *

Aber warum hat der Minister, der sonst so Formen achtende, nicht auch hier die Form gewahrt und sich über die Liebe zu Christiane hinübergerungen? Warum gab er Anstoß und nahm sie in sein Haus? Wirkte hier die römische Geliebte Faustine nach?

Er hat Faustine beim zweiten römischen Aufenthalt, nach der Rückkehr aus Neapel und Sizilien, kennen gelernt. »Müde war ich geworden, nur immer Gemälde zu schauen«, heißt es in den »Venez. Epigrammen«: »nach lebendigem Reiz suchte mein schmachtender Blick.« Und ähnliches deutet der »Bericht« (Januar 1788) an: »Man wird zugestehen, daß eine große Anstrengung gefordert ward, sich gegen so vieles aufrecht zu erhalten, in Tätigkeit nicht zu ermüden und im Aufnehmen nicht lässig zu werden.« So kam er zu der sinnenfrischen römischen Freundin Faustine.

Zu dieser Frische wollten nun aber die oft verdrießlichen Heimatbriefe der Frau von Stein »von Zahnweh und andren Übeln« nicht mehr stimmen.

Das Herz tut uns weh, wenn wir der vereinsamten Frau von Stein gedenken. Ich kann nie ohne Bewegung den entscheidenden Abschiedsbrief vorn 1. Juni 1789 lesen, worüber die Empfängerin nur ein »Oh!!!« geschrieben hat. Wir erkennen den sonst so abwartenden und dann erst seine Worte prägenden Goethe hier gar nicht wieder: er schreibt in anfechtbarster Logik und Psychologie, ohne Gefühl dafür, daß jedes Wort unsäglich schmerzen mußte. Nach den leuchtenden Briefchen von einst, jenen Tauperlchen – welch ein poesieloser Gegensatz!

… »Leider warst du, als ich ankam, in einer sonderbaren Stimmung, und ich gestehe aufrichtig: daß die Art, wie Du mich empfingst, wie mich andere nahmen, für mich äußerste empfindlich war. Ich sah Herdern, die Herzogin verreisen, einen mir dringend angebotenen Platz im Wagen leer« [aber, kann man hier verwundert fragen, Goethe war ja zwei Jahre lang weg gewesen! wollt' er denn schon wieder fort?], »ich blieb um der Freunde willen, wie ich ihretwillen gekommen war, und mußte mir in demselben Augenblick hartnäckig wiederholen lassen, ich hätte nur wegbleiben können, ich nehme doch keinen Teil an den Menschen usw. Und das alles, ehe von einem Verhältnis die Rede sein konnte, das Dich so sehr zu kränken scheint.

»Und welch ein Verhältnis ist es? Wer wird dadurch verkürzt? Wer macht Anspruch an die Empfindungen, die ich dem armen Geschöpf gönne? Wer an die Stunden, die ich mit ihr zubringe? « [Wir schreiben ein ›Unglaublich!‹ an den Rand! Das an Frau von Stein, seine Lotte von einst!]

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»Frage Fritzen, die Herdern, jeden, der mir näher ist, ob ich unteilnehmender, weniger mitteilend, untätiger für meine Freunde bin als vorher? Ob ich nicht vielmehr ihnen und der Gesellschaft erst recht angehöre. Und es müßte durch ein Wunder geschehen, wenn ich allein zu Dir das beste, innigste Verhältnis verloren haben sollte.«

Abermals: Unglaublich!

»Aber das gestehe ich gern: die Art, wie Du mich bisher behandelt hast, kann ich nicht erdulden. Wenn ich gesprächig war, hast Du mir die Lippen verschlossen, wenn ich mitteilend war, hast Du mich der Gleichgültigkeit, wenn ich für Freunde tätig war, der Kälte und Nachlässigkeit beschuldigt. Jede meiner Mienen hast du kontrolliert, meine Bewegungen, meine Art zu sein getadelt. Wo sollte da Vertrauen und Offenheit gedeihen, wenn Du mich mit vorsätzlicher Laune von Dir stießest.

»Unglücklicherweise hast Du schon lange meinen Rat in Absicht des Kaffees verachtet und eine Diät eingeführt, die Deiner Gesundheit höchst schädlich ist. Es ist nicht genug, daß es schon schwer fällt, manche Eindrücke moralisch zu überwinden, Du verstärkst die hypochondrische quälende Kraft der traurigen Vorstellungen durch ein physisches Mittel, dessen Schädlichkeit Du eine Zeitlang wohl eingesehen und das Du, aus Liebe zu mir, auch eine Weile vermieden und Dich wohl befunden hattest. Möge Dir die Kur, die Reise recht wohl bekommen!« …

Wir erkennen unseren großen, milden und gerechten Goethe nicht wieder. Nur Vorwürfe, nur Abwehr! Und Zumutungen einer Toleranz, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Wenn man sich in die Gemütsverfassung der Frau versetzt, die solchen Brief empfangen hat – wie muß es in ihr aufgeweint, aufgeschrien haben vor Weh und beleidigter Frauenwürde!

Aber dann beginnen wir zu fragen: Wirft denn aber ein Mann von Selbsterziehung wie der vierzigjährige Goethe aus bloßer Laune solches Schreiben hin? Müssen sich da nicht ungewöhnliche Verstimmungen angestaut haben? Und wir fühlen allmählich eine Tragik heraus, die weitab liegt von dem üblichen »Schuld« oder »Unschuld«, eine Tragik für beide Teile.

Es lag eine poetisch umhüllte und mit Anmut verschönte Tragik von vornherein keimhaft in diesem Herzens- und Phantasiebund. Die sieben Jahre ältere Ehefrau mit ihrem freilich nicht sehr um sie bekümmerten Gatten und ihren sieben Kindern (wovon vier gestorben waren) hatte eine wohlangefüllte Welt um sich; wenn sie gleichwohl Geist und Seele genug übrig hatte, den Dichter der »Iphigenie« und des »Tasso« hinaufzuerziehen aus Sturm und Drang in das, »was sich ziemt«, in edle Form, in feine Sitte, – so war das ein so frauenhaft hehres Werk, daß ihr die Jahrhunderte dafür dankbar sind.

Aber dies Werk mußte sein Ende finden. Schon die Tatsache der Flucht Goethes nach Italien und dann erst recht die zweijährige Einspinnung in die Welt des Südens beweisen, daß Goethe den Weimarischen Kreis zur Genüge durchlaufen hatte und nun nach Neuem Ausschau hielt, der immer suchende Faust, um es umzusetzen in geistigen Besitz. Nun kam er zurück, voll von bedeutenden Ausblicken in andere und weitere Kulturen, kam zurück in das enge Weimar, das »große Dorf«; kam aus unbekümmerter Künstlerfreiheit heim ins Ministerium, in Hofgesellschaft, in Vorurteile. Er war gewachsen in den zwei Jahren, er hatte seine Flügel gebreitet – und die zu Hause waren nicht mit ihm gewachsen und konnten nicht mehr mit ihm fliegen. Und so brach die geheime Tragik offen aus.

Auch jetzt noch wollte die liebende Frau festhalten, was sich in bisheriger Form nicht mehr festhalten ließ, weil die Entwicklung darüber hinausgegangen war. Und doch war nun einmal grade jetzt – schon in den zwei Jahren hatte sie Zeit gehabt, sich seelisch darauf vorzubereiten – der schwere Augenblick gekommen, wo sie sich sagen mußte: »Will ich ihn behalten, so muß ich ihm entsagen.« Und der schwerere Augenblick: »Will ich seinem Werden und Wachsen auch in Zukunft förderlich bleiben, so muß ich selber nun, ich, seines Herzens Vertraute, unter Ausstreichung meiner Person, ihm in einen gefestigten Herzens- und Ehebund hinüberhelfen.«

Zu solcher heroischen Freundschaftstat gehört ein ungewöhnlich großes Herz und ein wahrhaft freier Geist. Ein begehrend Weib besitzt dazu weder Kraft noch Einsicht. Die Ahnung, daß sie den Großen nicht mehr persönlich festhalten könne, drängte sie vielmehr in Angst, Kleinheit, Eifersucht hinein – und so verlor ihn die Ärmste erst recht.

So geschah hinter ihrem Rücken jene verhohlene »Gewissensehe«, deren Form und Art wir alle schwer verstehen. Goethe begab sich damit bewußt in Selbstverbannung. Und so brach im Jahre der französischen Revolution, die den Dichter so erschreckend an die Zerbrechlichkeit irdischer Dinge gemahnte, ein zwölfjähriger Herzens- und Phantasiebund zusammen, der so viel Ewiges der Welt gespendet hatte. Goethe war von nun ab einsam.

Ja, in tiefsten seelischen Dingen war Goethe von nun ab einsam. In seine innerste Welt hatte weder Schillers anregende, Dunkelheit und Zaudern überwindende Freundschaft noch Christianens Erdenschwere Zutritt. Seine bekannte Zurückhaltung, seine Scheu, innerste Gefühle zu zeigen, seine zugeknöpfte Steifheit, womit er zwischen sich und seinem Umkreis einen vornehmen Abstand walten ließ – sie datieren von diesem Jahr ab, als der vierzigjährige Mann aus der Weite heimkehrte und sich, unverstanden und durch jenes Liebesverhältnis Befremdung erregend, in eine tätige Enge einsperrte.

* * *

»Rom in Thüringen« überschreibt Goedeke diese Einkapselung des großen Künstlers. Wir müssen noch ein wenig verweilen, es ist ein unerschöpflicher Stoff.

Schon zur Zeit der italienischen Flucht war der Dichter der »Iphigenie« zu einem Höhepunkt menschlicher Klärung emporgereift. Es waren die lichten, stillen Tage von Ilmenau und Schwalbenstein – wo er sereno die, quieta mente an »Iphigenie« geschrieben –, Tage, die uns sehr lieb sind, weil sich ihre Innerlichkeit in so klare Form, in so gute Weisheit geprägt hat. Nun trat, wie gesagt, ein Stocken ein. Warum?

Wären wir Deutschen in unserer Gesamtkultur damals bereits weiter entwickelt gewesen, statt der moralisierenden Schöngeisterei, des wissenschaftlichen Dilettantismus, der politischen Unreife jener kleinstaatlichen und absolutistischen Epoche: glaubt man wohl, daß sich unser empfänglichster Geist, unser Goethe, mit solcher Einseitigkeit zwei Jahre lang in italienische Kunststimmungen eingelebt hätte? Unsere rückständige Gesamtkultur hat jenen Bruch und jenes Stocken verursacht. Wir hatten kein Reich, an dessen Kultur unsere bedeutenden Köpfe umfassend arbeiten konnten; wir hatten keine weitreligiösen Horizonte, nur Mystik oder Rationalismus gediehen; das einzig Große war vorerst die Kantsche Philosophie und das friderizianische Preußentum. Gemeinsame Kulturideale mußten der deutschen Menschheit erst wieder gefunden werden.

Dazu brach unmittelbar nach Goethes Rückkehr die französische Revolution aus und bedeutete das Anbrechen eines politischen Zeitalters: die französische Revolution, die ihn mehr »widrig« als furchtbar berührte, deren Vorzeichen ihn schon im Jahre 1786 (Halsbandgeschichte) derart aufgeregt hatten, daß er seinen Freunden als »wahnsinnig« erschienen war. Die verdumpfte Welt des Absolutismus sah diesem Hexenkessel zu, ohne viel Gegenwirkung, bis in Napoleon der Weststurm über Europa brauste und unseren unhaltbaren Verhältnissen ein »Jena« nach dem andern bescherte.

Der Minister eines Kleinstaats, ein Minister, der zugleich großer Dichter und Künstler war, konnte nur zwei Dinge wählen, die sich überhaupt, und bei Goethes Natur erst recht, schwer vereinigen ließen: er konnte mit politischem und reformatorischem Temperament als Staatsmann in die ungeheuer schwierige Gestaltung der äußeren Dinge eingreifen, wie es sich nachher Männer wie Stein, Arndt, Blücher, Körner, Friesen und derlei Charakterköpfe zur Lebensaufgabe setzten, deren stattliche Reihe erst durch das Genie Bismarcks abgeschlossen ward – oder er konnte sich so erschütternder, den ganzen Mann verzehrender Tätigkeit beizeiten entziehen und inzwischen den Deutschen als künstlerischer Bildner eine stille Geisteswelt erbauen, mit allem Reichtum, aber freilich auch mit etlicher Einseitigkeit, die solche Absonderung mit sich brachte.

Fast symbolisch halfen äußere Umstände dieser Naturanlage Goethes nach. Der Name Merck erinnert uns an die frischen Zeiten von Straßburg, Frankfurt, Wetzlar, als die Freunde unter Herders Anregung für Shakespeare, Homer, Ossian, Volkslied schwärmten, als der Stürmer und Dränger den kraftvollen »Götz« schrieb. Damals war noch so etwas wie Nationalliteratur in volksmäßigem Sinne zu erhoffen. Nun, Merck geriet just in diesen Heimkehrjahren Goethes immer mehr mit dem Dasein in Konflikt und erschoß sich 1791. Auch Herder entfremdete sich dem Dichter mehr und mehr: das Humanistisch-Ethische wuchs im Hofprediger stärker als das Künstlerische; zugleich blieb Herder seiner nationalen und gemüthaften Richtung treu. An wie manchem Werk der nun anbrechenden antikisierenden Periode – vor allem an den Römischen Elegien – nahm Herder Anstoß! Der neue Hausfreund Meyer (der »Kunst-Meyer«) gewann, bezeichnend genug, Goethes Herz besonders durch seine einseitige Vorliebe für die bildende Kunst.

Goethes Briefe aus dieser Zeit spiegeln seine Vereinsamung und sein Unbehagen wider: »Ich bin hier fast ganz allein. Jedermann findet seine Konvenienz, sich zu isolieren« … »Warum bin ich doch zurückverschlagen!« … »Ich kann und darf nicht sagen, wieviel ich bei meiner Abreise von Rom gelitten habe, wie schmerzlich es mir war, das schöne Land zu verlassen« … »Ich kann eine leidenschaftliche Erinnerung an jene Zeiten nicht aus dem Herzen tilgen. Ich fühle nur zu sehr, was ich verloren habe, seit ich mich aus jenem Elemente wieder hierher versetzt sehe« … »Der Hauch, der mir von Süden kommt, ist mir immer erquicklich, wenn er mich gleich eher traurig macht als erfreut.« So quillt es nach seiner Heimkehr immer wieder auf.

Die Deutschen hingegen: »Von Kunst hat unser Publikum keinen Begriff … Die Deutschen sind im Durchschnitt rechtliche, biedere Menschen, aber von Originalität, Erfindung, Charakter, Einheit und Ausführung eines Kunstwerks haben sie nicht den mindesten Begriff. Das heißt mit einem Worte: sie haben keinen Geschmack. Versteht sich auch im Durchschnitt. Den roheren Teil hat man durch Abwechslung und Übertreiben, den gebildeteren durch ein Art Honettetät zum besten … Was ich unter diesen Aspekten von Ihrem Theater hoffe, es mag dirigieren wer will, können Sie denken.« Und an anderer Stelle schreibt er, gleichfalls an Reichardt: »Ich schreibe jetzt wieder ein paar Stücke, die sie nicht aufführen werden, es hat aber nichts zu sagen: ich erreiche doch meinen Zweck durch den Druck, indem ich gewiß bin, mich auf diesem Wege mit dem denkenden Teil meiner Nation zu unterhalten, der doch auch nicht klein ist.«

»Mit dem denkenden Teil meiner Nation« … Das klingt getroster. Diese Stimmung trostvoller Resignation gilt von nun ab für Goethes stille, aber weite, tiefe und feine Lebensarbeit.

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