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Eine Landkutschen-Geschichte.
Ich tret' ihm in den Weg, und sollt' es mich vernichten. |
Hamlet. |
Es war ein regnerischer Sonntag in dem düstern Monat November. Auf meiner Reise hatte mich eine leichte Unpäßlichkeit befallen, von der ich mich allmählig wieder erholte; allein ich fühlte noch immer ein wenig Fieber, und war genöthigt, den ganzen Tag in einem Gasthofe in der kleinen Stadt Derby das Zimmer zu hüten. Ein nasser Sonntag, in einem Gasthofe auf dem Lande! Wer je das Glück gehabt hat, eine ähnliche Erfahrung zu machen, kann allein von meiner Lage urtheilen. Der Regen schlug gegen die Scheiben; die Glocken läuteten mit trübseligem Klange zur Kirche. Ich ging ans Fenster, um irgend etwas zu suchen, welches das Auge unterhalten könnte; allein es schien, als ob ich mich gänzlich außerhalb der Sphäre der Unterhaltung befände. Die Fenster meines Schlafzimmers gingen auf Ziegeldächer und Schornsteine, während ich aus denen meines Wohnzimmers eine freie Aussicht auf den Stallhof hatte. Ich kenne nichts, das einem Menschen die Welt so verleiden könnte, als ein Stallhof an einem regnerischen Tage. Dieser Hof war mit nassem Stroh bedeckt, das von Reisenden und Stalljungen umhergetreten war. In einer Ecke war ein stehender Wasserpfuhl, der eine Insel von Mist umgab; da waren mehrere halbersäufte Hühner, welche sich unter einen Karren zusammengedrängt hatten, und unter ihnen war auch ein elender, trauriger Hahn, der über den Regen alles Leben und allen Muth verloren hatte: sein herabhängender Schweif war gleichsam in Eine Feder zusammengeklebt, an welcher das Wasser von seinem Rücken herablief; neben dem Karren stand eine halb schlafende Kuh, wiederkäuend, und sich ruhig beregnen lassend, mit Wolken von Dampf, die von der rauchenden Haut aufstiegen; ein glasäugiges Pferd, der Einsamkeit des Stalles müde, steckte seinen gespenstischen Kopf zu einem Fenster heraus, während der Regen von den Dachrinnen darauf herabtröpfelte; ein unglücklicher Hofhund, an das dicht dabeistehende Hundehaus angekettet, stieß von Zeit zu Zeit einen der zwischen Gebelle und Geschrei mitten inne liegenden Laute aus; eine schmutzige Küchenmagd trottete, auf Kothschuhen, in dem Hofe hin und her, und sah so finster wie das Wetter selbst aus; kurz, Alles war trostlos und trübselig, ausgenommen ein Volk eifrig saufender Enten, wie lustige Gesellen um einen Pfuhl versammelt und einen heillosen Lärm bei ihrem Getränke machend.
Ich war einsam und mißmuthig, und wünschte Unterhaltung. Mein Zimmer ward mir bald unleidlich. Ich verließ es, und suchte die sogenannte Stube der Reisenden. Dieß ist ein gemeinsames Zimmer, welches sich in den meisten Wirthshäusern eigends für eine Klasse von Gästen eingerichtet findet, die man Handels-Reisende oder Musterreiter nennt; eine Art von irrenden Rittern, welche unaufhörlich das Königreich in Gigs, zu Pferde oder auf der Landkutsche durchstreifen. Sie sind die einzigen, mir heut zu Tage bekannt gewordenen, Nachfolger der alten irrenden Ritter. Sie führen dieselbe Art fahrenden abenteuerlichen Lebens, wie jene, nur daß sie die Lanze gegen eine Fahrpeitsche, den Schild gegen eine Musterkarte, und den Panzer gegen einen Reise-Oberrock vertauscht haben. Statt die Reize unvergleichlicher Schönheit zu verfechten, streifen sie umher, den Ruhm und die Solidität irgend eines gewichtigen Kaufmannes oder Manufacturisten heraus zu streichen, und sind zu jeder Zeit bereit, in seinem Namen einen Handel abzuschließen, da es heutigen Tages Mode ist, mit einander zu handeln, statt zu fechten. So wie in den guten alten Kampfzeiten die Gaststube der Herberge des Abends mit den Waffen ermüdeter Krieger, als Panzerhemden, Schwertern und offenen Helmen geziert gewesen sein würde; so hängen in dem Zimmer der Reisenden die Geräthschaften ihrer Nachfolger, Reise-Oberröcke, Peitschen aller Art, Sporen, Gamaschen und Hüte, mit Wachstuch überzogen, bunt umher.
Ich hoffte, einige dieser ehrbaren Herrn zu finden, um mich mit ihnen zu unterhalten, ward aber getäuscht. Es waren allerdings zwei oder drei im Zimmer; ich konnte indeß nichts mit ihnen anfangen. Einer war so eben mit seinem Frühstück fertig geworden, zankte über sein Brod und die Butter, und schalt den Aufwärter; ein anderer knöpfte sich ein Paar Gamaschen an und fluchte dabei nicht wenig auf den Hausknecht, daß er seine Schuhe nicht ordentlich gereinigt habe; ein dritter saß da, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und sah dem Regen zu, wie er an der Fensterscheibe hinunterlief; sie alle schienen vom Wetter angesteckt, und verschwanden, einer nach dem andern, ohne ein Wort gewechselt zu haben.
Ich schlenderte zum Fenster hin und stand da, die Leute betrachtend, wie sie sich ihren Weg zur Kirche auf den Steinen aussuchten, dabei die Röcke bis auf die Mitte der Wade aufhoben und triefende Regenschirme trugen. Die Glocke hörte auf zu tönen, und die Straßen wurden still. Ich beschäftigte mich nun damit, die Töchter eines gegenüberwohnenden Handwerkers zu beobachten; da sie, aus Furcht ihren Sonntagsstaat zu verderben, in das Hans gebannt waren, ließen sie ihre Reize an den Vorderfenstern des Hauses sehen, um die zufälligen Bewohner des Gasthofes damit zu bezaubern. Sie wurden jedoch endlich von einer wachsamen, essigsauer aussehenden Mutter hinweggerufen, und ich hatte von außen nichts weiter, womit ich mich hätte unterhalten können.
Was sollte ich nun thun, um den lieben langen Tag hinzubringen? Ich war gewaltig nervenschwach und fühlte mich einsam; und alles in einem Gasthofe scheint darauf berechnet zu sein, einen langweiligen Tag noch zehnmal langweiliger zu machen. Alte Zeitungen, nach Bier und Tabak riechend, und die ich schon ein halbes Dutzend Male gelesen hatte. – Nichtsnutze Bücher, noch schlechter, als das Regenwetter! Ich langweilte mich zu Tode bei einem alten Bande des Damen-Magazins. Ich las alle an die Scheiben gekritzelte gewöhnliche Namen ehrgeiziger Reisender; die ewigen Familien der Smiths und Browns, und Jacksons und Johnsons, und aller anderen Söhne, und entzifferte mehrere Bruchstücke von langweiliger Gasthofsfensterpoesie, die ich in allen Theilen der Welt gefunden habe.
Der Tag blieb trüb und düster; die schmutzigen, zerrissenen, schwammigen Wolken zogen schwerfällig entlang; selbst der Regen war einförmig; es war ein langweiliges, fortdauerndes, eintöniges Plätschern – Plätschern – Plätschern, außer daß zuweilen das Rasseln der Tropfen auf den Schirm eines Vorübergehenden den belebenden Gedanken an einen stärkern Schauer erweckte.
Es war (um mich einer Modephrase zu bedienen) ordentlich eine Erquickung, als im Verlaufe des Morgens endlich ein Horn ertönte und eine Landkutsche die Straße herunterrollte, die Außenseite ganz mit Passagieren bespickt, welche, unter baumwollene Regenschirme zusammengekauert, Einer neben dem Andern schmorten, und von den Dämpfen nasser Ueberröcke und Mäntel rauchten.
Der Ton des Horns brachte eine Menge herumtreibender Jungen und herumtreibender Hunde aus ihren Schlupfwinkeln hervor, so wie den rothköpfigen Stallknecht, das namenlose Thier, Boots genannt, und all das übrige nichtsnutze Gesindel, das in der Umgegend eines Gasthofes zu finden ist. Das dadurch entstandene Leben war aber vorübergehend; die Kutsche rollte wieder ihren Weg fort; und Jungen und Hunde, Stallknecht und Boots, Alles kroch wieder in seine Höhlen; die Straße ward wieder still, und der Regen fiel nach wie vor. Es war auch wirklich keine Hoffnung, daß es sich aufklären würde, der Barometer stand auf Regenwetter; der Wirthin schildkrötenschalfarbige Katze saß bei dem Feuer, wusch sich das Gesicht, und strich sich mit den Pfoten über die Ohren; und, als ich in den Kalender sah, fand ich eine böse Prophezeihung, die, von einem Ende des Monats bis zum andern, die ganze Seite hinunterging, und lautete:
»Erwartet – viel – Regen – zu – dieser – Zeit!«
Ich ward gewaltig trübsinnig. Die Stunden schienen gar nicht vorüberschleichen zu wollen. Selbst das Ticken der Uhr ward ärgerlich. Endlich ward die Stille im Hause durch den Klang einer Glocke unterbrochen. Kurz nachher hörte ich die Stimme des Aufwärters an der Schenke: »der dicke Herr, in Nr. 13 will sein Frühstück haben. Thee und Brod und Butter, mit Schinken und Eiern; die Eier nicht zu hart gesotten.«
In einer Lage, gleich der meinigen, wird jede Begebenheit wichtig. Hier bot sich meinem Geiste ein Gegenstand der Forschung, und meiner Einbildungskraft freier Spielraum dar. Wäre des Gasts von oben als eines Herrn Smith, oder Herrn Brown, oder Herrn Jackson, oder Herrn Johnson, oder kurzweg als des Herrn in Nr. 13 gedacht worden, so wäre weiter nichts damit zu machen gewesen. Ich hätte nichts dabei gedacht; aber »der dicke Herr!« – schon der Name hatte etwas Malerisches. Dieß gab sogleich den Maßstab; ich verkörperte mir den Mann vor den Augen meines Geistes, und meine Einbildungskraft that das Uebrige.
Er war dick, oder, wie Einige es nennen, stark; ganz wahrscheinlich also bei Jahren, da manche Leute mehr Umfang gewinnen, wenn sie alt werden. Nach seinem etwas späten Frühstücken, und zwar auf seinem Zimmer, mußte es ein Mann sein, der nach seiner Bequemlichkeit zu leben gewohnt und über die Nothwendigkeit des frühen Aufstehens hinaus war; ohne Zweifel also ein runder, roth aussehender, starker, alter Herr.
Es wurde abermals heftig geklingelt. Der dicke Herr verlangte ungeduldig nach seinem Frühstücke. Er war offenbar ein Mann von Bedeutung; »der es sich in der Welt wohl sein ließ,« gewohnt, schnell bedient zu werden; von starkem Appetit und ein wenig verdrießlich, wenn ihn hungerte: »vielleicht,« dachte ich, »ist es ein Alderman von London, oder, wer weiß, ob es nicht gar ein Parlamentsmitglied ist?«
Das Frühstück ward hinaufgeschickt, und es blieb eine kurze Zeit ruhig; wahrscheinlich machte er nun den Thee. Plötzlich ward wieder heftig geklingelt, und ehe jemand kommen konnte, abermals und heftiger. »Mein Himmel! was für ein jähzorniger alter Herr!« Der Aufwärter kam sehr verdrießlich herunter. Die Butter war alt, die Eier waren zu hart, der Schinken zu salzig: – der alte Herr war sichtlich eigen bei seinem Essen, Einer von Denen, die essen und brummen, den Aufwärter beständig auf den Füßen erhalten, und mit dem ganzen Hausstande auf dem Kriegsfuße stehen.
Die Wirthin gerieth in Aerger. Ich muß bemerken, daß sie eine lebhafte, kokette Frau war, ein wenig böse und ein wenig schlampig, aber dennoch sehr hübsch; sie hatte einen Tropf zum Manne, wie böse Weiber gewöhnlich haben. Sie schalt die Leute tüchtig aus, daß sie ein so schlechtes Frühstück hinaufgeschickt, sagte aber nicht ein Wort gegen den dicken Herrn; woraus ich deutlich sah, daß er ein Mann von Bedeutung sein müsse, berechtigt, in einem Wirthshause auf dem Lande Lärm und viel zu schaffen zu machen. Andere Eier und Schinken und Brod und Butter wurden hinaufgeschickt. Dieses schien besser aufgenommen zu werden; wenigstens hörte man keine Klage weiter.
Ich war noch nicht oft in der Reisestube auf- und abgegangen, als ich abermals klingeln hörte. Kurz nachher ward im Hause hin und her gelaufen und gesucht. Der dicke Herr wollte die Times oder das Morning Chronicle haben. Ich dachte mir also, er müsse ein Whig, oder vielmehr, nach seiner Art, entscheidend und befehlshaberisch zu sein, wo er es sein konnte, ein Radical sein. Ich hatte gehört, Hunt sei ein starker Mann: »wer weiß,« sagte ich zu mir »ob es nicht gar Hunt selbst ist?«
Meine Neugierde begann zu erwachen. Ich fragte den Aufwärter, wer der dicke Herr sei, der alle diese Bewegung verursache; aber ich konnte nichts erfahren: Niemand schien seinen Namen zu wissen. Die Wirthe vielbesuchter Gasthöfe kümmern sich selten um die Namen oder Beschäftigungen ihrer durchreisenden Gäste. Die Farbe des Rocks, die Gestalt oder Statur des Mannes reichen hin, den Reisenamen herzugeben. Es ist entweder: der große Herr, oder der kleine Herr, oder der schwarze Herr, oder der braune Herr, oder, wie in dem gegenwärtigen Falle, der dicke Herr. Wenn sich einmal eine solche Benennung gebildet hat, reicht diese für Alles aus und überhebt der Mühe einer genauern Nachfrage.
Regen – Regen – Regen! unbarmherziger, unaufhörlicher Regen! Da war an kein Ausgehen zu denken, und zu Haus keine Beschäftigung oder Unterhaltung. Von Zeit zu Zeit hörte ich jemand über meinem Kopfe gehen. Es war in des dicken Herrn Zimmer. Nach der Schwere seiner Tritte war er offenbar ein starker Mann, und ein alter Mann, weil seine Schuhsohlen so knarrten. »Offenbar ist er,« dachte ich, »ein alter, reicher Sonderling von sehr regelmäßiger Lebensart, und macht sich jetzt nach dem Frühstück eine Bewegung.«
Ich las nun alle Ankündigungen von Kutschen und Gasthöfen, die um den Kamin gesteckt waren. Das Damen-Magazin war mir zuwider geworden; es war so langweilig, als das Wetter. Ich ging, da ich nicht wußte, was ich thun sollte, hinaus und stieg wieder in mein Zimmer hinauf. Ich war noch nicht lange hier, als ich in einem Schlafzimmer in der Nähe Lärm hörte. Eine Thüre öffnete sich und ward heftig zugeworfen; ein Hausmädchen, deren frisches freundliches Aussehn mir aufgefallen war, ging in heftigem Ingrimm die Treppe hinab. Der dicke Herr war unartig gegen sie gewesen!
Dieß Ereigniß jagte eine ganze Schaar meiner Folgerungen in einem Augenblicke zum Henker. Der Unbekannte konnte kein alter Herr sein: denn alte Herren sind gewöhnlich gegen die Hausmädchen nicht so ungezogen. Er konnte kein junger Herr sein: denn junge Herren machen wohl nicht so unwillig. Er mußte ein Mann von mittleren Jahren sein, und dazu verwünscht häßlich, sonst würde das Mädchen die Sache nicht so grimmig übel genommen haben. Ich gestehe, daß ich nicht wußte, woran ich war.
Nach einigen Minuten hörte ich die Stimme der Wirthin. Ich sah sie auf einen Augenblick, als sie die Treppe hinauftrappelte; ihr Gesicht glühte, die Haube war los, und ihre Zunge war immer in Bewegung. »Sie wolle solche Wirthschaft nicht im Hause haben, dafür bürge sie! Wenn die Herren ihr Geld darauf gehen ließen, so gebe das doch kein Recht dazu. Sie würde es nicht leiden, daß ihre Mädchen in dieser Weise behandelt würden, wenn sie ihre Arbeit thäten, das wär's, was sie nicht wollte!«
Da ich alles Zanken hasse, vorzüglich von Frauen, und, noch dazu, von hübschen Frauen, schlich ich in mein Zimmer zurück und machte die Thüre halb zu; allein meine Neugierde war zu sehr erregt, als daß ich nicht hätte horchen sollen. Die Wirthin marschirte unerschrocken auf die feindliche Festung zu, und drang mit Sturm ein; die Thür schloß sich hinter ihr. Ich hörte ihre Stimme einen oder zwei Augenblicke in lautem, scheltenden Tone. Dann ward sie allmählig gemäßigter, wie ein Windstoß in einer Dachstube; dann hörte ich ein Lachen; dann hörte ich nichts mehr.
Nach einer kleinen Weile kam die Wirthin mit einem seltsamen Lächeln in ihrem Gesichte wieder heraus, und setzte sich ihre Haube zurecht, die sich ein wenig auf die eine Seite verschoben hatte. Als sie die Treppe hinunter kam, hörte ich, wie der Wirth sie fragte, was es denn gäbe; sie antwortete: »Ganz und gar nichts; das Mädchen ist eine Närrin.« Jetzt wußte ich noch weniger, als vorher, was ich aus dieser unerklärlichen Person machen sollte, die ein freundliches Hausmädchen in Zorn und eine böse Wirthin zum Lachen bringen konnte. Er konnte doch nicht so alt, so mürrisch, noch auch so häßlich sein.
Ich mußte mich nun von Neuem an sein Gemälde machen, und ihn wieder ganz anders malen. Ich dachte mir ihn jetzt, als Einen von den wohlbeleibten Herren, die man so häufig an den Thüren von Gasthöfen auf dem Lande herumstolziren sieht. Nasse, fröhliche Bursche, mit gewürfelten Halstüchern, und die durch Bier einen noch größeren Umfang erhalten haben; Leute, die sich in der Welt umgesehen und in Highgate geschworen habenNämlich: nie die Magd zu küssen, wenn sie die Frau küssen könnten, nie dünnes Bier zu trinken, wenn sie starkes hätten u. s. w. Ein nun abgekommener Scherz. – Anm. des Verf.; die an das Schenkenleben gewohnt sind, alle Kniffe der Küfer kennen, und wissen, wie es die gottlosen Gastwirthe machen. Sie leben groß auf kleinem Fuß, sind verschwenderisch, wenn es nicht über eine Guinee geht, nennen alle Aufwärter bei Namen, zerren die Mägde umher, plaudern mit der Wirthin an der Schenke, und schwatzen bei einer Pinte Portwein oder bei einem Glase Negus, nach dem Mittagsessen.
Der Morgen ging mit diesen und ähnlichen Hirngespinsten vorüber. So stark ich mir auch ein Glaubenssystem zusammengestellt hatte, so stürzte eine Bewegung des Unbekannten es wieder gänzlich zusammen und brachte alle meine Gedanken abermals in Verwirrung. So sind die einsamen Phantasieen eines Fieberkranken. Ich war, wie ich gesagt habe, sehr nervenschwach; und das fortdauernde Nachdenken über das, was den Unsichtbaren anging, fing an zu wirken; ich bekam einen Anfall von fieberhafter Unruhe.
Die Essenszeit kam. Ich hoffte, der dicke Herr würde in der Stube der Reisenden essen, und ich ihn nun endlich zu Gesicht bekommen; doch nein – er ließ sich das Essen auf sein Zimmer bringen. Was bedeutete nun aber diese Einsamkeit und dieß geheimnißvolle Wesen? Er konnte kein Radical sein; es lag etwas zu Aristokratisches darin, daß er sich von der übrigen Welt absonderte und sich einen ganzen regnerischen Tag seiner eigenen langweiligen Gesellschaft anheim gab. Und dann lebte er auch zu gut für einen unzufriedenen Politiker. Er schien sich an einer Menge von Schüsseln gütlich zu thun, und wie ein fröhlicher Lebemann bei seiner Flasche zu sitzen. Wirklich, meine Zweifel über dieß letzte Kapitel wurden bald gelöst; denn er konnte noch nicht seine erste Flasche geleert haben, als ich ihn leise ein Lied brummen hörte; und als ich lauschte, fand ich, daß es »God save the King« war. Es war also klar, daß er kein Radical, sondern ein treuer Unterthan war, einer, der bei seiner Flasche loyal wurde, und bereit war, sich für den König und die Verfassung zu stellen, wenn er sich auch sonst nicht mehr stellen konnte. Aber wer konnte er sein? Meine Vermuthungen fingen an, in's Blaue hinauszuschweifen. War er nicht vielleicht ein Mann von Bedeutung, der incognito reiste? »Gott weiß es,« sagte ich zu mir, als mir gar nichts mehr übrig blieb; »es ist vielleicht gar Einer aus der königlichen Familie, denn die sind Alle starke Herrn!«
Das Wetter blieb regnerisch. Der geheimnißvolle Unbekannte blieb in seinem Zimmer, und so viel ich beurtheilen konnte, auf seinem Stuhl, denn ich hörte nicht, daß er sich bewegte. Mittlerweile, wie der Tag vorrückte, füllte sich die Stube der Reisenden immer mehr. Einige neue Ankömmlinge traten, bis oben zugeknöpft in ihre Oberröcke, ein; Andere, die in der Stadt umher gewesen waren, kamen nach Hause. Einige aßen zu Mittag, Andere tranken ihren Thee. Wäre ich in einer andern Laune gewesen, so würde mir es Unterhaltung gewährt haben, diese besondere Klasse von Leuten zu beobachten. Es waren vorzüglich zwei Bursche darunter, die regelmäßige Straßenlagerer und mit allen den hergebrachten Scherzen der Reisenden vollkommen vertraut waren. Sie hatten dem aufwartenden Dienstmädchen tausend närrische Dinge zu sagen, nannten sie bald Louise, und Ethelinde, und mit einem Dutzend anderer schöner Namen, jedesmal bei einem andern, und lachten dabei unmäßig über ihre Neckerei. Ich hatte meine Aufmerksamkeit jedoch einzig und allein auf den dicken Herrn gerichtet. Er hatte meine Einbildungskraft einen ganzen Tag über auf der Jagd umhergetrieben und diese ließ sich jetzt nicht mehr von der Spur abbringen.
Der Abend ging nach und nach vorüber. Die Reisenden lasen die Zeitungen zwei- oder dreimal durch. Einige sammelten sich um das Feuer und erzählten lange Geschichten von ihren Pferden, ihren Abenteuern, ihrem Umwerfen und Zusammenbrechen. Sie besprachen den Credit verschiedener Kaufleute und den Ruf mehrerer Gasthöfe; und die beiden Schälke erzählten mehrere auserlesene Anecdoten von hübschen Hausmädchen und gefälligen Wirthinnen. Alles dieß ging vor, während sie ruhig zu sich nahmen, was sie ihre Nachtmützen nannten, das heißt, große Gläser mit Branntwein, Wasser mit Zucker oder irgend eine andere Mischung der Art, worauf sie, Einer nach dem Andern, nach dem »Boots« und dem Hausmädchen klingelten, und in alten Schuhen, die zu wunderbar unbequemen Pantoffeln verschnitten worden waren, nach ihren Schlafzimmern wanderten.
Nur noch ein Mann blieb übrig; ein kurzbeiniger, langleibiger, vollblütiger Gesell, mit einem sehr breiten semmelblonden Kopfe. Er saß allein bei einem Glase Portwein-Negus; nippte und rührte mit dem Löffel, und sann und nippte, bis nichts mehr übrig war als der Löffel. Er schlief allmählig kerzengerade auf seinem Stuhle ein, mit dem leeren Glase vor sich, und das Licht schien ebenfalls einzuschlafen, denn der Docht wurde lang und schwarz, bog sich um, und verdunkelte das wenige Licht, das noch in der Stube war. Die Düsterkeit, welche nun vorherrschte, war ansteckend. Rundum hingen die gestaltlosen, beinahe geisterähnlichen Oberröcke der dahingegangenen Reisenden, die schon lange in tiefem Schlaf begraben lagen. Ich hörte nur das Ticken der Uhr, das tiefe Aufathmen des schlafenden Zechers, und das Träufeln der Regentropfen auf den Dachrinnen des Hauses. Die Thurmuhren schlugen Mitternacht. Auf einmal fing der dicke Herr über meinem Kopfe zu gehen an und schritt langsam auf und nieder. In allem diesem lag etwas ungemein Grausenhaftes, vorzüglich für Jemand, der sich in dem Nervenzustande befand, wie ich. Diese gespenstischen Oberröcke, diese tiefen Gurgeltöne, und die knarrenden Fußtritte des geheimnißvollen Wesens! Seine Tritte wurden schwächer und schwächer, und verhallten endlich ganz. Ich konnte es nicht länger ertragen. Ich wurde in die Verzweiflung eines Romanhelden hinauf geschraubt. »Sei er, wer oder was er wolle,« sagte ich zu mir selbst, »ich muß ihn sehen!« Ich nahm einen Nachtleuchter und eilte nach Nr. 13 hinauf. Die Thür war angelehnt. Ich zauderte – ich trat hinein; das Zimmer war verlassen. Ein großer geräumiger Armstuhl stand neben dem Tische, auf welchem ein leeres Bierglas und ein Stück der Times zu sehen war, und das Zimmer roch mächtig nach Stilton-Käse.
Der geheimnißvolle Fremde hatte sich offenbar nur so eben erst entfernt. Ich wanderte, schmerzlich getäuscht, nach meinem Zimmer zurück, welches man mir jetzt nach vorne heraus angewiesen hatte. Als ich den Gang hinunterging, sah ich ein Paar große Stiefeln, mit schmutzigen gewichsten Klappen, welche an der Thür eines Schlafzimmers standen. Ohne Zweifel gehörten sie dem Unbekannten; allein es ging doch nicht an, ein so furchtbares Wesen in seiner Höhle zu stören: er hätte ein Pistol, oder noch etwas Schlimmeres auf meinen Kopf abfeuern können. Ich ging also zu Bett, und lag die halbe Nacht in einem gewaltig angegriffenen Zustande; selbst wenn ich schlief, kamen mir noch im Traume der dicke Herr und seine gewichsten Klappen vor.
Ich schlief am andern Morgen ziemlich lange, und ward durch einigen Lärm und Unruhe im Hause erweckt, deren Veranlassung ich Anfangs nicht ergründen konnte, bis ich wacher werdend fand, daß eine Postkutsche von der Thür des Hauses abgehe. Auf einmal rief man unten herauf: »der Herr hat seinen Regenschirm vergessen! Seht nach des Herrn Regenschirm in Nr. 13!« Ich hörte sogleich ein Hausmädchen die Treppe heraufpoltern und eine kreischende Stimme antworten, als sie gelaufen kam: »hier ist er, hier ist des Herrn Regenschirm!«
Der geheimnißvolle Fremde war also im Begriff, fortzufahren. Dieß war der einzig mögliche Fall, ihn jemals kennen zu lernen. Ich sprang aus dem Bette, kroch nach dem Fenster, riß die Vorhänge auseinander, und bekam gerade noch den Rücken einer Person zu sehen, welche in den Kutschenschlag stieg. Die Schöße eines braunen Rocks gingen hinten auseinander und eröffneten mir die volle Aussicht auf die breite Scheibe eines Paars brauner Hosen. Der Schlag wurde geschlossen – »alles in Ordnung!« hieß es – die Kutsche rollte davon: – und das war Alles, was ich je von dem dicken Herrn gesehen habe.