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4. In unserem gelobten Lande

Die fremden Eroberinnen. – Kiyang in Sicht. – Verdächtige Gestalten. – Auf richtiger Fährte. – Nächtlicher Parademarsch um ein chinesisches Jericho. – Stürmisches Einlaßbegehren. – Nur kein Mißgesicht! – In der verwaisten Mission. – Banditenlos. – Die «Drahtlose» arbeitet fieberhaft. – Des heimkehrenden Missionärs Schrecken und sprachloses Staunen. – Der Stratege in der Franziskanerkutte. – Der Sturmangriff dank den Luxemburger Verbündeten glänzend abgeschlagen.


Während wir an jenem zehnten Februartage 1930 durch die glitzernden, rauschenden Wellen des Siangkiang dahinfuhren, da ahnte wohl keiner der vielen Reisenden, die oben auf dem Deck den Verfall des Handels, die erdrückenden Kriegssteuern, die Willkürherrschaft der Söldner, die vergangene und kommende schlechte Reisernte und dergleichen hochpolitische Fragen erörterten, daß die in ihrem Verschlag zusammengedrängten fremden Frauen, «mit großen Augen und Männerschuhen» und ungewohnter Tracht, wie man deren hierzulande noch nie gesehen, sich mit ganz anderer Politik, ja mit Eroberungsgedanken, beschäftigten.

Die fremden Eroberinnen.

Sie sahen allerdings wenig rauflustig aus, hatten auch keine Waffen, mit Ausnahme eines seltsamen Wehrgehenks am weißen Lendenstrick, bestehend aus einer großen Anzahl aufgereihter Kugeln, die sie oft nachdenklich durch die Finger gleiten ließen. Dazu noch auf der Brust ein kleines harmloses Kreuzchen ...

Das war alles, mehr sahen sie nicht.

Sie sahen nicht, daß darunter ein Herz schlug, opferwillig, liebewarm, für sie, die armen Chinesen, ein Herz, das nur einen Wunsch kannte, sie alle glücklich zu machen für Zeit und Ewigkeit.

Wohl mag es ihnen aufgefallen sein, wie diese «vornehmen Damen» ihnen freundlich zulächelten.

Sie mochten sich auch fragen, weshalb sie so häufig und so sehnsuchtsvoll durch die Luke spähten hinüber ans Land.

Hätten sie die Unterhaltung verstehen können, die im Kreise der Missionärinnen geführt wurde!

«Jetzt müssen wir wohl über die Grenze sein? Ist das schon unsere Mission?»

Es waren ja manche darunter, die schon mehr als drei Jahre vor dem verschlossenen Yungchow-Gebiet auf Einlaß gewartet, gehofft und gebangt hatten. –

Während die Provinzgrenzen eine scharfe, administrative und militärische Scheidewand bilden, die jedermann kennt, besonders die Räuber, welche wegen der hüben und drüben unabhängigen Polizeigewalt ihr Operationsgebiet am liebsten an Grenzknotenpunkte verlegen, so ahnte außer uns niemand, daß es auch eine kirchliche Karte von China gebe, mit einem eigenen, sich stets verengenden Grenzennetz, das sich bereits auf hundert Sprengel erstreckt, deren jeder eine Operationsbasis darstellt unter dem Oberkommando desjenigen, der gesagt: «Mir ist alle Gewalt gegeben ... Gehet hin und lehret alle Völker! ...» Diese Grenze interessierte uns heute allein. –

Kiyang in Sicht!

Am Nachmittag brachte unsere Malija mit einem zinnernen Topf kochenden Wassers die Nachricht: «Der Kapitän versichert, daß er noch heute abend vor Kiyang ankern werde.»

«Kiyang? Das ist ja schon tief in unserer Präfektur drinnen! ... Gott sei Dank! Die Grenzen Kanaans sind überschritten!» so hallte es jubelnd wider im Kreise der Schwestern.

Und Freude macht sich Luft. Lied um Lied wurde angestimmt, immer froher, immer begeisterter. Atmeten wir nicht schon Heimatluft?

Und als die Nacht sich niedersenkte, wie pochten da unsere Herzen, erwartungsvoll! – –

Vorbei waren alle Besorgnisse, überwunden alle Hemmnisse, vergessen alle Reisequalen: wir nahten unserm Ziel!

Wir spähten vorwärts ins Dunkle.

Endlich tauchen Lichter auf: es ist Kiyang, unser Kiyang!

Die Aufregung läßt sich denken. In wenigen Minuten sollten wir den schrecklichen Marterkasten verlassen, den Boden des Gelobten Landes betreten, in einem Missionskirchlein den Heiland begrüßen, in einem trauten Heim von unsern Strapazen ausruhen und sogar an einem sauberen, warmen Mahl uns erquicken. Es war zu schön!

Das Rollen der Schraube verstummt, langsam gleitet das Schiff uferwärts. Alle Fahrgäste drängen sich aufs Deck, Sack an Sack, Pack an Pack.

Wir hatten es weniger eilig, wollten den Menschenschwarm sich verziehen lassen, den P. Missionär an Bord begrüßen, seine Weisungen entgegennehmen. Er mußte ja für alles vorgesorgt haben.

Nicht weniger als drei Telegramme, dazu noch etliche Briefe, hatten unsere Ankunft vorausgemeldet.

Wir fürchteten nur, wir hätten des Guten zuviel getan, die ganze Mission aus Rand und Band gebracht, außergewöhnliche Kosten für die Empfangsfeierlichkeiten verursacht. – –

Horch! Schon knattern die festlichen Raketen! – –

Irrtum! – es war die Ankerkette, die klirrend niederrasselte.

Wir lagen fest.

Alles stürzte auf die Landungsplanke, zerstob nach allen Winden.

Jetzt ist der Steg frei: der Pater muß herüberkommen.

Der Pater kommt nicht! – – –

Er mag sich verspätet haben, es ist ja Nacht; «maen maendi! ...»

Niemand! –

Es wird einsam um uns her, einsam drüben am Strande.

Wir schauen uns verdutzt an.

Der Kapitän bedeutet uns, das Schiff fahre nicht weiter. Er wolle auch ruhen.

Unsere steigende Unruhe rührte ihn wenig.

Mehr Erfolg hatten ein paar Silberstücke. Er sandte einen Mann in die Stadt, die Mission von unserer Ankunft in Kenntnis zu setzen. Mittlerweile schafften wir unser Gepäck ans Ufer und warteten, warteten – und beteten, beteten ...

Verdächtige Gestalten!

Endlich kam der Bote zurück mit zwei landfremden Gesellen, die sich als Missionsdiener ausgaben. Der Missionär sei nicht daheim, sagten sie.

Ist es wahr?

Wir trauten der Sache nur halb. Es konnten geradesogut Strolche sein, die uns in einen Hinterhalt locken wollten.

P. Basil ging mit ihnen, um sich zu versichern.

Nach und nach hatten sich eine Anzahl Christen um die fremde Reisegruppe gesammelt, die sich erboten, unser Gepäck tragen zu helfen.

Bald bringt der Pater die Kunde, wir seien wenigstens auf der richtigen Fährte.

Im Scheine einiger Papierlaternen setzte sich die Karawane in Bewegung, mühsam die steilen Stufen hinauf, durch endlose, enge Gäßchen, voll Pfützen und Unrat. Der milde Mond erleuchtete freundlich die rauhen Pfade.

Nächtlicher Parademarsch um ein chinesisches «Jericho».

Wir zogen den Festungswällen entlang.

«Jetzt noch dieser nächtliche Parademarsch um Jericho herum!» seufzte mit bitter-süßem Humor eine wandermüde Schwester.

Endlich standen wir still – vor einem verschlossenen Tore! –

Was tun?

Wir hatten vor lauter Begeisterung uns heiser gesungen in Jubel- und Dankeshymnen. Kein Josue war da, uns zu einem mauererschütternden Kriegsgeschrei anzufeuern.

Stürmisches Einlaßbegehren! – Nur kein Mißgesicht!

Aber Gott half auch in dieser hochpeinlichen Verlegenheit. Wie weit die uns begleitenden Chinesen in der Bibel bewandert waren, kann ich nicht sagen. Aber jene Stelle «Klopfet an, und es wird euch aufgetan.» Matth,. 7, 7; Luk. 11, 9. betätigten sie so beharrlich, bis die Stadtwächter aus ihrem Schlummer aufgeschreckt wurden.

«Macht auf!»

«Es ist zu spät; kommt morgen früh!» knurrte es von innen.

– «Nein, ihr habt vor der Zeit geschlossen.»

– «So könnte jeder sagen!»

– «Eure Uhr geht vor. Es steht eine Anzahl europäischer Missionärinnen draußen, die haben bessere Uhren. Ihr werdet doch das ‹Gesicht nicht verlieren› wollen!»

Europäerinnen?? – Ein Mißgesicht geben? – Das schlug ein!

– «Ich will's dem Wachtmeister melden.»

Einige Minuten darauf knarrten die Schlüssel, und die schweren Tore öffneten sich sperrangelweit, trotz Mitternacht. Gern wurde mit etwas «silberner Schmiere» nachgeholfen.

Die Soldaten standen in Reih und Glied, mit Laternen bewaffnet, und gafften sich die Augen aus. Denn seit Hwangtis Hwangti, der «Gelbe Herrscher», ist der sagenhafte Stammvater und Gründer des chinesischen Reiches, der im dritten Jahrtausend vor Christus gelebt haben soll und heute noch als nationaler Schutzgott hoch in Ehren steht. grauen Tagen war noch nie ein solcher Zug in Kiyangs Mauern einmarschiert.

In der verwaisten Mission.

Am zweiten Tor kamen wir leichter vorbei.

Wir waren also in der Stadt, wo es jedenfalls sicherer war als drunten am Flusse. Aber in der Mission weilte weder der Heiland in Brotsgestalt, noch der Missionar in Menschengestalt. Enttäuschung auch hier! ...

Hätten wir auch ahnen können, daß alle unsere vorausgesandten Botschaften erst mehrere Tage nach uns an ihre Adresse gelangen würden?

siehe Bildunterschrifr

Meister Lungdse in Regentoilette

siehe Bildunterschrifr

Marschbereit zur Kamelien-Ernte

Mit unserm Wandergepäck konnten wir uns einigermaßen heimisch einrichten. Wir gedachten, am zweiten Morgen weiterzureisen und hatten uns durch die Boys der Mission die notwendigen Träger bestellen lassen. Aber ein heftiges Gewitter machte unsern Plan zunichte; erst gen Mittag erschienen von den Gedungenen ganze zwei Mann!

Uebrigens war uns eine kleine Erholungsrast wirklich notwendig.

Banditenlos!

Vor Langeweile bewahrten uns allerhand neuartige Zerstreuungen. Vom Fenster aus sahen wir einen Trupp Soldaten mit klingendem Spiel aufmarschieren. In ihrer Mitte waren einige aneinandergekettete Banditen, welche auf diese feierlich-schauerliche Weise stundenlang durch die Hauptstraßen der Stadt zur Hinrichtung abgeführt wurden, zum abschreckenden Beispiele. Diese Methode mag ja hierzulande einen gewissen erzieherischen Einfluß haben. Aber obwohl in letzter Zeit solche Szenen häufig vorkommen, und sogar abgeschlagene Köpfe öffentlich ausgestellt werden, so werden die rohen Instinkte nur wenig gebessert, und die Räuberzunft erhält doch immer wieder Zuwachs.

Die Drahtlose arbeitet fieberhaft!

Im Laufe des Tages erhielten wir verschiedene Besuche. Unsere Ankunft war in der ganzen Stadt und Umgegend als ein Ereignis bekannt geworden, dank den vielen unoffiziellen «Drahtlosen», die rascher, sicherer und billiger funktionierten, als die staatlichen Telegraphen- und Radiostationen. Die Christen – nicht bloß die getauften, sondern auch viele, die für ein paar Stunden aus Neugierde zu «Religionsfreunden» geworden, brachten uns kleine Geschenke, Obst, Zwieback usw. und baten, wir möchten uns hier ansiedeln, wo wir sicher wären und unsere ärztliche Kunst, von der sie sich Wunderdinge versprachen, großen Zuspruch finden würde.

Es wird hoffentlich einmal die Zeit kommen, daß auch hier Schwestern ihre Tätigkeit entfalten können. Wir hatten einstweilen eine andere Bestimmung.

Des Missionärs Schrecken und sprachloses Staunen!

Am Abend saßen wir noch spät zusammen beim Lampenschein und schmiedeten Reisepläne.

Plötzlich hallten vom Hofe her schwere Männerschritte. Polternd kamen sie näher, herauf in den ersten Stock. Es wurde uns etwas ungemütlich in dem großen, fremden Haus. Mit einem wuchtigen Ruck fährt die Tür auf, und davor steht ein stämmiger, bärtiger Europäer mit einem knorrigen Bergstock.

Wir erschraken. Er noch mehr.

Der Fremde war P. Vinzenz.

Stumm steht er da, an den Fleck gebannt ...

Endlich löst sich der Bann, er bringt ein erlösendes «Grüß Gott!» hervor.

In die Exerzitienstille von Fukiatsung war die Kunde gedrungen, daß Söldnerscharen das Siangtal heraufzögen und Kiyang besetzt hätten.

Aus Sorge um seine Mission hatte sich der Pater unverzüglich auf den Heimweg gemacht. Seine Angst steigerte sich, als er auf allen Wegen und Stegen Militär antraf.

Die Mission mußte wohl schon belegt sein, zumal das anstoßende Kleine Seminar wegen der Neujahrsferien leer stand. Er wußte, was das bedeutet!

Wir hatten selbst konstatieren können, wie chinesische Landsknechte hausen. In der Kirche hing nur noch der Rahmen der 4. Station. Die Fenster hatten mehr Scheiben aus Holz denn aus Glas, und so waren überall Spuren der Verwüstung und des Vandalismus.

Als nun der Missionar müde und abgehetzt herannahte und schon von weitem seine «leeren» Wohnräume hell erleuchtet sah, da erfaßte ihn Entsetzen: «Zu spät! Die Einquartierung war schon da! ...»

Und nun sieht er vor sich, statt der gefürchteten Soldateska, die längstersehnten Schwestern! – –

Der Lähmung des Schreckens folgte eine Lähmung der Freude, daher diese stumme lange Pause.

So hätte sich niemand die erste Begegnung in «unserer» Tiroler Präfektur ausgemalt!

Aber Ende gut, alles gut!

Wir waren jetzt umso herzlicher willkommen.

Der Stratege in der Franziskanerkutte.

Mit unserer Weiterreise am nächsten Tage war es freilich nichts mehr. Der Pater ließ uns einfach nicht ziehen. Wir müßten ihm unbedingt helfen, den für morgen bestimmt erwarteten Angriff auf die Mission abzuwehren.

Wir? hergelaufene, hilflose Nönnchen?! Nicht einmal mit den Geschossen unserer Malija konnten wir umgehen! ... Siehe oben IV, 2. S. 209.

Aber der Missionär beruhigte uns, unsere Rolle würde nicht allzuschwer sein.

Trotzdem mag diese und jene Mitschwester von der heldenmütigen Judith mit dem blutigen Holoferneskopfe oder der ritterlichen Jungfrau von Orléans geträumt haben ...

Der Sturmangriff abgeschlagen!

Am Morgen alles wie gewöhnlich.

Gegen Mittag sprach ein hoher Offizier vor, inspizierte den Ort und fand ihn vortrefflich geeignet für den Regimentsstab. Der Pater erwiderte, es wäre für ihn eine aufrichtige Freude gewesen, aber zu seinem Leidwesen könne er diesmal keine Offiziere aufnehmen. Es seien nämlich ganz unerwartet Gäste gekommen, hohe Gäste, «Siudau» Ordensfrauen, ja sogar in höchst eigener Person deren Generaloberin. Es wäre doch ein furchtbares Mißgesicht, nicht nur für ihn, sondern für ganz China, wenn er diese fremden Damen fortschicken müßte. Mit steigendem Interesse hörte der Offizier diese großen Titel.

«Aus welchem geehrten Lande sind sie?» fragte er verwundert.

«Aus dem mächtigen Reiche Luxemburg Lukwo!»

«Lu-Lu-Kwo??» – stotterte er verblüfft.

«Jawohl, aus Luxemburg!» – –

Lu-Kwo: – das war zuviel!

Die Ueberraschung steigerte sich zur Bewunderung, zur Ehrfurcht! ...

Luxemburg! – er hörte den berühmten Namen wohl zum erstenmal ...

Als Stabsoffizier einer modernen Armee mußte er die Kriegsgeschichte seines Landes kennen.

Aber so sehr er sich anstrengte, er erinnerte sich nicht, daß Lu-Kwos Panzergeschwader je Chinas Küsten beschossen, oder gar Besatzungstruppen gelandet. Also zählte Luxemburg wenigstens nicht zu den verhaßten Nationen, die durch ihre Militär- und Machtpolitik sein Vaterland mit Ausbeutung und Zerstückelung bedrohten!

In einer Gesandtschaft aus solchem Lande erblickte er im Gegenteil nur Ehre und Vorteil.

Vielleicht hoffte er insgeheim, durch Galanterie ein chinesisch-luxemburgisches Bündnis anzubahnen, zur Wahrung des asiatisch-europäischen Gleichgewichtes, sowie zum Schutze des Friedens in Ost und West, wie es unter Großmächten ja jetzt Mode ist ...

Als ihn der Pater vorbeiführte an der absichtlich offenstehenden Türe des Saales, wo die fremden Herrschaften beisammensaßen, geriet er ganz außer Fassung, stammelte einige Worte der Entschuldigung und grüßte uns mit dem feinsten militärischen Schneid. –

Der Sturm war glücklich abgeschlagen. Während ringsum alle Gebäude von Militär überfüllt waren, trat kein Soldat mehr über die Schwelle der Mission. So war der erste Luxemburger Sieg auf Chinas Boden! – – –

Am Nachmittag traf Pater Gilbert ein, der uns als wegeskundiger Führer an unser Ziel bringen sollte.

In aller Ruhe wurden die Vorkehrungen für diese letzte Etappe unserer Reise getroffen.


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