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8. Bei den Obdachlosen.

Ein heidnisches Zufluchtsheim. – Lebendig begraben. – Menschliches Elend in jeglicher Form. – Entsetzen allerwegen. – Wärter wohl, aber keine Pfleger. – Der barmherzige Samaritan und seine Helferinnen. – Tod, wo ist dein Sieg?


So interessant und schließlich auch trostvoll für uns der Besuch des städtischen Findelhauses auch gewesen, wir konnten doch nicht verhehlen, wie sehr uns das dort geschaute Elend zu Herzen ging.

Die Oberin lächelte und sagte, es sei für hiesige Verhältnisse noch ganz vorzüglich zu nennen. Sie würde uns aber morgen in eine andere Anstalt führen, wo wir vielleicht noch einige Ueberraschungen erleben könnten.

Wir hatten für diesen Besuch einen Korbvoll Orangen und Erdnüsse bereitgemacht, um sie im Asyl zu verteilen.

Sollte es wirklich noch etwas Aermeres geben? –

Wohl eine Stunde lang fuhren wir durch volkreiche Straßen, bis unsere Rickschas am Rande der Stadt in einen sehr schmutzigen Weg einbogen. Zur Linken lagen schöne Gebäude mit Anlagen und Gärten, dann auf einmal zur Rechten ein etwas abgelegener, umfangreicher Lehmbau mit der Inschrift: Zufluchtsheim für Obdachlose.

Wir traten durch das Tor in den Hof, der ungepflastert, voller Pfützen und Schlamm ist. An den Seiten reihen sich lange, niedere Hütten aneinander. Ein unförmiges Loch, das hie und da mit einem Fetzen behangen ist, versinnbildet die Türe; kleine Löcher in der Wand, wegen des stürmischen Winterwetters mit irgend einer Klappe oder einem Bündel notdürftig verstopft, ersetzen die Fenster. Den feuchten Boden überspannt ein Dach aus Lehm und Stroh.

Lebendig begraben!

Den Wänden entlang ziehen sich niedere Holzhürden mit einer dünnen Schicht halbvermoderten Strohes. Auf diesen Betten kauern und kugeln sich dicht gedrängt je etwa 30 Männer. Unser Auge durchdringt allmählich das düstere Dunkel. Welch ein Anblick! Aermliche, zerfetzte Decken, Kleiderreste, irgend etwas deckt die abgemagerten, schmutzigen Gestalten halbwegs zu, ohne sie zu erwärmen.

Wir sehen noch der Greuel genug: jauchige Wunden, fressende Geschwüre, häßliche Verstümmelungen ... Bisweilen deckt ein schmutziger Lappen oder ein Fetzen Papier die eitertriefende Höhle.

So liegen die Armen und stöhnen oder stieren stumpf und blöde vor sich hin. Einige Glücklichere kauern um ein offenes, rauchendes Feuerchen in irgend einer Ecke und wähnen sich zu wärmen.

Wir waren froh, als wir auf einige Augenblicke herauskamen an die frische Luft. Gegenüber, durch einen Zaun getrennt, sind ähnliche Behausungen für Frauen und Kinder, nur geht es hier lauter zu. Aber überall das gleiche Entsetzen.

So dehnt sich Hütte an Hütte, in langer Reihe. In einem Abteil sind die Blinden untergebracht. Wie sieht es da aus! – –

Dann folgen Einzelzellen, Zwingern gleich, ohne Türöffnung, mit einem kleinen vergitterten Loch: sie beherbergen Irrsinnige und Idioten. Da und dort erscheint ein fahles, verzerrtes Gesicht am Luftloch, oder es dringen tierische Laute aus der Tiefe des unheimlichen Gelasses.

Im Hintergrunde endlich liegen in einem engen Raum am Boden die Schwerkranken, die Sterbenden, wimmernd und in Todesröcheln ...

Wir kamen auch an der Küche vorbei – ein überdachter Raum, wo auf einem offenen Steinherd die Kochkessel stehen. Das Wasser wird nebenan aus einem Schacht gezogen. Dort im Hof hängt auch die «Wäsche», die jeder Kranke selbst besorgen muß. Daheim würde kein Lumpensammler solche Fetzen auch nur anrühren.

Heute war Vorabend von Neujahr, und da soll das Essen außergewöhnlich reichlich sein. Reis und Gemüse werden in Holzkübeln herumgetragen und jedem Insassen eine Schale davon herausgeschöpft. Täglich zweimal.

Wir schauten zu. Die einen können diese Kost nicht mehr essen. Ersatz gibt's nicht. Nur der Platz wird gewechselt: Uebersiedelung ins Lager der Schwerkranken, und dann in die Totenkammer.

Andere verschlingen ihre Portion mit Heißhunger. Wir beobachteten einen, der die zufällig verschütteten Reiskörnchen Stück für Stück aus dem Schlamm auflas.

Wärter wohl, aber keine Pfleger!

Hie und da ist wohl ein Wärter, eine Wärterin, aber nirgends ein Pfleger, ein Helfer zu sehen. Der ganze Dienst beschränkt sich auf Abfütterung der Lebenden – und Abtransport der Toten.

Der Oberwärter ist ein Christ, d. h. ein ehemaliger Kranker, der hier von den Schwestern geheilt und bekehrt wurde. Er und seine Kollegen sind nicht hartherzig, zeigen sogar große Geduld, aber was können sie mehr tun?

Grenzenlos ist das Elend, das hier in grausem Durcheinander und erschreckender Mannigfaltigkeit zusammengewürfelt ist: Arme, Krüppel, Sieche, verbrauchte und verfaulte Opfer des Lasters, moralischer Auswurf, Abfälle einer üppigen Heidenstadt in den schaurigsten Formen. Hier haben sie eine Zufluchtsstätte diese Obdachlosen, ein überdachtes Leidens- und Todeslager.

Wie ist erst das Lose derer, denen auch dieses letzte Dach noch fehlt?

Die Gründer dieses Heimes haben sicher ein gutes Werk getan. Ob aber je einer der Stadtväter oder Beamten den Mut aufbringt, die dumpfen Räume zu durchschreiten und das Todesröcheln zu hören, und festen Blickes den verzehrenden Schmerz und den brütenden Stumpfsinn oder den wühlenden Wurm der Verzweiflung aus der Nähe zu sehen? Und täte er es, wie wollte er helfen?

Wolkennebel machen die finstere Nacht nicht heller. Die Heidengötter sind eitel Dunst und Schemen, kalt und gefühllos.

Der barmherzige Samariter und seine Helferinnen.

Und doch, auch in diesen Ort des Jammers dringt ein milder Strahl vom Sonnenherzen des Heilandes, der leuchtet und erwärmt, heilt und erhebt.

Derselbe gerechte Gott, der über das hochmütige Jerusalem weinte und sein erschütterndes Wehe drohend über die geschminkten Puppen einer lüsternen Mode und die heuchlerischen Hüter des Laizismus erschallen läßt, neigt sich als barmherziger Samaritan über die reuigen Rahabs und die unglücklichen Verstoßenen Babylons (Ps. 86, 3).

Wie wohltuend wirkt es, daß die heidnische Stadtverwaltung den Schwestern volle Freiheit läßt, in diesen Asylen ihr Apostolat auszuüben, durch leibliche und geistige Barmherzigkeit das Los der Unglücklichen in etwa zu erleichtern. Denn hier, wo jeder weltliche Tröster versagt, ist das eigenste Ehrenfeld der christlichen Karitas, das ergiebigste Aehrenfeld der gottgesandten Schnitterin.

Kaum treten sie über die Schwelle, so heitern sich die Gesichter auf, die Blinden lauschen froh der wohlbekannten Stimme, hilfeheischend zeigen alle ihre Gebresten, klagen kindlich ihr Leid. Denn diese weißen Frauen sind die einzigen, die teilnahmsvoll sich zu ihnen neigen, mit milder Mutterhand die wüsten Wunden pflegen, mit linden lieben Worten Balsam in die Herzen träufeln und mit der Güte Allgewalt den Weg zur Seele suchen.

In diesen zerbrochenen Leibern, aus denen Ekel und Entsetzen starrt, sieht der Glaube unsterbliche Seelen, an denen Gottes Herzblut klebt, kostbarer als Gold und Perlen.

Seelen suchen sie, Seelen von Gott, für Gott.

Wenn auch wagenweise Sanitätsmaterial zur Verfügung stände, was nützte es? Kaum einer wird lebend das Asyl verlassen. Wo wollte er hin? Die leiblichen Liebesgaben und Linderungen sind nur ein winziger Tropfen Honig in einem Meer von Bitterkeit. Aber er kommt vom süßen Herzen Jesu, wirkt Wunder.

Wo wird das Wort des Heils so aufmerksam gehört wie hier, wo keine andere Lockung mehr den Sinn betört? Wie tröstlich klingt's, daß es einen Vater im Himmel gibt, der ihrer denkt, sie liebt, sie glücklich machen will, ewig, ewig: sie brauchen nur zu wollen! – – –

Und ob sie wollen! ...

Tod, wo ist dein Sieg?

Sie glauben gern an ihn, der liebend auch für sie gestorben, sehen sie ja seine Engel in Menschengestalt. Ein Hoffnungsstern zieht auf am Abendhimmel: der Tod wird zum Erlöser, sie sterben christlich froh. Nur eines bedauern sie immer wieder: «O, warum haben wir nicht früher von diesem Gott der Liebe gehört? Warum, warum?» –

Unsere Führerinnen ließen uns an jenem Abend die Ehre und Freude, sieben Sterbenden die hl. Taufe zu spenden, die jetzt wohl schon mit dem guten Schächer im Paradiese sind.

So endigte auch dieser Besuch, der uns krank gemacht von Weh und Mitleid, doch mit einer süßen Freude. – – –

Während wir durch die nächtlichen Straßen zurückfuhren, weilten meine Gedanken bei den «Obdachlosen». Und es war mir, als sähe ich aus jenen weggeworfenen Menschentrümmern wie aus strahlenden Edelsteinen die Mauern des himmlischen Jerusalems sich aufbauen. – Unwillkürlich flehte ich, daß der Herr mehr Bauleute aussenden möge, diese kostbaren Steine zu sammeln.

Und immer wieder tönte mir die Klage in den Ohren: «Warum hat man uns den Gott der Liebe so spät verkündet?» Und ich stellte mir selbst die andere Frage: Warum besitze ich das Glück des wahren Glaubens von Kindheit an, und warum werden so viele Millionen ihn nie kennen, nie? Warum sind der Missionäre noch so ungeheuer wenige? Warum? Warum? –


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