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Chinesisches Neujahr. – Des Küchengottes Neujahrsurlaub. – Der «geschmierte» Götze. – Neujahrsknödel – Des Chinesen Neujahrsfreuden und -Schmerzen. – Der chinesischen Räuber Hochsaison.
Fast könnte es scheinen, wir hätten über all dem Studium des Missionsbetriebs und der neuartigen Umwelt unser Reiseziel vergessen. Dem aber war nicht so. Wir ließen im Gegenteil kaum einen Tag vorübergehen, ohne nach einer Möglichkeit zur Weiterreise Ausschau zu halten, erlebten aber dabei allerhand Enttäuschungen und Geduldproben.
Erst bot uns Msgr. Palazzi seine eigene Dschunke an, die uns, günstiger Wind und Wasserstand vorausgesetzt, in etwa einer Woche bis ins Gebiet der Tiroler Patres bringen würde. Bei Windstille oder gar Gegenwind könnte es allerdings doppelt so lang und noch länger dauern ...
Diese Aussicht war wenig verlockend.
Die zwei amerikanischen Patres hatten gleich versucht, mit dem modernen Autobus voranzukommen, mußten aber wegen der Schneewehen schon nach wenigen Stunden umkehren. Ein zweiter Versuch endete gar mit einem Unfall, worauf das Benzinroß lendenlahm zurückhumpelte und sich einer längern Kur unterziehen mußte.
Für den Fall einer Schneeschmelze war die Autostraße, wenigstens für die ersten nassen Tage, keineswegs günstiger.
Wir waren daher entschlossen, die Fahrt auf einer Dschunke zu wagen und hatten schon eine solche in Augenschein genommen, die eben eine Ladung Kohlen herabgebracht hatte. Wenn auch mit geheimem Bangen und innerm Widerwillen, wären wir trotzdem bereit gewesen, uns am folgenden Tage in diesem schmutzigen Kasten einzunisten, um nur näher an unser Ziel zu gelangen.
Plötzlich aber lief die Nachricht durch die Stadt, die Truppen des Generals F... hätten eine schwere Schlappe erlitten und fluteten über Changsha zurück. In der Tat glich in jener Nacht und in den nächsten Tagen die Stadt einem Heerlager. Die südistischen Soldaten drängten flußaufwärts, wo viele von ihnen beheimatet waren. Ihnen war es jetzt nur darum zu tun, möglichst weit von den bösen «blauen Bohnen» wegzukommen, um irgendwo in aller Ruhe die besser mundenden Neujahrsknödel zu genießen.
Alle Fahrzeuge auf dem Flusse wurden samt ihrer Fracht beschlagnahmt und die Zivilisten, die ihnen im Wege waren, ans Ufer gesetzt, wenn ihnen nichts Schlimmeres widerfuhr.
Ein Glück, daß wir noch auf festem Boden waren! Für die nächsten Tage war jede Reisemöglichkeit abgeschnitten, schon allein wegen des herannahenden Jahreswechsels.
Daß man um Neujahr nicht reisen könne, mag in der Heimat unverständlich scheinen. Auch wir waren ob dieser Kunde höchlichst überrascht, zum nicht geringen Ergötzen der Missionsveteranen, die uns aber in aller Ruhe über diese eigentümliche Chinesensitte aufklärten.
Zwar hat die Republik schon in ihrem ersten Lebensjahre den Gregorianischen Kalender vorgeschrieben und seither als moderner Staat ihm im amtlichen Verkehr Geltung zu verschaffen gesucht. In den Verwaltungen und bei den Militärchefs, die jetzt Oberwasser haben, wird tatsächlich der 1. Januar als hoher Feiertag begangen.
Aber gerade das Neujahrsfest ist ein Exempel, an dem man erkennt, wie weit – oder wie wenig – die modernen Reformen ins Volk gedrungen sind, und wie langer Zeit es noch bedarf, bis die papierenen Gesetze auch zur Wirklichkeit werden.
Nach fast zwei Jahrzehnten besteht nämlich das althergebrachte Neujahr, wie soviele andere Volkssitten, trotz aller Regierungserlasse weiter, zwar nicht mehr im frühern Glanz und Umfange – weil die Staatshilfe fehlt – aber doch noch in beträchtlichem Maße.
Jahrtausendalte Gebräuche lassen sich nicht so ohne weiteres spurlos ausrotten oder ändern, namentlich im Patriarchenlande China nicht. Und das ist gewiß auch nicht immer zum schlechten.
Das altchinesische Kouo-nien, d. i. Jahreswechsel, das eine viel tiefer gehende Bedeutung hat als bei uns, besteht also weiter, besonders zäh auf dem Lande, wenigstens in seinen Grundzügen, die wir kurz anführen müssen.
Zunächst fällt es nie mit dem unsrigen zusammen, sondern stets auf den zweiten Neumond nach der Wintersonnenwende, wechselt also zwischen Mitte Januar und Mitte Februar. Da die Chinesen mit Mondjahren rechnen, die kürzer sind als die Sonnenjahre, so wird periodisch nicht bloß ein Schalt tag, sondern ein Schalt monat eingefügt, sodaß es Jahre gibt, die 13 Monde zählen, wobei z. B. der sechste Mond zweimal vorkommt.
Das «Kouo-nien» ist ein religiöses, nationales und Familienfest und dauerte ehemals einen vollen Monat, während welcher Zeit alle Amtsgeschäfte ruhten.
Religiös bedeutet es die Himmelfahrt des Familien- oder Herdgottes Zowang, der in jedem heidnischen Heim in einer Nische über der Feuerstätte zu thronen pflegt und als wachsamer Spion dem alten Tien-lau-ye, d. i. Himmelsgroßvater, Rechenschaft über das Tun und Treiben seiner Schützlinge abzustatten hat, worauf entsprechende Strafe oder Belohnung im neuen Jahr erfolgt.
Darum wird sein Bild acht Tage vor Neujahr im Familienhof feierlich verbrannt, nachdem man ihm Abbitte für alle Unehrerbietigkeit geleistet und ihn beschworen, er möge droben nur Gutes aussagen. Zu diesem Zwecke verschmieren die schlauen Chinesen seinen Mund mit einer klebrigen Sirupmasse. – – So kann gewiß nichts Bitteres über seine Lippen kommen!
Am Vorabend vor Neujahr wird der neue Schutzgott inthronisiert und mit Weihrauchstäbchen und Leckerbissen willkommen geheißen.
Die Entlassung und Wiederkehr des Hausgötzen geschieht mit vielem Zeremoniell und unter dem Abfeuern von Raketen, deren Getöse die um die Wohnungen lungernden feindlichen Kobolde verscheuchen soll.
Wachend wird die Mitternachtsstunde abgewartet. Dann beginnt das Gratulieren und das Schmausen.
Die früher üblichen Huldigungsbesuche der Beamten bei ihren Vorgesetzten bis hinauf zum Himmelssohn auf dem Drachenthron sind mitsamt ihrem gleißenden Flitter der republikanischen Gleichheit und Brüderlichkeit zum Opfer gefallen. Aber das Familienfest – eine Art feierliche Kirmes – das Verwandte und Freunde froh vereint, besteht weiter. Der erste Tag ist den eigenen Angehörigen gewidmet, vom zweiten Tage an werden Besuche gewechselt.
Alles ist im Feststaat, denn es ist die Saison der Geschenke, der neuen Toiletten und der Spiele. Sogar die gesetzlich verbotenen Hasardspiele sind auf einige Tage straffrei, wohl weil man annimmt, die Polizisten und Gendarmen müßten auch mal feiern können. – – –
Das Hauptvergnügen bildet natürlich das Nationalgericht der Fleischknödel. Es sind das kleine Teigplätzchen, die eine Fingerspitze voll stark gewürztes Hackfleisch umschließen, in kochendem Wasser gesotten und mit einer knoblauchreichen Essigtunke von alt und jung, reich und arm, genossen und jedem Besucher angeboten werden. Manche Arme sparen das ganze Jahr, nur um wenigstens an diesem Tage des traditionellen Festmahles nicht zu entbehren.
Während sonst der gewöhnliche Gruß und Gegengruß lautet: «Hast du gegessen?» – «Ich habe gegessen!» so heißt er zu Neujahr: «Hast du Fleischknödel gegessen?» usw. Außerdem wird unter guten Freunden hinzugefügt: «Fa tsä = Werde reich!» – – Nur der Sarghändler soll, wie es heißt, nicht mit diesem Segenswunsche beglückt werden, obwohl er just in jenen Schlemmertagen gute Geschäfte macht.
Für jeden Chinesen ist heute Geburtstag, denn er wird mit diesem Tag ein Jahr älter, sodaß ein Kind, das am chinesischen Sylvesterabend das Licht der Welt erblickt, am nächsten Neujahrsmorgen schon als zweijähriger Bürger gilt. – –
Aber auch wirtschaftlich hat das Neujahr seine große Bedeutung. Nicht nur, weil den Feiertagen ein reger Geschäftsumsatz vorausgeht, sondern weil nach alter Sitte am Jahresschluß alle Schulden bereinigt und geschäftliche Verbindlichkeiten für das folgende Jahr geregelt werden sollen.
Daher bringt diese Zeit nicht eitel Freude, sondern auch viel Sorge. Schon in den letzten 14 Tagen werden Abrechnungen gehalten; auf allen Wegen und Stegen begegnet man Leuten mit dem bekannten Zwilchsack über der Schulter.
Glücklich der Gläubiger, der Geld einzuziehen hat; weh aber dem armen Schlucker, der seine Schulden nicht abtragen kann! Da wird gar mancher zum Kommunisten und zieht es vor, mit dem Reichen zu teilen, statt zu zahlen und zu darben.
Das ist der Hauptgrund, weshalb in jenen Tagen das Reisen so gefährlich ist. Einerseits wird viel Geld hin- und hergetragen, sodaß die Berufsräuber Hochsaison haben, anderseits wird mancher aus Not zum Gelegenheitsdieb und Verbrecher.
Der Bürgerkrieg mit seinem Elend und der Zerrüttung der öffentlichen Gewalten hat diese Gefahren noch unendlich gesteigert. –
Obgleich also das alte Neujahr der Kaiserzeit arg verstümmelt und seines amtlichen Pompes entkleidet ist, so besteht es heute im Volke dennoch weiter in einer längern Reihe von Ruhe- und Feiertagen – den einzigen des sonntaglosen Jahres – und wird seine religiöse, häusliche und soziale Bedeutung wohl noch lange behaupten.
Die Christen – wie übrigens auch die amtlichen und fortschrittlichen Kreise – feiern auch den ersten Januar. Aber alle Versuche, das alte «Kouo-nien» mit all seinem Tingeltangel, auf diese Zeit zu verlegen, haben im Volke versagt, sodaß jetzt eigentlich zweimal gefeiert wird, was besonders die Missionsdiener sehr gewissenhaft halten, schon weil es zweimal Geschenke und Knödel gibt ...