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XXXII.

Mr. Lawrences Name war in Wall Street so gefürchtet und auch angesehen, daß Carrington dort großen Einfluß hatte. Der Privatsekretär war ein Mann von über fünfzig Jahren, kurz, bestimmt und gewissenhaft. Wäre er nicht fähig und begabt gewesen, so hätte er nie zu einem derartigen Posten aufsteigen können. Als jedoch Dan mit seiner Nachricht kam, verlor der Mann vollkommen die Fassung.

»Mr. Lawrence gefangen – entführt!« sagte er verstört. »Und ich soll eine Million Dollars zusammenbringen! Ich – ich – ach, das ist nicht auszudenken!«

Unglücklicherweise erschien in diesem Augenblick D. D. Beddington im Büro. Man konnte ihn nicht draußen warten lassen, aber auf keinen Fall durfte er etwas erfahren.

Dan sprang auf, ging ihm entgegen und begrüßte ihn. Dadurch hoffte er, die Aufmerksamkeit von Carrington abzulenken, der sich noch immer nicht fassen konnte.

»Ist Mr. Lawrence hier?« fragte Beddington und schaute sich neugierig überall um.

»Nein«, entgegnete Dan. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Ich weiß ja, daß er Sonnabends nie ins Büro kommt, aber ich las in der Zeitung, daß er geschäftlich in der Stadt zurückgehalten worden wäre.«

»Der Bericht der Zeitung stimmt nicht. Mr. Lawrence fühlte sich nicht ganz wohl, deshalb blieb er in der Stadt, aber er ist in seiner Wohnung.«

»Ist er krank?« fragte Beddington.

»Ach, es ist nichts Besonderes«, erklärte Dan. »Aber er wollte in der Stadt bleiben, um in der Nähe seines Hausarztes, Dr. Pulford, zu sein.«

»Kann ich ihn heute wohl noch sprechen? Wenn er doch nicht besonders krank ist?«

»Ich fürchte, das geht nicht. Er erledigt heute sowieso keine Geschäfte.«

Beddington verzog die Nase wie ein Terrier, der etwas wittert, dann sah er von Dan zu Carrington und wandte sich zum Gehen.

»Nun gut, wenn Sie ihn sehen, dann bestellen Sie ihm meine besten Empfehlungen.«

Er lächelte sonderbar bei diesen Worten.

Dan telephonierte kurz darauf an Dr. Pulford und sagte ihm, was er den Leuten erklären sollte, wenn man ihn nach der Gesundheit des Millionärs fragen sollte. Der Arzt war ein zuverlässiger Mann. Dan verständigte dann auch Reed, damit keine Überraschungen vorkommen konnten.

Inzwischen hatte Carrington sich etwas erholt, aber er sah noch bleich und angegriffen aus.

»Mr. Carrington, Sie müssen sich zusammenreißen«, drängte Dan. »Es kommt vor allem darauf an, keinen etwas ahnen zu lassen. Also Kopf hoch!«

»Ich – ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht«, stammelte der Sekretär.

Dan sorgte dafür, daß der Mann einen kräftigen Whisky trank, und als Carrington etwas Farbe bekam, gingen die beiden aus.

Whitey Morgan wartete an der Ecke des Hauses auf sie. Er stand ganz offen dort und machte nicht den geringsten Versuch, sich zu verbergen. Er folgte ihnen von einer Bank zur anderen, denn sie mußten an den verschiedensten Plätzen Gelder ziehen. An manchen Stellen nahmen sie Kurzfristanleihen auf. Als Sicherheit mußten sie Wertpapiere hinterlegen, und diese mußten wieder aus den Stahlkammern der verschiedenen Banken entnommen werden.

Mr. Lawrence hatte alles geschickt eingerichtet; keine einzige Geldentnahme war so groß, daß es hätte Aufsehen erregen können.

Bei Abwicklung all dieser Geschäfte mußten die beiden mehrfach zum Büro zurückkehren. Als sie um elf Uhr wieder dort eintrafen, kam die telephonische Nachricht von einer plötzlichen unerklärlichen Panik am Börsenmarkt. Die besten Papiere büßten zwei bis drei Punkte ein.

Nach ein paar Minuten erfuhren sie den wahren Grund: In Bankkreisen zirkulierten Gerüchte, daß Mr. Lawrence entführt sein sollte, und daß man ein ungeheures Lösegeld für ihn verlangte. Als Dan dies hörte, verließen ihn Energie und Tatkraft. Wie konnte das nur herausgekommen sein!

»Solche Ereignisse lassen sich nicht verheimlichen«, sagte Carrington verzweifelt.

»Wenn es uns nicht gelingt, diese Gerüchte aus der Welt zu bringen, ist Lawrences Schicksal besiegelt.«

»Aber wie könnten wir sie denn widerlegen? Sie sind doch wahr –« erwiderte Carrington entsetzt.

Die Hilflosigkeit dieses sonst so starken Mannes trieb Dan zu einer außergewöhnlichen Anstrengung.

»Das ist ganz gleich. Auf jeden Fall müssen wir etwas dagegen unternehmen«, erklärte er verbissen.

Dauernd kamen telephonische Anfragen nach dem Aufenthalt des Millionärs, und schließlich wurde ein zuverlässiger Mann an den Apparat gesetzt, der den Auftrag hatte, zu behaupten, Mr. Lawrence wäre in seinem Hause in der Fifth Avenue und litte an einem leichten Schwächeanfall.

Als einige Minuten später Extrablätter des »World Telegram« in den Straßen ausgerufen wurden, schien es zur Katastrophe zu kommen.

Nachdem Dan den Text gelesen hatte, war er nahe daran, den Kampf aufzugeben.

Zunächst wurden die verschiedenen Gerüchte berichtet, dann hieß es weiter:

»Um zehn Uhr fünfzehn heute morgen besuchte Mr. Daniel Woburn, einer der Sekretäre von Mr. Lawrence, unser Redaktionsbüro und bestätigte die Nachricht von dem Verschwinden seines Chefs. Mr. Lawrence suchte gestern abend wie gewöhnlich ungefähr um halb sieben in Begleitung von Mr. Woburn seine Jacht Iroquois auf. Er fühlte sich aber nicht ganz wohl und beschloß um acht Uhr, zu seinem Haus in der Stadt zurückzukehren, um seinen Arzt zu Rate zu ziehen.

Sie nahmen ein Taxi am Landungsplatz, Ende der Sechsundzwanzigsten Straße. Als sie bei der Kreuzung der Siebenundzwanzigsten Straße warten mußten, sprangen plötzlich vier Männer auf die Trittbretter des Wagens, zwei auf jeder Seite. Durch einen heftigen Schlag auf den Kopf wurde Mr. Woburn bewußtlos niedergestreckt und auf die Straße geschleudert. Als er wieder zu sich kam, war der Wagen mit Mr. Lawrence verschwunden, und Mr. Woburn konnte nicht einmal die Nummer nennen.

Familie und Geschäftsfreunde beschlossen zunächst, diese Tatsache zu verheimlichen, bis man eine Nachricht von den Entführern erhalten würde, da der Vorfall aber trotzdem bekannt wurde, ist es jetzt ihr Wunsch, die breite Öffentlichkeit zu verständigen. Mr. Woburn bat die Redaktion des ›World Telegram‹, hierbei mitzuwirken. Es wird dringend gewünscht und gehofft, daß Mr. Lawrence wieder wohl und gesund zu seinem Hause zurückkehren möchte.«

»Eine ganz infame Intrige! Dadurch wird es ja vollkommen unmöglich gemacht, ihn zu retten. Und wenn er die Geschichte hört, denkt er, ich hätte ihn betrogen!«

Dan sank in einen Stuhl und preßte den Kopf zwischen die Hände.

»Um Himmels willen, Woburn«, bat Carrington. »Sie dürfen jetzt nicht klein beigeben, alles hängt von Ihnen ab!«

Dan biß die Zähne in hilfloser Wut zusammen, griff nach dem Telephon und klingelte eine Redaktion nach der anderen an.

»Hier Daniel Woburn. Irgendein gemeiner Mensch war heute morgen bei Ihnen, und nicht nur bei Ihnen, sondern auch bei den anderen Redaktionen. Er hat sich als Daniel Woburn ausgegeben und das lächerliche Gerücht bestätigt, daß Mr. Lawrence entführt worden sein soll. Natürlich ist kein Wort davon wahr. Es sieht aber so aus, als ob jemand die Kurse drücken wollte. In diesem Augenblick befindet sich Mr. Lawrence wohl und gesund in seinem Haus in der Fifth Avenue. Ich bitte Sie, Ihren besten Berichterstatter dorthin zu schicken oder selbst zu kommen und sich von der Tatsache zu überzeugen.«

Dan selbst eilte dann im Auto zu der Wohnung, um Henry Waters und Reed Garvan auf das Interview vorzubereiten.

Henry wurde in Mr. Lawrences Schlafzimmer ins Bett gelegt, und Dr. Pulford wurde ebenfalls geholt. Dann wurden die Berichterstatter alle zu gleicher Zeit ins Zimmer gelassen, und die List gelang vollkommen.

Kurz nach zwölf Uhr wurden neue Extrablätter ausgegeben, und das »World Telegram« schrieb:

»Wir freuen uns, berichten zu können, daß die Geschichte von der Entführung des Millionärs Lawrence von Anfang bis zu Ende erfunden ist. Unglücklicherweise scheinen alle Redaktionen in der Stadt einem groben Unfug zum Opfer gefallen zu sein. Ein gutgekleideter junger Mann erschien heute morgen bei allen Schriftleitungen und stellte sich als Daniel Woburn, Sekretär von Mr. Lawrence, vor. Später rief uns der richtige Mr. Woburn an und stellte die Sache richtig. Er hatte Berichterstatter aller Zeitungen eingeladen, ins Haus von Mr. Lawrence zu kommen. Um elf Uhr zwanzig fand das Interview im Schlafzimmer statt. Der berühmte Finanzmann lag zu Bett, aber er lächelte und behandelte die ganze Sache scherzhaft. Alle hatten den Eindruck, daß er nicht ernstlich krank ist. Dr. Pulford, der wohlbekannte Arzt, war zugegen.«

Die Maßnahme hatte auch den gewünschten Erfolg: die Panik an der Börse wurde im Keim erstickt, die Aktien stiegen wieder. Dan atmete auf und machte sich mit Carrington wieder an die Arbeit, das Geld aufzutreiben.

Allerdings waren die Bankiers, die sie jetzt aufsuchten, hellhörig geworden, wenn sie Gelder auszahlen sollten. Aber in diesen Kreisen wurde Schweigen beobachtet, und als die Banken geschlossen wurden, war es Dan und Carrington gelungen, die volle Summe zu beschaffen.

Um ein Uhr kam von Seiten der Presse eine neue Überraschung, die wie ein Erdbeben wirkte und alle Bemühungen Dans zu zerstören drohte. Wieder wurden Extrablätter auf den Straßen ausgerufen, und alle Leute griffen gierig danach.

Die Zeitung »World Telegram« führte die kühnste Sprache:

»Es ist wahr, daß Mr. J. M. Lawrence entführt worden ist. Die Redaktion hat aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß der Mann, der heute morgen im Hause von Mr. Lawrence die Reporter sprach, nicht Mr. Lawrence selbst, sondern ein Schauspieler namens Henry Waters war. Bei der Gelegenheit kam es heraus, daß Waters vor mehreren Wochen von Mr. Lawrence engagiert wurde, um in der Öffentlichkeit für ihn aufzutreten. Alle die Bilder, die kürzlich von ihm in der Presse veröffentlicht wurden, sind in Wirklichkeit Aufnahmen dieses Mr. Waters. Das Leben des Millionärs wurde bei verschiedenen Gelegenheiten bedroht, und aus diesem Grunde suchte er sich zu schützen.

Wir können natürlich verstehen, daß seine Sekretäre versuchen, die Entführung ihres Chefs zu verheimlichen. Sie fürchten, daß das öffentliche Bekanntwerden dieser Tatsache die Verhandlungen über die Rückkehr von Mr. Lawrence stören würde. Selbstverständlich können wir auch den Kummer der Familie und seiner Freunde nachfühlen, aber da bereits Gerüchte darüber in Umlauf sind, haben wir die Pflicht, die Öffentlichkeit aufzuklären und unseren Lesern die Wahrheit mitzuteilen.

Im Augenblick sind die näheren Umstände der Entführung noch nicht bekannt. Wir konnten auch feststellen, daß die Polizei bisher keine Nachrichten erhalten hatte.«

Dan erschien es zwecklos, noch etwas zu tun oder zu sagen. Aber plötzlich kam ihm ein Gedanke.

»Whitey Morgan!« rief er.

»Wer ist das?« fragte Carrington.

»Der Mann, der uns den ganzen Vormittag folgte. Wenn ich ihn sprechen könnte, wäre es möglich, ihn davon zu überzeugen, daß ich den Vertrag mit den Entführern ehrlich zur Durchführung bringen will.«

Dan eilte auf die Straße. Er sah Whitey in der Menge, die sich bereits vor dem Gebäude ansammelte, aber als er versuchte, sich ihm zu nähern, zog Whitey sich zurück. Die rechte Hand hatte der Mann in der Tasche, wo er wahrscheinlich einen Revolver verbarg. Im selben Augenblick hielt ein Taxi an der Bordschwelle, und Inspektor Scofield stieg aus dem Wagen. Einige Kriminalbeamte folgten ihm.

»Laufen Sie – laufen Sie schnell!« rief Dan.

Whitey wandte sich zur Flucht, aber die Menge hielt ihn auf, und Scofield mit seinen scharfen Augen hatte ihn bereits entdeckt. Die beiden Beamten waren wie der Blitz hinter Whitey her, packten ihn, nahmen ihm die Waffe ab und legten ihm Handschellen an. Dann brachten sie ihn in den Wagen.

»Wer ist das?« fragten die Leute erstaunt.

Einer der Kriminalbeamten, der es sich nicht versagen konnte, den öffentlichen Beifall einzuheimsen, rief: »Es ist einer der Entführer!«

Die Leute gerieten in Begeisterung und brachten ein Hoch auf die Polizei aus – drängten sich um das Auto und versuchten, durch das Fenster zu sehen.

Scofield war wütend.

»Bringen Sie den Kerl sofort zum Polizeipräsidium und halten Sie um Himmels willen den Schnabel!«

Er nahm Dan am Arm und führte ihn aus dem Gedränge heraus.

»Daß wir ausgerechnet auch noch dieses Pech haben mußten«, stöhnte Dan.

»Was reden Sie von Pech?« Scofield starrte ihn an.

»Es ist doch leicht möglich, daß ein anderer Spion unter der Menschenmenge versteckt war. Der muß doch nun den Eindruck haben, daß ich Whitey verraten wollte. Glauben Sie mir, wenn die Nachricht zu den Entführern gelangt, ist Mr. Lawrence eine Viertelstunde später nicht mehr am Leben.«


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