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Ihr Glück!

(Novellette.)

Frühlingsblüten und Lenzesduft! Sonnenglanz und jubelnde Vöglein am blauen Himmel und überall, wohin der trunkene Blick schweift, lachende Menschen und bunte Farbenpracht, Festtage der Liebe und Wonne, Maienzeit! Alle Fenster sind weit geöffnet, auch das kleine im Untergeschoß drunten, auf dessen Bord ein paar kümmerliche Blumenstöcke stehen, die sich in der feuchtkalten Kellerluft trotz aller Pflege nicht zur Blüte entfalten konnten. Kein Sonnenstrahl hat sie in der engen Gasse, mit den himmelhohen Häusern rechts und links, getroffen, kein warmer Maienodem konnte sie liebevoll umfächeln, es wehte immer modrig, immer dunstgeschwängert um die grauen Mauern, und ohne Licht und Wärme kann kein Blümlein gedeihen, weder die armseligen kleinen Goldlackstauden, noch das verkrüppelte Menschenpflänzchen, das still und friedlich in dem schwarzen Sarg dort schlummert.

Auf zwei Schemeln steht er, und zu Häupten brennt das letzte Stümpflein Talglicht, das die mitleidige Nachbarin auf der Kommode der Verstorbenen entdeckt und zur letzten Ehre des armen Mädchens angesteckt hat. Der Docht qualmt mit trübem, rötlichem Schein und wirft unsicheres Licht über die, die so kalt und regungslos vor ihm liegt. Ein geflicktes Bettlaken ist flüchtig über das Stroh geworfen, und auf ihm in dem engen Sarg liegt ein welkes, müdes, häßliches Gesicht, häßlich selbst jetzt noch, wo ein so unendlich friedliches Lächeln um den eingefallenen Mund spielt, wo die strähnigen Haare gelöst um die Wangen liegen und die Augenlider den schielenden Blick verhüllen.

Das Totenhemd verhüllt den verkrüppelten Körper, – man sieht den hohen Rücken nicht mehr, – oder ist der selige Märchenglaube wahr geworden? Hat sich der häßliche Höcker gelöst, um ein paar silberne Engelsschwingen zu entfalten? …

Wie still ringsum! Die Tür ist verschlossen, die hohen Körbe voll Äpfel stehen längs der Wand, ein wackliger Tisch, ein leeres Bett – ach, es ist so wenig, was die Rieke hinterläßt. Bald wird der Totenwagen heranrumpeln und sie abholen, und Rieke wird es so wohl auf dem Kirchhof sein, – ach so wohl, wie sie es sonst im Leben nicht gekannt, – Blumen werden rings um sie her blühen und duften, und die Vögel werden sie mit süßen Liedern in den Schlaf singen … Arme Rieke, – welch ein seliger Tausch ist das Sterben gegen dein Leben!

Verlassen – ausgestoßen und verwaist an Glück und Liebe, so lange, wie sie ihren elenden Körper durch die Jahre dahingeschleppt! Jeder kannte sie in dem Stadtviertel, jeder kaufte wohl aus Mitleid dem buckligen Kinde die Äpfel ab, die es stumm, oft mit gefrorenen Händen, den Vorübergehenden darbot. Früher, solange sie noch jünger war, trug sie ihre Früchte auf die Straße und handelte an den Ecken damit, – später, als sie immer bessere Geschäfte machte, konnte sie sogar das dunkle Kellerstübchen mieten und sich den Laden einrichten. – Ach, wie soll ich es nur dem lieben Gott danken, daß er mir so viel Glück gegeben hat! flüsterte sie oft mit verklärtem Blick. Und wenn sie gar in ihrer letzten Lebenszeit nach Feierabend an dem hölzernen Tisch saß, aus seiner Schublade das Gesangbuch nahm, es sorgsam aufschlug und mit zitternden Fingern den getrockneten kleinen Veilchenstrauß an die Lippen drückte, – dann irrte der Blick ihrer armen, schielenden Augen zu dem kleinen Christusbild an der Wand, und Träne auf Träne rann hernieder, – aber keine Träne des Schmerzes, nein, der reinsten, seligsten Wonne!

Die Straßenjungen verhöhnten und verspotteten das mißgestaltete Mädchen. »Äppelstrulch! – Äppelstrulch!« schrien sie ihr nach. Anfänglich hatte Rieke mit bitterbösen Worten geantwortet, dann ließ sie die Schreier gewähren und ging still ihres Wegs.

Aber bald hieß sie bei allen Leuten: Der Äppelstrulch! Ein besonders gutes Geschäft machte sie an der Tür des nahegelegenen Gymnasiums. Zur Frühstückszeit stellte sie sich mit ihrem Apfelkorb, den sie an einem Tragriemen wie ein flaches Tischchen vor sich trug, an der Treppe auf, und die Knaben, die zur Freiviertelstunde auf den Platz herabstürmten, griffen gar zu gern in die Tasche, sich für einen Dreier von den lockenden Früchten zu erhandeln. Anfänglich hatte man das blasse Mädchen mit groben Worten von der Tür zurückweisen wollen; da trat ein junger Lehrer auf die Treppe, nach der Ursache des Skandals zu forschen. Und wie seine blauen, freundlichen Augen das mißgestaltete Mädchen trafen, da zuckte es wie tiefes Mitleid um seine Lippen. Mit schnellem Schritt stand er an ihrer Seite und wehrte die rohen, gewaltthätigen Knaben ab.

»Aber Herr Doktor! Der Äppelstrulch verschimpfiert uns ja die ganze Fassade, wenn er hier Posto faßt!«

»Glaubt ihr, solch wüste, unritterliche, gemeine Szene verschönere sie? Pfui über jeden Jungen, der sich an einem wehrlosen, kranken Mädchen vergreift!«

Und er zog sein Portemonnaie und sagte freundlich: »Gib mir für einen Groschen Äpfel, Friederike!«

Die kleine Bucklige hatte sich, schimpfend und kraftvoll um sich puffend, gegen die Knaben gewehrt, jetzt stand sie mit tiefgesenktem Kopf, blutrot im Gesicht, ohne ein Wort zu sprechen, und wühlte mit zitternden Händen in den Äpfeln.

»So!« rief der Doktor; »und nun will ich diese Äpfel an diejenigen von euch verschenken, die mir versprechen, der armen Friederike nie wieder den Platz hier streitig zu machen!«

Ein jubelndes Hallo, ein buntes Durcheinander, Zustimmung und Versprechen! Rieke aber stand wie ein Bild aus Stein, die langen Arme schlaff am Körper niederhängend, die Augen gradeaus ins Leere gerichtet. Sie wollte danken, sie konnte es nicht. Erst als der Doktor ihr freundlich zunickte und weiterschritt, machte sie den Versuch zu einem linkischen Knix.

Von da stand sie jeden Vormittag an der Treppe, und während sie den Knaben Äpfel verkaufte, huschte ihr Blick unruhig hin und her, bis er aufstrahlend die schlanke Gestalt des jungen Lehrers traf. Und dann krampfte sie die Hände um den Rand ihres Korbes, und ihr Herz zitterte in der Brust, wenn er zu ihr herantrat, freundlich guten Tag sagte und sich erkundigte, ob sich die Jungens auch manierlich betrügen,

Manchmal schritt er im Gespräch mit den andern Lehrern auf dem Platze auf und ab, oder er stand bei schlechtem Wetter nur hinter dem Fenster, Riekes Blick aber fand ihn doch, wie ein Blümlein die Sonne findet, die es mit der Sehnsucht unbewußter Liebe sucht. War die Freiviertelstunde vorüber, setzte sich das bucklige Mädchen auf die Steintreppe nieder und verschlang die Hände im Schoß. Ihre Augen hafteten an der Stelle, wo sie ihn zuletzt gesehen. Und sie sah ihn noch immer, in all seiner jugendfrischen Schönheit, mit den so unbeschreiblich guten Augen und dem blondlockigen Haar.

Und wenn sie abends auf ihrem dürftigen Lager lag und vor Frost mit den Zähnen klapperte, so huschte dennoch ein glückliches Lächeln um die farblosen Lippen, denn sie dachte an ihn, den Besten, Herrlichsten, der ihr zu Hilfe gekommen, der sie Friederike genannt, so freundlich und so gut wie noch kein Mensch zuvor!

Friederike! – kaum wußte sie es selber noch, daß sie so hieß, »Äppelstrulch« gellte es ihr Tag für Tag in die Ohren, und sie hatte sich an den kränkenden Namen gewöhnt wie an die körperlichen Schmerzen, die sie auch von früh bis spät mit sich herumschleppen mußte. Friederike hatte er sie genannt, und das Herz des verkrüppelten Mädchens schlug bei dem Klang so hoch und stolz auf, wie wohl ehemals eines Pagen Herz in der Brust aufwallte, wenn der Ritterschlag des Kaisers seine Schulter traf. Und sie trug seit jenem Tage den Kopf selbstbewußter, wenn sie zur Tür des Gymnasiums schritt.

Einmal tobten die Knaben ausgelassener und toller als je die Treppe hinab und umringten unter jovialen, gutmütig spottenden Zurufen den »Äppelstrulch«. Alle griffen zu gleicher Zeit nach den Äpfeln, und Rieke schlug zornig auf die frechen Hände und schalt mit ihrer schrillen Stimme: »Erst gezahlt, junge Herren, eher gibt's nichts!«

Johlendes Gelächter antwortete, und die Knaben stürmten dreister nach dem Apfelkorb, schoben und rissen die schwächliche Mädchengestalt hin und her trieben Schabernack und äfften die Scheltende.

»Ich rufe den Herrn Doktor!«

»Haha – ruf' man, Äppelstrulch! Der sitzt oben in der Lehrerkonferenz und wird dein Gequieke grad hören!«

Und gleichsam, als ob diese Überzeugung alle Banden der Rüpelhaftigkeit vollends gelöst, faßte ein stämmiger Tertianer die kleine Rieke bei den Schultern und wirbelte sie so gewaltig im Kreise, daß alle Apfel wie ein Hagelschauer gegen die Umstehenden prasselten.

»So Jungens! Es regnet Schafsnasen!« johlte der Anstifter: »Wer's kriegt – der hat's!«

Und alle Hände fuhren nach den Äpfeln, die ihrer länglichen Form halber in dem Knabenjargon den Namen Schafsnasen führten. Ein wilder Knäuel balgender, raufender Bengels – und abseits taumelnd, halb ohnmächtig, keuchend und nach Atem ringend das bucklige Mädchen mit leichenblassem Gesicht. Da – ein heller Pfiff – ein erschrecktes Aufschnellen und Auseinanderstieben der wilden Horde. Mit schnellen Schritten springt der junge Lehrer die Treppe herunter und faßt stützend die kraftlose Gestalt des Mädchens.

»Dachte ich es doch, daß sie eine Roheit begehen!« rief er mit zornblitzenden Augen: »Es ließ mir keine Ruhe droben!«

Rieke riß die verglasten Augen weit auf und starrte den Doktor an – ihr erst so blasses Gesicht bedeckte sich mit Purpur, und ihre Hände, die er noch in den Seinen hielt, zuckten wie im Krampf.

»Ach – ach – Herr Doktor!« stammelte sie, und dann stürzten Tränen aus ihren Augen.

Der junge Mann wandte sich den Sündern zu und verhängte ein strenges Strafgericht, jeder einzelne Apfel mußte mit einem Dreier bezahlt werden, und die, welche kein Geld bei sich hatten, mußten es am folgenden Morgen abliefern. – Welch eine Handvoll Geld legte der junge Lehrer in den leeren Korb seines Schützlings! Wohl dreimal so viel, als die Apfel wert gewesen, und dann nickte er ihr freundlich zu: »Geht es Ihnen wieder besser, Rieke? Die Schlingel ahnten nicht, daß Ihnen der Atem vergehen mußte! Aber unbesorgt, es soll nie wieder vorkommen! Und nun gehen Sie heim und ruhen Sie sich aus!«

Sie starrte ihn immer noch unter Tränen an – und dann griff sie schnell nach seiner Hand und bedeckte sie mit krampfhaften Küssen. Erschrocken zog er die schlanken, weißen Finger zurück.

»Ei, ei, Friederike! Ich bin doch nicht der Kaiser!« scherzte er, faßte den Tertianer mit festem Griff am Arm und spedierte ihn zu fernerer Aussprache die Treppe empor.

Kein Kaiser! – Ach, für die arme, verwachsene Waise war er mehr denn alle Kaiser der Welt. Als der Platz wieder still und leer in der herbstlichen Sonne lag, saß Rieke noch immer auf den Steinstufen der Treppe, und wer vorüberging, wandte erstaunt den Kopf.

War der Äppelstrulch toll geworden? Sie lachte und weinte in einem Atem.

Als der Mond am Himmel stand, schlich Rieke noch einmal hinaus nach dem Schulplatz und stand wie in seliger Benommenheit an der Treppe still und flüsterte: »Er hat an mich gedacht – er kam mir zu Hilfe, und hier – hier auf dieser Stelle hat er meine Hände gefaßt!« – – –

 

Jahre vergingen.

Die Knaben hätten sich ihre Schultreppe nicht mehr ohne den Äppelstrulch denken können, und wenn die Mißgestalt des Mädchens auch manchmal noch Anlaß zu kleinen Spöttereien oder Neckereien gab, so erfreute sich Rieke doch des allgemeinen Wohlwollens, und ihr Verkehr mit den Knaben hatte etwas so kameradschaftlich Biederes, daß man munkelte, Rieke habe schon manchem Primaner und Sekundaner zu einer verbotenen Zigarre verholfen!

Dabei machte sie gute Geschäfte, und wäre sie nicht so gutmütig gewesen und hätte manchen Apfel und Dreier an noch Ärmere abgegeben, sie hätte wohl schon viel früher ihren Kellerladen einrichten können.

Aber keine Macht der Welt hätte Rieke von dem Schulplatz ferngehalten, und daß es nicht allein der gute Verdienst war, der sie trotz Sturm und Regen so magnetisch dorthin zog, das wußten Mond und Sternlein am besten, denn die blickten durch die verklärten Augen bis in das Herz hinab.

Und dann kam ein schlimmer Tag. Der Doktor war versetzt und stand vor Rieke, nahm lachend Abschied und reichte ihr zum letzten Male die Hand. Da ging es wie ein scharfer, weher Riß durch Herz und Seele der Buckligen. Und der Atem drohte ihr auszubleiben, wie damals, als sich die ganze Welt schwindelnd vor ihr im Kreise drehte – aber Tränen hatte sie nicht wie in jener Stunde –, die kamen nach.

Trübe und trostlos schlich die Zeit dahin, und Rieke sah von Tag zu Tag älter und kümmerlicher aus, auch lachte sie nicht mehr wie früher. Sie stand noch Tag für Tag an der Schultür und handelte mit dem Obst, das die Jahreszeit just bot, aber sie schlich daher wie eine Greisin – und war doch noch so jung an Jahren. Frühlingsstürme wehten – und dann strahlte die Sonne auf die bräutliche Erde herab. Rieke saß an ihrer Kellertreppe, die Körbe voll Obst und Gemüse neben sich, und starrte gleichgültig auf die vorüberhastende Menge. Plötzlich aber ringt sich ein erstickter Laut von ihren Lippen. Sie preßt die grobknochigen Hände gegen die Brust und zittert wie Espenlaub an allen Gliedern.

Er! – er! –

Und just, als habe ihr Auge ihn gebannt, wendet er jählings den Kopf – sein gleichgültiger Blick will über sie hinschweifen, haftet überrascht auf ihrem Gesicht – und dann steht er neben ihr. Voll herzlicher Freude streckt er ihr die Hand entgegen. »Sieh da, meine alte Freundin Friederike! und gar als respektable Obsthändlerin vor dem eigenen Laden? Ei, da müssen Sie mir aber erzählen, wie das alles gekommen ist?«

Zuerst will es gar nicht recht gehen mit dem Erzählen, dann aber sprudelt es von ihren Lippen, wie groß – ach wie groß doch ihr Glück ist! Und ihre Stimme klingt so jauchzend und ihre Augen strahlen so wunderbar, daß er selber an das große Glück glaubt. Er lacht, lustig, beinahe schalkhaft. »Na Rieke, da werden Sie mich wohl bald zur Hochzeit laden?«

Sie schrickt zusammen und wird dunkelrot und weiß nichts anderes in ihrer großen Verlegenheit zu sagen, als wie: »Ach, die schönen Veilchen, die Sie aber haben!«

Er blickt auf den großen, duftenden Strauß in seiner Hand nieder, lächelt ganz wundersam und teilt schnell ein kleines Sträußchen davon ab, um es ihr freundlich zu reichen.

»Hier Friederike ! das wird Ihnen Glück bringen! Wissen Sie auch, was für ein Strauß dies ist? Ein Verlobungsstrauß! Ja, reißen Sie nur die Augen auf, ich will es Ihnen jetzt schon verraten! In die Heimat bin ich auf Urlaub gekommen, um mir die Braut zu holen! Geliebt habe ich sie schon lange – heiraten kann ich sie erst jetzt! – Ei, so gratulieren Sie mir doch!« –

Und sie stammelte einen Glückwunsch – aber durch ihr Herz zuckte abermals ein brennender Schmerz, und als sie allein war in ihrem stillen Stübchen, da flutete glänzender Tau über die Veilchen. Als sie sich satt geweint, da lächelte sie und schüttelte den Kopf und begriff sich selber nicht. Welch ein märchenhaftes Glück! Veilchen aus seinem Verlobungsstrauß – halb für die Braut – halb für sie! Welch ein Glück! ach welch ein übergroßes Glück!

Sie hat auch in der Kirche gestanden, als er und das schlanke, blondlockige Mädchen getraut wurden, und so von Herzens Grund wie an jenem Tage hat sie weder vorher noch nachher im Leben wieder gebetet.

Dann ward sie alt – sichtbar alt – sie schwand dahin wie die Blumen an ihrem dunkeln Kellerfenster.

Und heute küßte sie zum letzten Male seine Veilchen. – –

Jetzt liegen sie zerstreut und zertreten unter ihrem Sarge.



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