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Der Stein am Strande.

Seit Jahrtausenden umrauschte mich die Meeresflut, seit Aberjahrtausenden liege ich am Strande, da, wo der hochstämmige Buchenwald sich die bergigen Ufer herabzieht, wo ehemals noch mächtige Klippen weit in die See hineinragten. – Jahrtausende! Was wißt ihr Menschen – ihr Eintagsfliegen der Schöpfung, von der Zeit, welche vor euch liegt – von der Zeit, welche noch kommen wird? – Jahrtausende, viele Jahrtausende und doch nur Pulsschläge der Ewigkeit!

Ich lag am Strande. – Wie lange schon? – Wer rechnet es aus? Ich bin harter Feuerstein und war eckig und kantig von Anbeginn, aber die Flut schliff mich glatt und die Tropfen höhlten mich aus – durch Jahrtausende. Was ist der jetzige Wald, den ihr anstaunt und dessen Buchenstämme ihr Säulen des Himmels nennt, gegen jenen Urwald, welchen ich zuerst geschaut? – Da schossen die Schlingpflanzen und Bäume empor wie wilde, rasende Phantasien, brachen zusammen unter der eigenen Last und düngten den Boden für noch höher strebende, noch gewaltigere Riesen, deren Geäst sich verflocht, daß kein Sonnenstrahl es durchdringen konnte, daß Mammut und Ichthyosaurus keinen Pfad durch seinen Sumpf mehr fanden.

Dann sah ich Menschen, – die ersten Menschen. Wie Schattenbilder zogen sie fern auf den Dünen an mir vorüber, wild und furchtbar in gewaltiger nackter Gottähnlichkeit. Sie kamen und schwanden, Eisesbande hielten mich, – Sonnenstrahlen umglühten mich, – Fluten kamen, rissen mich zurück in die Tiefe, wiegten mich Jahrtausende und spieen mich wieder in den Sand.

Der Wald stand noch, aber er war nicht mehr jener Titanenwald des Anbeginns. Er war immer noch ein Urwald, wie eure Augen ihn nie gesehen. – Wisent und Bär brachen durch die Zweige, und in Felle gewickelte Menschen mit dem Blick und der Kraft der Bestie traten hervor und starrten auf das Meer.

Ein Weib erblickte mich und hob mich prüfend auf. Ich deuchte ihr ein gutes Beil – und während die Männer am Strande lagerten, hub sie an, mich mit spitzen Steinsplittern zu bearbeiten, – seht ihr hier? Da versuchte sie, mich zu höhlen.

Wolken stiegen auf, der Donner rollte über die See und die Blitze flammten am Horizont. Da warfen sich die Menschen voll zitternden Entsetzens zur Erde nieder, schrien und heulten und stürzten voll sinnloser Angst zum Wald zurück. Das Weib warf mich aus der Hand, und die schwellende Flut brauste über mich hinweg.

Und wieder sah ich Sonnenlicht. Die Klippen am Strande standen noch, aber sie waren nicht mehr so hoch und zerklüftet wie ehemals, und von dem Walde hatte die gierige See ein gewaltig Stück verschlungen.

Die Sonne ging blutrot unter, und zwei weiße, ringgeschmückte Arme teilten das Dickicht. Ein junges Weib trat flüchtigen Schrittes hervor, ein mächtiger, rauhhaariger Wolfshund folgte ihr.

Wie schön war sie, noch hatte ich kein ähnliches Menschenkind gesehen. Zwar trug auch sie noch ein Fell um Hüfte und Schulter, aber schneckenförmig gewundene Spangen hielten es zusammen, und ein kurzes, hochgeschürztes Gewand quoll in weichen Falten darunter hervor. Riemen umwanden die Füße, und das leuchtende, goldene Haar war am Hinterhaupt geschürzt, daß die flachsenen Strähne wie der Schweif eines Rosses im Winde flatterten. Bogen und Köcher trug sie und in der kraftvollen Hand einen Speer.

Bis hinaus auf die äußerste Klippe schwang sie sich, blieb stehen und starrte finster auf die blau rollende Flut hinaus. Der Hund schmiegte sich an sie, – und sie streichelte seinen spitzen Kopf und drückte ihn gegen ihr Knie. »Siehst mich an, Wolfer, als ahntest du, was die Walha beginnen will? – Hast du nicht gehört, wie die beiden Männer um mich warben? Hug, der grausame, wilde, und Wälse, der herrliche Held? Ach Hug ist mächtig, und Vater fürchtet ihn, und darum sprach er: ›Kämpfet im Holmgang um die Maid, sie sei des Siegers Preis!‹ und ich fügte hinzu: ›Von der Klippe draußen hole er mich heim.‹ – Nun stehe ich und warte. Freia, der Holden, Göttlichen brennt mein Opfer, und Wodans Eiche tränkte ich mit dem Blut meines liebsten Füllens. Sieh, Wolfer, – wenn aus jenen Büschen dort der Wälse tritt – so haben die Götter mein Gebet erhört, naht aber Hug – so mögen die Wasser drunten auch ein Opfer haben – mich, die Walha, welche jenen ungeliebten Mann mehr noch scheut als die dunklen Schatten des ewigen Todes!«

Der Hund stieß ein kurzes Geheul aus und streckte sich zu den Füßen der Herrin nieder, das junge Weib aber rannte den Speer hart auf die Erde – seht ihr hier den scharfen Riß auf mir? – Just mich traf die blinkende Spitze – und sie hob das Haupt in stolzem Lauschen. Sie atmete schwer, wie Blitze zuckte es aus ihrem Auge.

Ein wunderlich Getöse im Wald – ein Hornstoß wohl – und dann taucht ein goldlockig Haupt über das Gestrüpp des Waldes, Büffelkopf und Hörner geben ihm wilden, furchtbaren Schmuck – ein Spieß und fellgedecktes Schild. – –

»Wälse! – Wälse der Hehre, welchem Freia den Sieg gab!« jauchzt es hell auf, und die junge Maid stürmt ihm entgegen, voll seligen Ungestüms seine Knie zu umfassen. Er hebt sie mit starken Armen auf, – ein Siegesschrei, wild, trunken vor Wonne, bricht über die bärtigen Lippen, und er deckt seinen Schild über sie – den Schild, auf welchem Hugs Blut noch nicht getrocknet. –

Wellen rauschen, – der Sturm heult, Wölfe jagen sich im Sand, und der Ur reibt sein zottiges Fell an den Buchenstämmen.

Schiffe auf der See! – Der gähnende Abgrund, welcher ehedem das Land vom Land geschieden, ist überbrückt, zum ersten Male wagt sich jetzt der Mensch auf die tückische, wilde, unbekannte Flut hinaus, zum ersten Male erblicke ich solch ein wundersames Fahrzeug in der Nähe! – Dem ersten folgen ungezählte, – wie Möwe und Sturmvogel über die Wogen ziehen, so wiegen sich die Schiffe auf der Flut, und je endloser sich die Reihe der Jahre dehnt, desto verschiedenartiger und vollkommener gestaltet sich ihre Art. –

Huh – wie die Brandung donnert! Wie die Wassermassen sich rasend türmen und die letzten Klippen herabreißen, daß sie nur noch als Trümmer und Geröll aus weißem Gischt auftauchen!

Da speit die Flut aus, was die Tiefe an sich gerissen. Just über mich hin rollt der schwere, eiskalte Körper. – Die Wange des Toten ruht auf mir und der Vollmond beleuchtet das junge, trotzig kühne Angesicht. – Wie schön ist er! Wie einsam, wie weltvergessen schläft er hier in der Fremde. Wo mag seine Heimat liegen? Zog er aus, das Glück zu suchen? Er fand es nicht. Er, der Mensch, der geist- und vernunftgesegnete, das Ebenbild seines Gottes, vergeht vor mir wie ein Blatt, welches der Sturm zur Erde riß. Ich aber – der tote Stein – ich bleibe. Raubvögel kommen und schlagen die Krallen in des Seemanns Fleisch. Sein Gewand wird zerfetzt, – der Sturm wühlt darin. Eine lange, schwarze Haarlocke liegt auf des Toten Brust, – die Schnur, welche sie hält, zerstückt, und die Vögel zerstreuen das Kleinod der Liebe auf dem Felsgeröll. – Bald bleichen die Knochen, – die See spült und begräbt sie im Sande. – Wer weiß noch von dem Jüngling? – –

Flammen! – Blutig rote – wilde Flammen! Der Wald brennt! Und mit heiserem Gebrüll stürzen die Tiere nach der Flut. Schutt – verkohlte Stamme, Aschhaufen – bis neue Lenze sich reihen, bis ein junger Wald emporsprießt, wo ehemals der alte gestanden. Und es kommen Zeiten, wo Kriegsgeschrei die Stille des Strandes durchgellt, wo wilde Völker ihre Massen daherwälzen, neues Land zu erbeuten. –

Und wieder Jahre, lange, endlose Jahre tiefster Weltverschollenheit. Ein Reiterzug naht, ich sehe Gestalten, wie ich sie noch nie geschaut. Silberleuchtende Rüstungen, schwarze Eisenpanzer, Schilde und Schwerter. Allen voran auf milchweißem Roß ein Jüngling, von dessen Lanze weht ein weißes Fähnlein, darauf das Bild eines Lammes, welches ein golden Kreuz erhoben trägt. Sie jubeln beim Anblick des Meeres, knieen nieder und beten. – Weiter, weiter! Die Schatten der Nacht verschlingen sie. – –

Im ewigen Kreislauf rollen die Zeiten. Regenfluten beleben neu, was in Sonnengluten verschmachtete, der Lenz bricht des Winters Eisbann und der Herbst gibt der Erde zurück, was aus ihr emporgesproßt.

Mondlicht glänzt auf der See. Sie liegt so still und ruhig wie ein Dornröslein im Schlaf, kaum daß eine leichte Brise wie seufzender Atemzug darüber weht. Liebeshauch säuselt im Dämmer des Waldes, Vogelstimmen locken in wonnesamer Klage, und die Sterne blinken am Himmel wie die Augen treuer Glückeswächter.

Hufschlag, flüsternde Stimmen. Zwei Rosse tragen eine Sänfte herzu, Reiter geleiten sie. Ein hochgewachsener Mann mit stolzem, bleichem Angesicht, im geschlitzten Samtwams mit blitzendem Wehrgehänge am Gürtel. Er wirft den wallenden Mantel von sich, flüstert hastige Befehle und springt aus dem Sattel, um die Tür der Sänfte mit ungeduldiger Hand zu öffnen: »Barbara! Vielsüße Herrin! Heißgeliebte, wir sind zur Stelle!«

»O Theodosius – welch zage Seligkeit, welch banges Glück bewegt mein Herz!« flüstert die weiche Stimme, und sein starker Arm hebt ein herrlich Weib zur Erde. Ihre Haare wallen unter dem gold- und perlengestickten Mützlein wie ein Mantel der Nacht um die schlanke Gestalt, eine reiche Schlüsseltasche am edelsteinbesetzten Gurt hebt den Saum ihres Gewandes fein und köstlich, aus Kammertuch gewebt. Er schlingt die Arme um sie und führt sie eilends zum Strand, just vor mir stehen sie und blicken angstvoll nach dem schmucken Segelboot, welches sich aus dem Dunkel der Bucht löst und leise näher gleitet.

»O Geliebter, der Wind ist uns nicht günstig, wir werden vor Tagesgrauen noch nicht in Sicherheit sein!« flüstert sie bebend.

»Unbesorgt, Feinslieb, meine Knechte rudern gut, und haben wir erst mein wacker Schiff erreicht, sind wir geborgen! Barbara – bangt dir vor unserem Weg zum Glück?« –

Sie schlingt leidenschaftlich die Arme um ihn. »Ich zittere, daß man dies Glück in Unheil wandele! Des Vaters Rache folgt uns!«

»Sie findet uns nicht!«

»Unsere Heimatstädte liegen in blutiger Fehde!«

»Was kümmert unsere Liebe solch ein Krämerhaß? Des Bürgermeisters Kind im Arm des Feindes – des Geliebten!«

»Ja, wohl mir, des Geliebten, ach und wehe mir! Ich trage Streit auf Tod und Leben in dein Haus!«

»Ich kämpfe für die Liebe und das Glück – und siege!«

»Mein Theodosius!«

»Du liebes, heiliges Angesicht! – Sieh, meine Knie beuge ich vor dir und trage meines Lebens größtes Kleinod in mein selig Heim!«

»Eilt, Herr! – Der Morgenstern gemahnt!« – ruft's aus dem Boot, und der junge Kaufherr hebt die Geliebte mit starken Armen auf und schreitet mit ihr hinein in die spiegelnde Flut, den süßen Raub in den schwankenden Kahn zu heben.

»Ho – hohe jo he!!«

Sie steht neben ihm und wendet das bleiche Antlitz landein. Dort ragen die Zinnen und Warttürme der alten Hansestadt, – sie sieht sie nur im Geist, sie ahnt noch einmal der trauten Heimat Nähe! »Lebt wohl!« ruft sie, »lebt wohl!« – Aber sie weint nicht, ihr schönes Auge strahlt in Liebesseligkeit, und als sie das Haupt an des Liebsten Brust lehnt, weht es frisch und kräftig über die See, – die Segel blähen sich wie voll stolzen Mutes, und das Schifflein gleitet pfeilschnell durch die Flut. –

– – – Die Axt klingt im Walde. Der letzte Bär hat den Sand mit seinem Blut gefärbt, nur die Wölfe heulen noch über die weiten Schneeflächen des Strandes. Der Urwald von ehedem schaut gar anders drein. Noch immer üppig, dunkel, voll ragender Baumriesen, aber das Hussa und Hallo der Jäger verliert sich nicht mehr in grüner Undurchdringlichkeit. – Hütten wachsen auf, Fischer siedeln sich an, Wagenräder graben ihre Furchen in den Sand. Einförmige Tage – einförmige Zeiten.

Dann gellt wieder Kriegsgeschrei durchs Land, ein feindliches Heer landet, die gewaltige Flotte furcht die See.

Wie bunte Bilder zieht's vorüber – lange, lange Pausen dazwischen. – Ich liege wie in schwerem Traum, und das Rollen der Wogen, der Schrei der Möwe lullt mich ein.

Da weckt mich ein wunderlich Getön! Fröhliche, hallende Klänge, Gezirp und Geflöte; – sind's Vogelstimmen? – Nein, es ist Musik!

Schwerfällige Glaskutschen schwanken über den Sand daher. Aufgezäumte Pferde mit buntgebänderten Rosetten und Sträußlein geschmückt, Lakaien und berittene Diener in strotzender Livree. Voran der offene Wagen mit den Musikanten. Wappenbilder prangen auf den Kutschschlägen, und die Menschen, welche ihnen entsteigen, sehen gar seltsam aus! – Junge Gesichter und schneeweiße Haarperücken, kecke, blumen- und federgeschmückte Hütlein darauf. Die Damen mit zierlich gerafften Röcken, geblümten Miedern und Stöckelschuhen, graziös wippend und trippelnd wie die kleinen Strandläufer! Und die Herren im gestickten Samtrock, farbigen Strümpfen und den Degen an der Seite.

» Ah, cher oncle – dies ist die See! – Endlich sehe ich sie!« ruft ein Dämchen und breitet begeistert die Arme aus.

»Sehr recht, Komtesse, – und Sie sind von dem Anblick enchantiert?« fragt zierlich ein blauseidenes Herrchen.

»Charmant! Ich bin au comble du bonheur! Man sollte kaum glauben, daß wir in Deutschland so etwas haben – si joli, monsieur le baron

» Bien joli!« versichert er mit abgespreiztem kleinen Finger und offeriert die Bonbonnière: »und tatsächlich Natur! Das Wasser ist nicht artificielle

» Fi donc! Ganz Natur? – Man sollte die Ufer graben in schöne Façon – wie ein Stern –, und die Bäume kupieren als Taxus –!« tadelt eine alte Dame, das Augenglas hebend.

» Parfaitement! Madame la Comtesse haben recht! Es ist wenig zu sehen hier! Nichts als Wasser, ganz gemeines, undressiertes Wasser! fi donc!« – Und man wandte der See, welche nicht in einem Marmorbassin plätscherte, verächtlich den Rücken, setzte sich zum heiteren Picknick nieder, und die steifgeschnürten Dämchen und Herren entschädigten sich zum Schluß mit einem Menuett, bis der »affreuse« Sand die Schnallenschuhe festhielt und die Glaskutschen zur Heimfahrt kommandiert wurden. Nur wenige Demoiselles und verbauerte Junker, welche » le grande monde« noch nie gesehen hatten, wandelten voll Entzücken am Strand des ewigen Meeres. –

Zeiten und Menschen wechseln, – und wieder lagert eine Gesellschaft um mich her im Sande. Wie anders anzuschauen als ihre Urgroßeltern!

Frauen mit kurzen Taillen, Kreuzbänderschuhen und wunderlich großen Hüten auf dem Kopf, das feine Sonnenschirmchen in der Hand, den Strickbeutel am Arm, – und die Herren im blauen Frack mit Goldknöpfen, großen Vatermördern und Zylinderhüten auf dem Kopfe, welche oben breiter sind als unten. Sie tragen den Damen galant den Schal und legen viel die Hand auf das Herz. – All diese Menschen haben Tränen der Rührung geweint, als sie die See erblickten, zwei junge Mädchen sanken überwältigt wie in Ohnmacht in die Arme der Mütter. Und dann las ein Herr sehr rührende Gedichte vor und man weinte abermals und sprach viel von schönen Gefühlen, von Empfindung, Seele und Unsterblichkeit. Man aß und trank auch, aber mäßig und mit schmachtender Zerstreutheit, und die Damen sangen liebliche Lieder, über welche die Herren in Verzückung gerieten. Jeder nahm zum Andenken einen Stein und etwas Sand mit, – ich blieb leider unbemerkt, denn der braune Frackschoß eines Großpapas verdeckte mich im entscheidenden Moment.

Just, als ob die Zeit alles mit doppelter Hast nachholen wollte, was sie so lange in bleischwer schleppendem Flug versäumte, begann jetzt ein stürmischer Wechsel und Wandel. Die Büchse knallte im Wald. Wo ehedem der wilde Ur seine Hörner in den Schlamm gewühlt, huscht heute kaum noch ein scheues Häslein, und wo früher der Bär und Wolf im Kampfe lagen, weilt jetzt friedlich ein einsames Reh.

Der endlose Urwald ist zusammengeschmolzen zu kargem Waldesstreif. Felder und Äcker ziehen sich landein, goldene Halme ragen, und aus hohen Fabrikschornsteinen wälzt sich dunkler Qualm über die große Handels- und Hafenstadt, welche fernher ihre Türme hebt. – Der Pfiff der Eisenbahn schrillt, und das kleine Fischerdorf ist ein gar großes geworden. Aus dem ehemaligen bescheidenen Seebad ist ein modernes Luxusbad entstanden. Die strohgedeckten Hütten haben sich in elegante Villen verwandelt, elektrisches Licht wirft abends seinen blendend grellen Schein über die Strandpromenade, und die Klänge der Kurmusik wirbeln in tollem Reigen alle Erinnerungen durcheinander – Hornruf, Kriegsklänge, Menuett und die lyrischen Weisen der Wertherzeit, bis ein Straußscher Walzer keck durchbricht und Wagnersche Allgewalt der Jetztzeit Rechnung trägt.

Die Jetztzeit! – Was für eine Zeit ist es? Wie soll ich von ihr den späteren Geschlechtern erzählen. Die Menschen von heute haben nichts Charakteristisches, ihr Äußeres wechselt wie Aprilwetter und ihr Inneres zeigt dieselbe Unbeständigkeit. – Altkluge Kinder, frühreife Backfische, leichtsinnige Männer und unzufriedene Frauen, – das schiebt und drängt voll nervöser Hast durcheinander. Jeder strebt über die Grenze, welche Natur und Verhältnisse gesteckt, hinaus. Die ehrsame deutsche Frau schwingt sich auf das Rad und beruft Versammlungen ein, welche für neue Rechte zum Kampf auffordern! Bis hierher in die heilige Stille des ewigen Meeres tragen die Prophetinnen ihr Banner, um es als Bahrtuch über manch friedliches Glück zu werfen.

Und doch sah ich Mädchenaugen voll süßer Sehnsucht über die See blicken, in denen spiegelte sich noch dieselbe große, tiefe Liebesinnigkeit einer Walha, und ich sah Jünglinge voll stolzer, edler Leidenschaft, welche auch heute noch todmutig für ihre Liebe kämpfen würden wie Wälse, der Held. – Und ich sehe das stille, wehmutvolle Lächeln ewiger Entsagung, wie es um die Lippen des gestrandeten Seemanns lag – ich sehe die kecke, ungestüme Waghalsigkeit eines Theodosius, den stolzen Trotz einer liebenden Barbara, – sehe steifgeschnürte, oberflächliche Salonmenschen gleichgültig über Gottes Wunderwelt blicken, – den Tanz der Reunion, das Menü der Table d'hôte als höchsten Genuß verehrend, und ich sehe weichherzige Gefühlsmenschen Tränen tiefster Ergriffenheit beim Anblick des Meeres weinen – – –

Neunzehntes Jahrhundert! Fin de siècle, du unruhvolles, schillerndes, charakterloses Gemisch von vergangenen Zeiten, – was soll ich von dir den kommenden Geschlechtern erzählen?

Fern vom Kurhaus herüber braust »die Wacht am Rhein« Patriotisches Lied, das im Deutschen Kaiserreich ab 1871 neben »Heil dir im Siegerkranz« die Funktion einer inoffiziellen Nationalhymne hatte. Der Text wurde 1840 während der Rheinkrise von Max Schneckenburger verfasst. Erst mit der im März 1854 von Carl Wilhelm komponierten Vertonung und prominenten Aufführung bei der Silberhochzeit des späteren Kaisers Wilhelm I. gewann es an Popularität, die sich 1870/71 (deutsch-französischer Krieg) noch steigerte. – D.Hg., das Denkmal des größten Kaisers umgeben von seinen Paladinen, von einem Moltke, einem Wismars, strahlt auf im Sonnenschein, auf der Promenade stehen die Leute still und ziehen den Hut vor dem Erforscher der X-Strahlen, vor den Männern der Wissenschaft, welche neben ihm schreiten, auf dem heiligen Boden eines einigen Deutschlands, – und der Wind saust majestätisch daher und die Wellen rauschen Antwort –: »Hörst du's? – siehst du's? Das erzähle den Kindeskindern!«



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