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Die Wasserrose.

 

I.

Wir saßen – eine außerordentlich fröhliche Gesellschaft – inmitten des sonnendurchleuchteten Hochwaldes und genossen in vollen Zügen den Zauber des wolkenlosen Julitages, dessen Hitze hier droben unter rauschenden Baumkronen zur behaglichsten Temperatur ward. Der wilde Thymian duftete berauschend, die roten Steinnelken glühten wie Blutstropfen im Moos, und gelbe, rote und blauschillernde Schmetterlinge wetteiferten mit Hummel und Biene um die Gunst der wilden Rosen, welche malerisch über dem Gestein des Abhanges nickten.

Die Kiefern schickten schwüle Duftwogen zu uns herüber, der Specht hämmerte im Wald, und ein Hasenpärchen huschte aufgescheucht durch den hochstarrenden Ginster, um sich im Wald zu verlieren, dessen Rasensaum wie Smaragd im Sonnenglanz leuchtete.

Wie überschwenglich schön war dieser Waldesfrieden, nur unterbrochen durch singende Mädchenstimmen, durch Jubel, Gelächter und Becherklang.

Die Bowle stand inmitten des kleinen Zigeunerlagers, welches wir malerisch auf der Bergeshöhe, auf einem kleinen Wiesenplatz arrangiert hatten. Rechts und links und hüben und drüben mündeten die Waldwege, man sah tief hinein und hinab in die geheimnisvoll dunkelnden, dicht verwachsenen Pfade, aus welchen die weißen Kleider der blumenpflückenden Mädchen aufleuchteten, just als ob schwebende Huldinnen ihr Spiel dort trieben.

Ein junger Offizier trocknete mit dem eleganten Sporttuch die Stirn, streckte sich behaglich aus auf dem weichen Moosteppich und fand es recht langweilig, daß seine beiden allerliebsten Bäschen noch immer auf Entdeckungsreisen und Beutezügen in den Büschen herumkrochen.

Er stützte den Kopf in die Hand: »Gretel! Mietze! seid doch nicht so eklig und kommt her! Es gibt auch hier an Ort und Stelle genug zum Raufen – zum Blumenraufen meine ich!! – Da seht mal hier! Diese famose blaue Blume hier – Campanula oder Enzian oder weiß der Teufel, wie sie heißen mag.«

Er bog den schlanken Stengel mit der Fußspitze hin und her, eine junge Frau aber, welche seitlich von ihm auf der Steinbank saß, hob wehrend die Hand:

»Nicht zertreten! Es ist eine Armsünderblume!« Sie sagte es beinahe ängstlich, fast scheu, und überrascht wandten sich alle Köpfe, – ihre Stimme klang schier wie ein Mißton in die allgemeine Heiterkeit.

»Armsünderblume? – Was heißt das?!«

»Nach welcher Botanik haben Sie gelernt, gnädige Frau?« – lachte es im Kreise.

Die Baronin schob das rosige Mündchen etwas vorwurfsvoll vor.

»Ich denke, die Herrschaften haben alle regelmäßig das Schulgeld bezahlt, und nun kennt niemand den Heinrich Heine?«

»Dessen Gedichte lernt man nicht in der Schule, Teuerste!«

»Aber man liest sie heimlich schon in der ersten Klasse und schwärmt sich so recht von Herzen satt!!«

»So ist's, mein Feldherr! – Für welche Verse haben Sie sich begeistert?«

»Nicht so neugierig, Mäxchen!«

»Frau Hadwig hat sicherlich um die Armsünderblume Thränen vergossen!«

»Armsünderblume? – Heine? – Herrschaften, es ist heute zu heiß, um nachdenken zu können, mein Gedächtnis ist geschmolzen, ich kenne das Gedicht nicht!!« –

Fräulein Gretel und Mieze waren Arm in Arm herzu getreten.

Das blonde Gretelein mit den großen Rehaugen und dem Gesichtchen, zart wie ein Rosenblatt, blickte gedankenverloren gerade aus und sprach mit leiser Stimme:

»Am Kreuzweg wird begraben,
Wer selber sich brachte um –
Dort wächst eine blaue Blume,
Die Armesünderblum …«

Der junge Offizier hob jählings den Kopf und blickte umher.

»Teufel ja! wir habens just getroffen!!«

»Richtig – der Kreuzweg! Wir sitzen ja am Kreuzweg!«

»Und hier blüht die blaue Blume!«

»Die Armesünderblum'!« –

»Im Mondschein bewegte sich langsam
Die Armesünderblum'!«

flüsterte Fräulein Gretchen, – und während sie sprach und aller Blicke die blaue Glockenblume trafen, strich ein leiser Lufthauch von den Kiefern herüber, und die Geheimnisvolle neigte und wiegte sich schier geisterhaft, als wolle sie den Worten der Sprecherin zustimmen. Wie still es plötzlich im sonnigen Wald war! Nur ganz fern her klang das Hämmern eines Spechtes, wie der schwere, angstvolle Herzschlag des dunklen Buchengrundes.

»Herr Forstmeister … hat sich wohl an dieser Stelle schon ein Mensch umgebracht?« – fragte die Baronin und zog die weiten Spitzenärmel fester um die Arme, als fröre sie.

Herr v. R. blickte nachdenklich einem Goldkäfer nach, welcher angstvoll über die Ecke des weißen Damasttuches auf der Erde, worauf unser Picknick lagerte, rannte.

»O ja!« nickte er, »erst vor zwei Jahren hat sich hier ein Unterförster von mir erschossen –«

»Aus unglücklicher Liebe?!«

»Man nahm es an, weil keine anderen Gründe vorlagen! Oder sind Sie besser unterrichtet, lieber Cörlin?«

Der Forstassessor zuckte die Achseln, sein blasses, ernstes Gesicht mit den umschatteten, dunklen Augen sah noch nachdenklicher aus wie gewöhnlich. »Man behauptet, und wohl auch mit Recht, daß er Schulden gemacht, welche sein Vater nicht bezahlen wollte. Nach dem Tode des Sohnes hat er sich dazu entschlossen und die Sache ward totgeschwiegen, – auf seinen Wunsch.«

»Pfui, Cörlin, wie prosaisch! Sie sahen doch, daß die Damen sämtlich schon den interessantesten Roman träumten!«

»Ich bin überzeugt, der Ketzer glaubt nicht einmal an die Armesünderblume!« lachte der junge Offizier.

»Strafen Sie ihn, Baronin! Ziehen Sie ihm den Feldstuhl weg!!«

Man lachte, aber nicht so laut wie zuvor, und der Forstassessor blickte sogar sehr ernst auf die blaue Blume zu seinen Füßen nieder. »Nein – an diese Armsünderblume habe ich bisher allerdings nicht geglaubt, wohl aber an eine andere.«

»Eine andere? Gibt es verschiedene?!«

»Ja, in meiner Heimat nennt man die Wasserrosen Armsünderblumen.«

»Die Seerosen? Diese entzückenden, poetischen Blumen? Wie barbarisch! Ich liebe sie so sehr!«

»Thun Sie das nicht, gnädiges Fräulein, diese Blumen soll man nicht lieben – aber …« Der Sprecher stockte und eine heiße Blutwelle ergoß sich über sein bleiches Gesicht.

»Nun – aber?« –

»Aber man soll sie auch nicht gefühllos auf die Straße werfen, daß sie zertreten werden«, stieß er kurz hervor. –

»Hm … das klingt geheimnisvoll; ich glaube, Assessor – Sie könnten etwas darüber erzählen?«

»Ach ja! eine Gespenstergeschichte im Sonnenschein!« riefen die Damen und rückten ganz nahe auf der Steinbank zusammen, dieweil sich die Herren, welche noch standen, auf die Erde niederstreckten, das Bowleglas vor sich, die Cigarette zwischen den Lippen.

»Famose Idee!« lachte der Leutnant, »bitte, meine Damen, vergegenwärtigen Sie sich einmal dieses reizende, sonnenstrahlende Plätzchen hier um Mitternacht! – Dunkel und still. Der Kreuzweg schimmert wie gleitende Schlangenleiber. Hu-hu-hu – streicht der Wind über den Ginster, und dort, aus den Buchen, schreit das Käuzchen herüber. Da kommt etwas Helles den Weg dort herauf – leise – gespenstisch schwebend – ein blasser Mann mit einem Loch in der Stirn, aus welchem das Blut sickert – –«

»Hören Sie auf!! es ist gräßlich!«

»Und er schreitet hierher – blickt mit den hohlen Augen wild um sich – – ein Schrei …«

»Still! – wir sind eiskalt vor Grausen!« –

»Und im Mondschein bewegt sich langsam
Die Armesünderblum'.«

Kein Laut ringsum, nur die Bienen summen und die Damen schmiegen sich fester aneinander.

»Glauben Sie an Gespenstergeschichten?« fragt die Baronin aufatmend.

»Ja und nein. Wer kann Unerklärliches ableugnen? – Allen ist wohl schon im Leben etwas Seltsames begegnet, welches sich nicht deuten ließ. Vorahnungen, Träume – das Gefühl, als ob übernatürliche Gewalten zu dieser oder jener Handlung zwangen – Handlungen, welche alsdann vor großem Unglück bewahrten! Man glaubt einen Ruf zu hören, die Stimme eines lieben Ab geschiedenen, ja – man sieht hie und da wohl auch Dinge, von welchen sich die nüchterne Schulweisheit nichts träumen läßt.«

»Ich glaube nicht eher an Spuk, als bis ich einen erlebe!« schüttelte der junge Offizier beinahe trotzig den Kopf. »Wie oft habe ich das Schicksal herausgefordert! – Nachts im Ahnensaal – auf dem Kirchhof, um Mitternacht auf dem Schlachtfeld –, in der Kirche – ich sah nie etwas, aber mein Vater … ja der …!«

»Erlebte Außergewöhnliches?«

»Ja, und er schwor darauf. Wie ist das nun möglich, daß der eine sieht und der andere nicht?«

Ein alter Herr, der Vater von Gretel und Mieze, wiegte ernst den Kopf.

»Ich meine, das sei sehr leicht zu erklären. Es gibt nicht nur körperlich, sondern auch geistig grundverschiedene Menschen. Hier ist der Körper, dort die Seele mehr entwickelt, dieser steht auf der untersten – jener auf der obersten Stufe geistiger Vollkommenheit. Warum ist nicht jeder Mensch ein bedeutender Musiker – ein gottbegnadeter Dichter – ein Bildhauer – ein Maler? – Weil nicht einem jeden das Talent gegeben ist. Auch das Geistersehen, das Eindringen in die vierte Dimension ist ein Talent. Es verlangt besonders beanlagte Menschen. Diese können, was andere nicht können. Wie verschieden sind die Augen gebaut! Warum sieht eine Katze im Dunkeln? Warum sieht ein Hund so bedeutend besser wie ein Pferd? Warum ist sein Geruchsinn so viel schärfer entwickelt? Ich habe als Kind auf dem Jahrmarkt einen Mann gesehen, welcher mit dem Spürsinn eines Indianers hörte und roch. Man ließ ihn an einem Handschuh riechen und er fand unter Hunderten von Menschen die Person heraus, welche den Handschuh getragen. Warum soll es nicht auch Menschen geben, welche mit besonderer Geistesschärfe Dinge wahrnehmen, welche weniger Begnadeten verhüllt bleiben? Das Rätsel der Totenseher ist auch noch nicht gelöst und das Gedankenlesen eines Cumberland Stuart C. Cumberland (Pseudonym von Charles Gardner, 1857-1922) war ein Pseudo-Gedankenleser, der anhand von Muskelbewegungen und anderen körperlichen Reaktionen und Verhaltensweisen Rückschlüsse auf die Gedanken eines Menschen zog und damit vermögend wurde. – D.Hg. ist kein Humbug, sondern eine jener Naturkräfte, welche in dem Menschen unentdeckt schlummern.«

 

II.

Die Unterhaltung blieb in dem ernsten Geleise, in welches sie eingelenkt war. Obwohl hier und da versucht wurde, die alte Heiterkeit herauf zu beschwören, scheiterte diese doch an dem Interesse, welches für ein Thema geweckt war, über welches sonst nur in stiller Abendstunde am Kamin, bei Schneegestöber und heulendem Nordwind, leise flüsternd debattiert wird.

»Welch eine herrliche Idee, im hellen Sonnenschein, bei gemütlicher Erdbeerbowle, Gespenstergeschichten erzählen!« lachte der Forstmeister und hob das Glas an die Lippen: »Wenn es uns gar zu kalt über den Rücken rieselt, setzen wir uns bei 21° R. Messung in ›Réaumur‹; der Wert entspricht 26,25° Celsius. in die Sonne!«

»Wer soll beginnen?«

»Selbstredend derjenige, welcher etwas Übernatürliches erlebt hat!«

»Vetter Eberhard hat soeben verraten, daß sein Vater mehr gesehen wie er; was war es?«

»Und Assessor Cörlin hat schon irgend ein unheimliches Abenteuer mit einer Armsünderblume bestanden!«

»Woher wissen Sie das, Baronin?« Der Genannte blickte betroffen auf und errötete wie ein Mädchen.

»Weil ich es Ihnen ansehe.«

»Hut ab vor diesem Scharfblick!«

Er täuschte mich nicht?«

»Nein, gnädige Frau.«

»O bitte, bitte, erzählen!«

Der Forstassessor blickte unschlüssig vor sich nieder und grub die Zähne in die Unterlippe: »Ich thue es nicht gern, meine Herrschaften, ich habe bisher nur zu meiner Mutter von diesem Erlebnis gesprochen, welches mich seiner Zeit unbeschreiblich erregt hat.«

Die junge Frau legte ihre weiße kleine Hand, an welcher die Brillanten blitzten, auf den Arm des Sprechers und blickte mit den träumerischen Augen flehend zu ihm auf: »Glauben Sie nicht, lieber Herr Cörlin, daß Sie Ihr Geheimnis der frivolen Neugierde preisgeben. Wir sind Ihre Freunde, und werden es zu ehren wissen!«

Leise Beifallsworte im Kreise; der Forstassessor blickte in die ernsten Gesichter, atmete tief auf und begann:

 

»Ich hatte die erste Anstellung erhalten und reiste voll stolzer Freude nach meinem neuen Bestimmungsort, einer reizend gelegenen Oberförsterei in Hannover, ab. Mein überaus liebenswürdiger Vorgesetzter holte mich mit seinem flotten Jagdwagen ab, und unter den heitersten Gesprächen ging die Fahrt durch eine zauberhaft schöne Gegend, durch friedliche Dörfer, gesegnete Felder, vorbei an malerisch stillen Waldteichen inmitten rauschender Eichen- und Buchenriesen, dem Forsthause zu. – Schmuck und traulich leuchtete es uns durch die Kiefern entgegen, goldgetigert lag der moosige Waldboden im Sonnenglanze vor uns, Tauben gurrten auf dem Dach und weiße Lämmer weideten seitlich am Grasrain. Kinderstimmen jubelten uns entgegen, und eine rotwangige, glückselig lächelnde Oberförsterin stand auf der Treppe und that den letzten Hammerschlag an einer buntblumigen Guirlande, welche das fröhliche: ›All Waidmannsheil‹ umschlang. Das alles waren Eindrücke, so froh und hell, daß wohl dem melancholischsten Geisterseher keine Spukgedanken gekommen wären, wie viel weniger mir, dem das Herz im Leibe lachte, der jung, sorgenlos, thatendurstig das Terrain seiner Thätigkeit betrat.

Ein dreifenstriges Zimmer mit weißen Mullgardinen, Blumenstrauß und würdigem Kattunsofa heimelte mich sogleich an, als meine lieben Hausgenossen mir dieses Reich zum Eigentum anwiesen.

Meine Sachen wurden niedergestellt, ich spülte Haupt und Hände in frischem Quellwasser, und dann rief Frau Martha zum Abendessen, welches den Kleinen zu Liebe frühzeitig eingenommen wurde.

Das wolkenloseste Familienglück umgab mich. Die Buben erzählten Jagderlebnisse und die kleine Eva legte mir ihre Puppe in den Arm. – Dann saßen wir noch im kühlen Abenddämmer im Garten, bis der Oberförster die Pfeife ausklopfte und aufstand.

›Nun wird für heute Feierabend gemacht, mein junger Freund!‹ sagte er, ›ich muß beizeiten aufstehen und Sie werden die lange Eisenbahnfahrt auch gern aus den Knochen schlafen wollen. – Gott befohlen, – Sie haben morgen noch Ruhetag.‹

Wir schüttelten uns die Hände und gingen zur Ruhe. –

Ein Gefühl behaglichsten Friedens überkam mich. Freundliche Melodien gingen mir durch den Kopf, als ich mich zum Fenster hinauslehnte und die balsamische Luft atmete. Wie schön war es hier! Der Mond stand über dem dunklen Wald und goß sein Silberlicht durch mein Stübchen, daß es taghell erleuchtet ward. Ich löschte die Kerze und schaute voll trunkenen Entzückens in den stillen, nebelweißen Forst hinaus.

Nur liebe, frohe Gedanken beschäftigten mich. Da schlug es vom fernen Dorfkirchturm die zehnte Stunde. Die Luft wehte kühler, und ich schloß das Fenster und trat zurück.

Das Zimmer lag in dämmerndem Grau, nur quer über den Tisch ergoß sich ein breiter Mondstrahl und traf den Blumenstrauß. Ein grellweißer Fleck leuchtete mir schier phosphoreszierend entgegen und blendete mir das Auge.

Ich trat herzu und sah eine große, voll erblühte Wasserrose, welche mir geradezu aufdringlich die Blicke bannte.

Ein unbehagliches Gefühl, – ich möchte es Ärger über diese Störung meines fröhlich idyllischen Träumens nennen – überkam mich.

Was sollte die Armsünderblume hier unter Rosen, Lilien und Gelbveiglein?

Seerosen bringen Unglück ins Haus, man sagt: ›so viel Wassertropfen, wie sie im Teich getrunken, so viel Thränen trägt sie unter das Dach.‹ Ich hatte diese bleiche, sentimentale Blume niemals geliebt. Fort mit ihr! Ich faßte den zarten Kelch mit rauher Hand, riß die Blüte aus der Vase, trat an das Fenster und schleuderte sie hinaus auf die sandige Straße, welche das Haus vom Wald trennte. Dann zündete ich Licht an und begann mich langsam zu entkleiden. Die Musterung eines kleinen Nebenzimmers, in welchem ein paar allerliebste Jagdscenen an den Wänden hingen, amüsierte mich, und als ich mich zu Bett legte, hatte ich die Wasserrose vollkommen vergessen.

Ich schlief sogleich ein und mußte wohl schon länger als eine Stunde gelegen haben, als ein seltsames Geräusch mich weckte.

Ich hörte leises, herzbrechendes Schluchzen neben mir.

Was war das?

Ich schnellte in die Höhe und rieb mir die Augen. Das Zimmer war im Vollmondlicht so hell, daß ich die Gegenstände erkennen konnte, wenn auch nicht scharf und deutlich. Ich wende das Haupt seitlich – und ein jäher, gurgelnder Laut der Überraschung entfuhr mir. Neben meinem Bett standen zwei weiße, nebelhafte Gestalten, deren Gesichter ebenso geisterhaft grell zu mir herab leuchteten, wie vorhin der Kelch der Wasserrose.

Ich wollte aufspringen, wollte nach dem Hirschfänger greifen … unmöglich, ich lag wie gelähmt, unfähig ein Glied zu rühren, und ich fühlte, wie mir kalter Schweiß auf die Stirn trat.

Das leise Weinen verstummte. Die nächststehende Gestalt neigte sich zu mir und flüsterte: ›Wehe dir, Grausamer, Erbarmungsloser, der du die bleiche Rose im Staub der Straße sterben läßt! Weißt du nicht, daß sie über unserm Grab gewachsen ist! Daß ihre Wurzeln unser Herzblut getrunken? Daß sie drunten im kühlen See unser Gebein geschaut? Wehe uns, daß wir uns so lieb hatten!‹ Und dann erstickte die Stimme abermals in leisem, qualvollen Schluchzen.

Nun neigte sich auch die andere Gestalt und sprach mit leiser, aber tieferer Männerstimme: ›Versündige dich nicht an den Blumen! Du weißt nicht, aus welch liebeswunden Herzen sie aufgewachsen sind! Du bist glücklich! Du liebst und wirst geliebt! Du darfst dein Lieb in Ehren küssen! Uns aber hat die mitleidslose Liebe in den Tod getrieben, denn ihr fehlte der Segen und das Glück. Wir schlafen still und einsam in dem See, die weiße Blume entsproß unserm Gebein, der einzige Schmuck unsres Grabes! Nun wird sie im Straßenstaub zertreten! Wehe uns!‹ Die Stimme hatte leise, sehr schnell gesprochen, und gleichzeitig klang auch über die Lippen der bleichen Frau ein Schrei. ›Walther! verflucht für alle Ewigkeit!‹ – Für alle Ewigkeit …‹

 

III.

Ein wildes Grausen packte mich. Voll übermenschlicher Kraft sprang ich auf die Füße. Vor meinen Blicken zerrannen die weißen Spukgestalten wie Nebel.

Ich fühlte, daß mein Haar sich sträubte; kaum vermochte ich Licht zu entzünden.

Dann stürzte ich an das Fenster. Leer und still lag die Straße im Mondenschein, – in einer Sandfurche blinkte die Seerose in grellem Weiß.

Still – leer und einsam um mich. Alle Thüren fest verschlossen.

Was war es gewesen?

Ein Traum? Alpdrücken? fraglos; die infame Blume hatte mich erregt, und die Rosen und Lilien dufteten zu stark. Ich trug sie in das Nebenzimmer und legte mich nieder.

Aber ich fand keine Ruhe. Es zog mich wie mit unheimlichen Gewalten zu der Wasserrose. Ich konnte nicht anders – ich mußte mich aus dem Fenster schwingen und sie zurück holen. Ich schalt mich selber einen Narren, einen feigen Einfaltspinsel, aber gleichviel, ich trug die Armsünderblume in das Nebenzimmer, faßte sie scheu, mit spitzen Fingern an und stellte sie ins Wasser. Sie sollte nicht im Straßenstaub sterben.

Gegen Morgen erst schlief ich wieder ein. Als ich zum Frühstück kam, sah mich die Oberförsterin mit einem seltsam forschenden Blick an, und auch ihr Gatte, welcher just aus dem Wald zurückkam, musterte mich mit eigentümlichem Gesicht.

›Sind Sie krank gewesen, lieber Cörlin? Wir hörten Sie gegen zwölf Uhr im Zimmer hantieren?‹

Ich ward verlegen. ›O nein – ich bin ganz wohl –›

›Sie sehen so blaß aus?‹

›Ich träumte schlecht – weiter nichts‹

›Ah? – Können Sie nicht erzählen?‹

Nach einigem Zögern gab ich mein unheimliches Erlebnis zum besten, in der festen Überzeugung, ausgelacht zu werden.

Ich irrte mich.

Der Oberförster starrte finster vor sich hin, und seine kleine Frau ward totenbleich und barg schaudernd das Gesicht in den Händen. ›O, Adolf, wie wie entsetzlich! ja ganz recht, er hieß ja Walther!‹

Atemlos lauschte ich auf. ›Wer hieß Walther? Ich beschwöre Sie – sagen Sie mir, ob mein Erlebnis kein Traum gewesen?‹

›Unbegreiflich!‹ murmelte der Oberförster, ›verfluchte Spukerei … hol sie …‹

Erschrocken legte ihm Frau Martha die Finger auf den Mund. ›Versündige dich nicht! Du hörst, sie finden keine Ruhe … und im See also liegen sie … o Herr, mein Gott, warum hat man damals nicht dort nachgesucht!‹

›Zwei Meilen von hier?‹

Ich ward fieberisch erregt. ›Herr Oberförster … von wem sprechen Sie? Lassen Sie es mich wissen – ich habe ein Recht dazu!‹ rief ich leidenschaftlich.

Das Ehepaar wechselte einen schnellen Blick, dann nickten sie einander seufzend zu, und Martha flüsterte unter Thränen: ›Erzähle es ihm, Adolf! es ist ja kein Geheimnis, und im Dorfe erfährt er es doch!‹

Der Oberförster paffte ein paar mächtige Dampfwolken aus der Pfeife und starrte nachdenklich vor sich hin, dann hob er jäh den bärtigen Kopf und sprach mit beinahe rauher Stimme.

›Gewiß erzähle ich es Ihnen! Warum auch nicht? Ihr Traum ist so seltsam … hm … wir finden nun vielleicht das Grab im See! Die Jungens haben gestern eine Partie nach Oberdorf gemacht und die Seerose mitgebracht, die werden die Stelle schon wiederfinden. Also die Geschichte! Als wir jung verheiratet waren und mein Frauchen oft Langeweile hatte, kam sie auf den genialen Einfall, Sommergäste im Hause aufzunehmen. Wir inserierten und hatten viel Glück damit. Liebenswürdige, charmante Menschen zogen Jahr für Jahr unter unser Dach, wir verlebten frohe amüsante Wochen, und mein Frauchen sparte von den Einnahmen tüchtig in den Strumpf. Da kam im letzten Spätherbst noch ein Brief von Herrn Walther Sigurd, welcher anfragte, ob er und seine junge Frau für etliche Wochen in tiefster Zurückgezogenheit bei uns wohnen könnten.

Ich sagte zu, und nach drei Tagen traf das junge Paar ein. Menschen, die es einem schon durch den Anblick allein anthun konnten. Er ein schlanker, blonder, bildhübscher junger Mann von vorzüglichen Manieren, sie ein blasses, schwarzäugiges, engelgleiches Wesen, mit sanftem Lächeln, wunderbar feinen Händchen und einem Teint, wie ein weißes Rosenblatt. Wir gewannen sie geradezu lieb.

Sie schienen aber bei all ihrer zärtlichen, überströmenden Liebe doch nicht glücklich, wir erklärten es uns als Angst der jungen Frau um die Gesundheit des Gatten, welcher ein ernstes Halsleiden zu haben schien, er war wenigstens sehr heiser und hustete oft. Die junge Frau weinte heimlich sehr viel. Sie schrieb in der ersten Zeit Briefe, welche sie selber zur Post trugen. Nur einmal kam eine Antwort darauf, und diese mußte wohl sehr traurige Nachrichten enthalten, denn das junge Paar schien außerordentlich erregt und unglücklich.

Sie verlebten fast den ganzen Tag im Wald, bis ein heftiger Regen sie zwang, die Zimmer aufzusuchen. Droben die beiden Zimmer, welche Sie jetzt bewohnen, lieber Cörlin. Von Anfang an hatte man viel musiziert. Die junge Frau sang reizend, und als eines Tages meine Martha ihr Entzücken äußerte, warf sich Lea, so war der Name der Fremden, leidenschaftlich an die Brust des Gatten und rief mit stolzer Seligkeit: › Sein Werk ist alles, was ich kann! Er war mein Lehrer!‹

›Aha – und beim Gesang fanden sich Ihre Herzen?‹ neckte meine Frau.

Lea errötete heiß und nickte stumm mit dem Köpfchen. ›Ja der Gesang und die Stunden, die sind an all unserem Glück schuld!‹ flüsterte sie, gleicherzeit aber stürzten ihr die Thränen aus den Augen, und sie eilte in das Nebenzimmer, wohin ihr der Gatte seufzend folgte.

Zeitweise aber waren sie wieder von strahlender Heiterkeit, ja beinahe voll Übermut; sie jubelten durch den Wald wie zwei sorglose Kinder, welche nur an den Augenblick denken.

Sie schienen voll lebhafter Spannung auf einen postlagernden Brief zu warten. Tag für Tag wanderten sie zum Dorf, und je mehr die Zeit verging, desto trübseliger und mutloser schauten sie drein.

Dann kam ein Tag – grau – neblig – sonnenlos.

Lea war bleicher wie je. Wie ein schöner, lebloser Geist stand sie am Fenster, an die Brust des Geliebten gelehnt, Thränen an den Wimpern.

Walther hatte seine Wochenrechnung bezahlt, dann zogen sie sich sehr zeitig zurück.

Wir hatten das Klavier in ihr Zimmer gestellt, und bald hörten wir die junge Frau singen. Aber lauter ernste, klagende, todtraurige Lieder. So ist mir eins ganz besonders im Gedächtnis geblieben, dessen schwermütig bange Melodie und Worte mich wochenlang verfolgt haben, es ist eins der Eulenburgschen Rosenlieder Sie sind Teil der »Skaldengesänge«, acht Hefte, gedichtet und in Musik gesetzt von Philipp zu Eulenburg (1847-1921), der zeitweise ein Günstling Kaiser Wilhelms II. war, bevor er nach der Harden-Eulenburg-Affäre (1906-08) aufgrund seiner Homosexualität endgültig aus der Öffentlichkeit verschwand, nachdem schon um 1900 sein Einfluss gesunken war, den er bis dahin als Kopf des Liebenberger Kreises, der Kamarilla rund um den deutschen Kaiser, besessen hatte. – D.Hg., ›Seerose‹ überschrieben! Kannst du es noch singen, Martha?

»Der Abend ist still und dunkel der See,
Im Schilfe leuchten die Rosen wie Schnee,
Wir träumen zusammen im schwebenden Boot
Und schweigen in lastender Herzensnot.
Es kommen die silbernen Sternelein
Und tauchen ihr Licht in das Wasser hinein,
Da kühlet ihr Händchen mein Lieb in dem See,
Ach kühlte das Wasser auch unser Weh!
Es hat keine Dornen die Wasserros'
Sie trägt den Frieden in ihrem Schoß,
Bei ihr auf dem leuchtenden Seeesgrund
Da werden die Herzen alle gesund!«

Damals ergriff mich das Lied so ganz besonders, und heute, nach Ihrem Traum, weiß ich wohl auch warum.

In der Nacht, welche darauf folgte, hörten wir leise Schritte über uns in dem Zimmer, welches das junge Paar bewohnte.

Auch war es uns, als ob eine Thür vorsichtig geöffnet würde.

Wer aber hat Arg auf so etwas, wenn man so völlig ahnungslos ist, wie wir naiven Menschen es damals waren!

Ich mußte frühzeitig in den Wald hinaus, und als ich heim kam, da hörte ich von meiner verzweifelten kleinen Frau das Furchtbare.

Vergeblich hatte sie auf den Ruf nach dem Kaffee gewartet.

Als es zehn Uhr geschlagen und droben alles totenstill geblieben, ergriff sie eine unerklärliche Angst.

Sie schickte zuvor die Buben, daß sie unter dem Fenster rufen sollten.

Keine Antwort.

Da stieg sie mit zitterndem Herzen selber empor. Die Thüre war unverschlossen, das Zimmer leer. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Wenige Worte nur darauf. Ein herzliches Lebewohl – eine flehende Bitte, zu vergeben und für ihre armen Seelen zu beten. Ein unerbittliches Schicksal treibe sie vereint in den Tod. Ihre Angehörigen bitte man zu benachrichtigen. Die Adresse des Berliner Bankiers war angegeben.

Meine kleine Frau war einer Ohnmacht nahe, wie gelähmt vor Entsetzen sank sie nieder.

In demselben Augenblick kam ich heim, und die Kinder stürmten mir entgegen und brachten mich zu der schluchzenden Mutter.

Was ich an Leuten zur Hand hatte, machte ich mobil, die Unglücklichen aufzusuchen, ich selber warf mich auf ein Pferd und jagte in die Stadt, die Polizei zu benachrichtigen.

Tagelang suchten wir vergeblich.

Jeder Busch im Walde ward abgepirscht. An den See im Oberdorfer Walde hat kein Mensch gedacht, er liegt zwei Meilen von hier.

Anfänglich kamen sehr erregte Depeschen von den Angehörigen der jungen Frau. Vater und Stiefmutter schienen mehr empört und sittlich entrüstet über die ungeratene Tochter, welche heimlich aus ihrem Hause entflohen, als erschüttert über das tragische Ende dieses jungen Liebestraumes.

Der Herr Bankier traf schließlich persönlich hier ein. Ein unangenehmer, aufgeschwemmt dicker Patron, mit wulstigen Lippen und blassen, unsagbar kalten und gefühllos blickenden Augen.

In cynischer Weise steinigte er seines toten Kindes Ehre noch im Grabe.

Er erzählte, daß sich die überspannte kleine Gans an ihren Gesanglehrer, einen simplen, bettelarmen Opernsänger ›verplempert‹ habe, und daß er selbstverständlich nicht in die Ehe mit solch einem Hungerleider gewilligt habe. Der Kerl sei zu allem Überfluß noch an einem schweren Halsleiden erkrankt, welches den Verlust der Stimme und seiner Stellung an der Oper zur Folge gehabt habe. Nun sei er raffiniert genug gewesen, die reiche Bankierstochter völlig in seine Netze zu ziehen. Alle Vorwürfe, alle Strenge habe nichts gegen den hirnverbrannten Eigensinn Leas vermocht. Ihr Verhältnis zu der Stiefmama, deren Jugend und Schönheit diejenige der Tochter in Schatten gestellt, sei von Anfang an ein äußerst gespanntes gewesen. Um der skandalösen Liebelei ein Ende zu machen, habe er das verblendete Mädchen nach Brüssel in ein Klosterpensionat geschickt. Von dort habe sie sich von ihrem gewissenlosen Galan entführen lassen, und das habe alle Bande, welche sie an das Elternhaus geknüpft, zerschnitten. Es habe auch nicht lange gedauert, so seien die lamentabeln Bettelbriefe angekommen. Rührend poetische Redensarten, herrliche Phrasen von Vatersegen und Vergebung – von der Allgewalt der Liebe und Treue bis in den Tod, – und zum Schluß die Bitte um Unterstützung, da sie nichts mehr zu leben hätten. Na, er habe ihr gebührend geantwortet. Dann sei abermals ein sehr kläglicher Brief mit Todes- und Selbstmorddrohungen gekommen, worauf er der ungeratenen Tochter freigestellt habe, heimzukehren, aber ohne Liebhaber. Ihr wolle er verzeihen, dem Lumpenkerl von einem Komödianten aber nie, – in Ewigkeit nicht. Nun sei die verrückte Person thatsächlich ein Opfer dieses Spekulanten geworden.

Wir alle konnten kaum den Haß gegen diesen herzlosen, gemeinen Geldprotz, welcher so selbstbewußt von seinen Millionen sprach und sein Kind dem Hunger und Elend geopfert hatte, unterdrücken, und er hat es uns allen wohl angemerkt, wie wir über ihn dachten. Als am fünften Tage noch keine Spur der Leichen entdeckt war, brach er in ein rohes Lachen aus.

›Habe ich es mir doch gleich gedacht, daß der saubere Herr Walther nur eine kleine Komödie in Scene gesetzt hat, um uns einen Schreckschuß einzujagen! Die beiden und sich erschießen! Haha! Heimlich auf und davon sind sie gegangen, und werden in irgend einem behaglichen Winkel den günstigen Moment abwarten, um wieder aufzutauchen. Wenn man eine Tochter als Tote beweint hat, ist man mürbe und nachgiebig geworden, das ist der feine Plan, welchen sie verfolgen! Was da! Morgen früh reise ich wieder ab! Werde mich gerade von der Bande nasführen lassen!‹

Wir standen stumm und betroffen vor dieser Mutmaßung, und ich gestehe es zu meiner Schande ein, ich war ein paar Stunden lang beinahe selber diese Ansicht.

Aber eine Stimme in meinem Herzen schrie auf dagegen, wie gegen einen sündhaften Verrat. Wie anders hatte ich die beiden lieben, vortrefflichen jungen Menschen kennen gelernt, wie lieb hatten wir sie gewonnen, wie unmöglich war es, daß sie ein solch frevles Spiel treiben sollten.

Unruhig wälzte ich mich nachts im Bette und fand keinen Schlaf.

Droben in dem Zimmer des jungen Paares schlief der Bankier.

Plötzlich ein Schrei, ein wildes Keuchen, ein angstvolles Hilfeschreien.

Wie ich die Treppe hinauf gekommen bin, weiß ich selber nicht.

Ich fand den alten Herrn aufrecht im Bett sitzend, mit wilden Augen um sich schauend, das Gesicht von Angst und Grauen verzerrt.

›Sie waren da! Alle beide!‹ stöhnte er, sich mit zitternden Händen an mich klammernd, ›und Lea weinte und schluchzte – aber Walther war entsetzlich … und fluchte mir …‹

›Sie träumen! Sie haben geträumt, verehrter Herr.‹

›Nein! nein! – es war kein Traum! Fort hier! nehmen Sie mich mit sich … ich kann nicht allein sein … Wo sind meine Kleider … helfen Sie mir – ich kann nichts fassen …‹

Ich nahm ihn mit hinab zu uns, wir mußten die ganze Nacht bei ihm sitzen. Seine Aufregung und sein Entsetzen grenzten an Wahnwitz.

Gegen Morgen ward er ruhiger, nur sein Blick blieb scheu und verstört.

›Thorheit!‹ spottete er, ›ich habe selbstverständlich geträumt und Alpdrücken gehabt, die ganze Geschichte hat mir auf den Nerven gelegen! Auch das noch! Seine Gesundheit zusetzen um dieser beiden …‹ er verschluckte das kommende Wort, und sein Blick schweifte furchtsam durch das Zimmer.

Sowie die Sonne aufgegangen war, hielt es ihn nicht länger. Er befahl den Wagen und entfloh, wie von Furien gepeitscht.

Wir glaubten nicht an einen Spuk, sondern waren überzeugt, daß sein böses Gewissen ihm den entsetzlichen Traum vorgespiegelt hatte.

Das Zimmer des unglücklichen jungen Paares stand nun leer, bis nach Weihnachten, wo verschiedene Gäste zu den Saujagden eintrafen. Verschiedene Herren logierten darin, beherzte, kaltblütige Jäger und Offiziere, welche erstens keine Gespensterfurcht kannten und zweitens keine Ahnung von dem Vorgefallenen hatten.

Seltsamerweise beklagten sich sämtliche Herren über ein wundersames leises Weinen und Schluchzen, welches sie längere Zeit in der Nacht beunruhigt habe!

Sie können sich denken, wie gespannt wir waren, ob auch Sie den Spuk erleben würden, und nun kommt er gar in leibhaftiger Gestalt, um Ihnen das so lange gesuchte Grab zu weisen.‹

Eine kleine Pause entstand.

Auf das tiefste ergriffen saß ich, den Kopf in die Hände gestützt, und schämte mich nicht, daß es feucht an meinen Wimpern zitterte.

›Und nun wollen wir uns den Dorfgendarm holen und in dem See forschen, ob Ihr Erlebnis thatsächlich ein unerklärlicher Spuk oder nur ein unheimlicher Traum gewesen!‹ fuhr der Oberförster erregt fort. ›Hole uns die Jungens herzu, Martha, sie sollen uns die Stelle im See zeigen, wo sie die Wasserrose gepflückt haben‹.«

 

Der Forstassessor schwieg und strich mit dem Taschentuch tief aufatmend über die Stirn.

»Nun … und fanden Sie etwas?« flüsterte die Baronin atemlos.

Er nickte. »Drunten im See, just an der Stelle wo noch ein paar Blätter der Wasserrose schwammen, fand man die noch sehr wohlerhaltenen Skelette des unglücklichen Paares.

Die Behörde konstatierte, daß es untrüglich diejenigen des im vergangenen Spätherbst vergeblich gesuchten Opernsängers und seiner Gattin waren.

Man erstattete den Angehörigen die Anzeige, und unter großer, allgemeiner Teilnahme wurden die Liebenden auf dem nächsten kleinen Dorfkirchhof zur ewigen Ruhe bestattet. Unser Gebet und unsere Thränen begleiteten sie. Das Grab verschwand unter den Blumen, welche es überhoch bedeckten, abends aber, als es still und einsam dort geworden und die Nachtigall ihre leise Totenklage sang, habe ich die welkende Wasserrose auf dem kleinen Hügel niedergelegt. Nun ruhte sie abermals über ihren Herzen und ward nicht im Straßenstaub zertreten.«

»Und was sagte der Vater?« fragte Leutnant Eberhard mit gedämpfter Stimme.

»Nichts; es traf eine Antwort an die Polizeibehörde ein, daß der Herr Bankier sich schon seit zwei Monaten in einer Irrenanstalt befinde. Ein Verfolgungswahn sei bei ihm ausgebrochen, er behaupte, überall das Weinen seiner verstorbenen Tochter zu hören. Die gnädige Frau befinde sich auf einer Reise nach dem Süden und habe keine Adresse hinterlassen. Da große Summen des Vermögens vermißt wurden, sei bereits der Verdacht aufgestiegen, daß sie mit einem Parforcereiter des Cirkus S. heimlich entflohen sei. Die Untersuchung solle im Interesse der unmündigen Kinder eingeleitet werden.«

»Entsetzlich! Welch ein furchtbares Strafgericht!«

In tiefe Gedanken verloren saß die kleine Gesellschaft im strahlenden Sonnenschein, umgaukelt von Libellen und Schmetterlingen, umwogt von der duftigschwülen Juliluft, und dennoch fröstelte es uns bis in das tiefste Herz hinein.

»Das ist allerdings ein seltsames Erlebnis!« nickte Gretels Vater, »ein Spuk, welchen ich beim besten Willen nicht aufzuklären wüßte!«

»Und spukte es auch später noch in Ihrem Zimmer, lieber Cörlin?«

»Nein, Herr Forstmeister. Ich habe seit jener Nacht nie wieder etwas Außergewöhnliches darin erlebt.«

»Und Ihre Erzählung ist thatsächlich Wahrheit?«

»Sie ist Wort für Wort eine Thatsache. Ich bürge mit meiner Ehre dafür.«

»Seltsam, höchst seltsam. Ob es der Wissenschaft der Zukunft vorbehalten ist, die Rätsel zu lösen, welche uns zwischen Himmel und Erde noch wundersam umgeben? Wer mag es sagen!« – –

Der Wind erhob sich, und die blaue Glockenblume, die Armsünderblume zu unseren Füßen wiegte sich auf dem schlanken wie in zweifelnden Gedanken.

Ein geheimnisvolles Rauschen und Flüstern ging durch den Wald.

Es war sehr still um uns her geworden, oder bildeten wir es uns nur ein?

Die Tannen warfen dunklere Schatten, und der Stamm der Birke leuchtete unheimlich aus dem Gebüsch hervor.

Die Baronin erhob sich jählings und griff nach den Handschuhen. »Wir wollen weiter fahren!« sagte sie leise, »es ist so einsam hier.«

»Ja, hinab unter Menschen! Die Kurmusik wird bald spielen.«

Voll eigentümlicher Hast ward unser ehedem so heiteres Zigeunerlager abgebrochen. Ein unerklärliches Verlangen nach Welt und Leben ergriff uns. Die Wagen rollten davon.

Still lag der Kreuzweg im Sonnenglanz und die Armsünderblume nickte verlassen im Wind.



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