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Joseph Viktor v. Scheffel
über Visionen und Vorahnungen.

 

I.

Wir leben in dem Zeitalter der Entdeckungen und Lösungen großer Rätsel. Wer hätte sich vor fünfzig Jahren etwas von der Existenz der X-Strahlen, von all den Wundern der Elektricität, von lebenden Photographien, von Bazillen und Serums träumen lassen? Und nun sind ein paar geniale, große Männer entstanden, welche die Schleier von den »verhüllten Bildern« gezogen, welche die Geheimnisse entdeckt haben, welche seit Jahrtausenden und Abertausenden unerforscht in ihrer Verborgenheit schlummerten. Der Menschengeist aber ist in unserem Jahrhundert noch lange nicht am Ende seines Forschungsdranges angelangt.

Im Gegenteil, die märchenhaften Erfolge der großen Gelehrten haben ihn wachgerüttelt und ihn thatendurstiger wie je auf die große Rennbahn gedrängt, deren Preis und Ziel Erfindung und Erfolg heißt!

Eine fiebrische Ungeduld gärt in den Köpfen, tiefer und immer tiefer einzudringen in das Wunderreich der Schöpfung, immer neue Dinge zu erforschen, immer neue Schleier zu lüften, immer Erstaunlicheres, Wunderbareres, Unfaßlicheres zu entdecken!

Himmel und Erde sind nicht mehr sicher vor dem Spürsinn der modernen Menschen; drei Dimensionen genügen ihrem Wissensdurst nicht mehr – sie strecken kühn die Hände selbst nach der vierten aus und versuchen zu haschen und festzuhalten, was bisher selbst den Geschicktesten und Eifrigsten durch die Finger schlüpfte –, sie wollen nicht mehr glauben und vermuten, nein, sie wollen sehen und beweisen!

Was? Daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als sich unsere Schulweisheit träumen läßt.

Welch ein weites, unergründliches, noch so völlig unerforschtes Gebiet in dem unendlichen Reich der Natur! Warum blieb es allein noch verschlossen, während tausend andere Riegel gesprengt, tausend andere Thüren aufgethan wurden? Gerade jenes geheimnisvolle Reich, auf welches alle Menschenaugen voll banger, scheuer Sehnsucht gerichtet sind, zu welchem so mancher Seufzer emporschallt, an welches so ungezählte, brennende Fragen gerichtet werden, so oft wie ein liebes Auge sich im Tod geschlossen, so oft wie ein Grab gegraben ward.

Der Tod ist die natürliche Folge alles Lebens, und dennoch wehrt und sträubt sich alles Leben dagegen, wie vor der grausamsten Unnatur!

Wohin nach dem Tode? Was dann?

Keine Frage beschäftigt den Menschengeist mehr denn diese. Seit der erste Mensch die Augen zum ewigen Schlaf geschlossen, hat die trauernde Liebe geseufzt: Was ward aus ihm?

Im Palast und in der Hütte steht das drohende Gespenst, der Tod, gleich furchtbar und rätselhaft an der Thür – König und Bettler liegen in gleicher Todesangst auf dem Sterbebett und jeder heftet den Blick voll bebender Erwartung zum Himmel, dessen Thür so fest und ewig verschlossen bleibt, daß aller Menschenwitz und alle Klugheit vergeblich daran rütteln. Je hartnäckiger aber der Quell des Lichts verschlossen bleibt, desto brennender wird der Durst aus seiner Flut der Erkenntnis zu schlürfen, desto nagender das Verlangen, Unerreichbares zu erreichen.

So lange Menschengedanken zurückreichen, zeigt sich das Streben, ein Blick in das Jenseits zu werfen. Die Hexe von Endor In der Bibel (1. Samuel 28) wird berichtet, wie Saul vor der Entscheidungsschlacht gegen die Philister in Angst verfällt und übernatürlichen Beistand sucht. Sein ehemaliger Förderer, der Prophet Samuel, ist verstorben, und Gott hat sich von Saul ab- und dem jungen David zugewandt, der in den Diensten eines Philisterfürsten steht. Da Saul alle Geister- und Totenbeschwörer vertrieben und ihre Tätigkeit verboten hat, findet sich nur noch eine Totenbeschwörerin in Endor, zu der Saul sich begibt. Nach einigem Hin und Her erscheint der Schatten des toten Samuel und prophezeit Saul dessen Niederlage und Tod. Die Schlacht kostet ihn dann Thron und Leben. (Siehe »Der historische Jesus: Die Biographie, die Botschaft, die Überlieferung« von Johannes Neumann. 2022. Anhang 445. – D.Hg.) war nicht die erste, welche vor den Augen sehnender Ungeduld und trotzigen Verlangens die Schleier einer anderen Welt lüften wollte; Zauberer und Sibyllen haben ihr Wesen getrieben und ihre Macht über den leichten Sinn der Mitmenschen ausgeübt, so lange es Geschöpfe gab, welche weiter dachten als bis an das Grab.

Was Wunder, wenn die Gelehrsamkeit des neunzehnten Jahrhunderts, welche so viel Unmögliches schon möglich gemacht, die Spielerei des Geisterbeschwörens in bittern Ernst verwandeln und auch in jene Finsternis der Grabesnacht Licht bringen will.

Der Glaube, welcher bisher die einzige Brücke über den Abgrund zwischen dort und hier schlug, genügt der aufgeklärten Jetztzeit nicht mehr – die Stimme der Propheten verklingt in dem Lärm der klugen, geschäftigen Welt, welche keine Zeit mehr zum Grübeln und Sinnen, zum frommen Sichversenken in heilige Glaubenstiefen hat, welche nur nachsehen und es bewiesen haben will – daß es noch Dinge zwischen Himmel und Erde gibt.

Wie gewaltig dieser Zug nach Enthüllungen durch das Jahrhundert geht, beweist der Spiritismus, welcher üppiger und erfolgreicher emporwächst wie je, welcher von Amerika herüberwuchert, und dessen Bedeutsamkeit durch Betrug und Humbug erwiesen wird, welche als Unkraut zwischen dem Weizen aufsprossen.

Die Gelehrsamkeit bemächtigt sich der brennenden Frage – die Wissenschaft gewinnt Interesse dafür, wie lange noch – und ein neuer, gewaltiger X-Strahl flammt auf, welcher die Dunkelheit zerreißt und der Menschheit endlich Antwort auf die sehnlichste aller Fragen gibt: »Was wird aus uns?«

Als ich vor Jahren den Novellenband »Sternschnuppen« 1890. veröffentlichte – welcher eine Reihe von Spukgeschichten mit natürlicher Auflösung enthält, ward ich mit unzähligen Zuschriften bestürmt, welche mir bewiesen, daß die große Menge ein ganz besonders lebhaftes Interesse an diesem Thema nimmt. Obwohl es manche mit Genugthuung zu erfüllen schien, daß jedweder Spuk eine natürliche Ursache haben und schließlich aufgeklärt werden müsse, neigte doch die Mehrzahl der Leser der Ansicht zu, daß die unaufgeklärten Gespenstergeschichten die aufgeklärten bei weitem überstiegen. Man hat mich seit jener Zeit ununterbrochen mit Bitten heimgesucht, der Gerechtigkeit Genüge zu thun und nun auch eine Anzahl Spukgeschichten zu veröffentlichen, welche den Beweis erbrächten, daß nicht alles Unfaßliche mit der Vernunft zu erfassen sei.

Gespenstergeschichten werden zu Tausenden erzählt, und wenn das große und kleine Ehrenwort jeder alten Scheuerfrau und Kindermuhme eine Brücke wäre, so wandelten wir längst im goldnen Licht und wüßten es ganz genau, daß »nachts um die zwölfte Stunde« rasselnde Totengerippe auf dem Kirchhof tanzen – arme Sünder ihren Kopf unter dem Arm spazieren tragen und bleiche Ahnfrauen ruhelos durch alte Schlösser wandeln.

Solche Gespenstergeschichten entbehren aber wohl für dasjenige Publikum, welches dieses Thema ernst behandelt sehen möchte, jedwedes Interesse, und so habe ich denn nach Gewährsmännern ausgeschaut, deren Persönlichkeit der beste Bürge für ihre Worte ist.

Ihre Erlebnisse will ich wiedergeben, so, wie ich sie selber vernommen, und den Anfang mit einer Episode aus dem Leben Joseph Viktor v. Scheffels machen, welche noch wenig bekannt sein und darum doppeltes Interesse erwecken dürfte.


Der erste Schnee wirbelte durch die Luft, als der Zug, welcher meinen Vater und mich zum erstenmale als Gäste nach der Seehalde brachte Der Vorfall ereignete sich 1876; die Autorin war damals sechzehn Jahre alt, wie es später heißt. – D.Hg., auf dem Bahnhof von Radolfzell einfuhr. Die kraftvolle, hohe Gestalt des Altmeisters stand auf dem Perron, der graue Kragenmantel vom Wind gezaust, der breitkrempige Filzhut zum Schutz gegen die ungestüm tanzenden Flocken niedergebogen.

Lachend begrüßte er uns, und die Fahrgäste, welche ihn erkannten, brachten ihm ein jubelndes Hurrah, welches sich von Fenster zu Fenster den ganzen Zug entlang fortpflanzte.

Doppelt traulich und behaglich bei dem unwirtlichen Wetter winkte uns die schmucke Seehalde vom Ufer des Sees zu – und je drohlicher der Sturm sie umpfiff und die Lichter auf dem festlich geschmückten Eßtisch flackern ließ, um so heiterer saßen wir in kleiner Runde und genossen die unvergeßlichen Stunden dieses Zusammenseins.

Die Uhr verkündete die elfte Stunde, als wir uns endlich »gute Nacht« wünschten und Scheffel seine »wegemüden, armen Wandersleut« persönlich nach den Logierzimmern geleitete. Dieselben lagen im ersten Stock, und zwar hatte der Dichter des Ekkehard ein helles, luftiges Eckzimmer für mich und das direkt daneben liegende Stübchen für meinen Vater bestimmt.

Scherzworte flogen noch hin und her, dann ein fester Händedruck: »Nun träumen sie unter meinem Dach höflicherweise von all' meinen Romanhelden, die es Ihnen angethan haben, Fräulein Nataly!« neckte Meister Josephus, und dann schloß sich die Thür – wir waren allein.

Während die Handkoffer ausgepackt wurden, plauderten Vater und ich noch in angeregtester Weise, dann pfiff der alte Soldat »Retraite«, und auch seine Thür schloß sich.

Ich war sehr müde und schlief sogleich ein und hatte wohl auch recht fest und tief geschlafen, als ich plötzlich ohne jede Veranlassung erwachte. Es war eine mondhelle Nacht; ich erkannte jeden Gegenstand im Zimmer genau, und als meine Blicke schlaftrunken umherschweiften, hafteten sie plötzlich voll Entsetzen und Grausen auf der gegenüberliegenden Wand.

Als ich mich schlafen legte, hatte dort ein zweites Bett, mit weißer Decke überhangen, gestanden, jetzt aber – ich fühlte, wie mir der kalte Schweiß auf die Stirn trat – stand dort ein hoher, schwarzer Sarg, zu dessen Häupten und Füßen Lichter brannten, ja ich sah deutlich, daß auf dem Totenschrein blanke Waffen und ein Ordenskissen lagen.

Ich stieß einen Schrei des Entsetzens aus und starrte wie gebannt auf das Unfaßliche, Entsetzliche – als schon die Thür aufgestoßen ward und mein Vater mit der Frage, was passiert sei, hereinstürmte.

»Ein Sarg! ein Sarg!« stöhnte ich auf, Papa aber faßte das Feuerzeug auf meinem Tische und zündete Licht an.

»Wo ist ein Sarg?« fragte er höchlichst überrascht.

Ja, wo war er?

Gegenüber an der Wand stand still und friedlich das weißgedeckte Bett, kein Kandelaber, keine Waffe, kein Ordenskissen …

»Kind, Du hast geträumt! Ich sage es ja, Meister Scheffel hat ein viel zu opulentes Souper servieren lassen, und der alte Wein! – Na, hier trink ein Glas Wasser und schlaf weiter!«

Ich trank gehorsam das Glas aus, aber schlafen konnte ich nicht wieder. Ich ließ das Licht brennen und überlegte, ob ich wirklich nur geträumt haben könne. Nein, gewiß nicht, ich war fest überzeugt davon, ich hatte den abscheulichen Spuk viel zu deutlich gesehen.

Wie hätte ich auch auf solch einen absonderlichen Gedanken kommen sollen?

Wir hatten uns so lustig und vergnügt unterhalten, während des ganzen Tages nicht ein einziges Mal das Thema »Spuk« berührt, wie sollte ich ohne jede Veranlassung plötzlich Gespenster sehen?

Und doch mußte es – konnte es nur ein Alpdruck gewesen sein, was sollte der Sarg hier in dem traulichen Fremdenzimmer der modernen, neu erbauten Villa? Wir befanden uns ja in keinem Spukschloß, in dessen Mauern der Tod schon seit Jahrhunderten Einkehr gehalten, gottlob, hier in der Seehalde regierte noch das blühende Leben!

Solche Gedanken und das Glas Wasser thaten endlich doch ihre Schuldigkeit, und die anstrengende Schwarzwaldreise forderte wohl auch ihr Recht, ich schloß die Augen und schlief weiter.

Als ich jedoch am nächsten Morgen erwachte und das Stubenmädchen eintrat, lautete meine erste hastige Frage: »Josephine, wer hat zuletzt dort in jenem Bett geschlafen?

»In jenem dort? Ei, der Herr Excellenz v. F. aus Karlsruhe!« knixte die Kleine und berichtete, wie Herr v. F. und Frau Gemahlin jüngst zum Besuch da gewesen seien und wie schrecklich gerne der alte Herr hier gewohnt habe. Er werde wohl auch bald wiederkommen, denn Sehnsucht nach der Seehalde habe er immer.

Der alte Excellenz v. F.! O, nun war ich ganz beruhigt und fest überzeugt, daß mich ein böser Traum geängstigt hatte, denn vor vier Wochen war ich noch in Karlsruhe, im Elternhaus des Dichters Heinrich Vierordt Heinrich Wilhelm Vierordt (1855-1945), deutscher Schriftsteller und Heimatdichter. aus Karlsruhe. Vierordt identifizierte sich von Beginn an mit dem nationalsozialistischen Deutschland, schrieb unter anderem Lobgedichte auf Adolf Hitler. Daher wird sein künstlerisches Wirken heute sehr kritisch gesehen. Wegen seiner kriegsverherrlichenden Werke in der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkrieges wurde ihm im Sommer 2017 bestimmte Ehrungen (die Heinrich-Vierordt-Bank auf dem Friedhof Palmbach sowie die nach ihm benannte Vierordtstraße im Karlsruher Stadtteil Palmbach) posthum aberkannt. – D.Hg., mit dem charmanten Offizier zusammengetroffen, hatte ihn so frisch und lebensfroh an der Seite seiner jugendschönen, geistreichen Frau gesehen, daß der Gedanke an sein Ableben wie etwas ganz, ganz Fernes, Undenkbares erschien.

Als wir uns an dem Kaffeetisch versammelten, begrüßte mich Meister Josephus mit etwas besorgtem Gesicht.

»Nun Fräulein Nataly, sind Sie heute nacht etwa krank gewesen? Mir war es, als ob ich sprechen und Schritte in Ihrem Zimmer gehört hätte!«

Vater lachte: »Viel Lärm um nichts! Mein vernünftiges Mädel begann plötzlich Gespenster zu sehen, welche bei Kerzenlicht absolut nicht zu entdecken waren!«

»Gespenster? Ei der Tausend, in meiner Seehalde, die sich sonst stets zu aller Zufriedenheit aufgeführt hat, spukt es plötzlich? Nun, da bin ich begierig, was Sie geschaut haben mögen! Schnell, erzählen Sie, Jungfer Dichterin, derweilen Ihr Kaffee sich ein wenig verkühlt.«

Ich ward sehr rot und verlegen und wollte nicht mit der Sprache heraus: »Es war ja nur ein thörichter Traum, Meisterchen, und Träume sind Schäume, gar nicht wert, daß man sie der Ehre würdigt, von ihnen zu sprechen!«

»Nun, ich meine, bei einem solch absonderlichen Gespenstertraum kann man schon eine Ausnahme machen!« nickte Meister Josephus bedächtig, »mich interessieren die Träume allemal, weil sie ein gar so närrisches und oft recht konvexes Spiegelwerk unserer Gedanken sind! Lassen Sie uns erfahren, was in solch einem Poetenköpfchen für nächtige Bilder umherschwirren!«

Da erzählte ich – und seltsam, Scheffel lachte mich nicht aus, wie ich gefürchtet hatte.

Er wiegte nur nachdenklich das ergraute Haupt und seine lieben, ehrwürdigen Züge spiegelten ein Gemisch von Sorge und Sinnen.

»Welch ein übles Traumgesicht!« sagte er, »wie kommen Ihre jungen, lachenden Augen dazu, einen Sarg zu sehen? – Hm … Sie bringen das Phantom mit unserem lieben alten F. in Verbindung? Nun, dann hat es, so Gott will, keine böse Vorbedeutung; da hier! Gestern schreibt mir meine liebe Freundin noch gar heiter und guter Dinge und berichtet nur Erfreuliches von ihrem Gatten!«

Ich versicherte auch meinerseits, Excellenz v. F. noch vor wenig Tagen frisch und kerngesund gesehen zu haben, und Vater lenkte das Gespräch ab und versicherte, in dem Sarg habe nur der schwere Lachs gelegen, welchen wir gestern Abend als Majonnaise verspeist hatten, der habe Rache geübt für solch ein unfreundliches Beginnen! Er knüpfte eine Frage über die Fischerei im Bodensee daran, und nach wenigen Minuten war der nächtliche Spuk vergessen und ward auch nicht wieder erwähnt. Am Nachmittag reisten wir nach Sigmaringen weiter, abermals von Scheffel zur Bahn geleitet, und nur unter der festen Zusicherung entlassen, auf der Rückreise abermals Station in der Seehalde zu machen.

Wir versprachen es und hielten auch von Herzen gern Wort.

Wiederum hielt der Zug in Radolfzell und auch dieses Mal stand Freund Scheffel, auf seinen Stock gestützt, zu unserm Empfang bereit. Unvergeßlich aber wird mir der Ausdruck seines Gesichts bleiben.

Kein heiteres, schalkhaft liebenswürdiges Lächeln, ernst, um Jahre älter aussehend, mit kummervollem Blick schaute er mir in die Augen und streckte mir beide Hände entgegen: »Wissen Sie's schon?« fragte er anstatt jeder Begrüßung.

»Nein! Um Gottes willen … ein Unglück?«

»Der alte Excellenz v. F. ist tot – Ihr Traum ist leider Gottes doch kein Schaum gewesen –, er ist in selbiger Nacht zu Tode erkrankt.«

Ein kalter Schauder überrieselte mich. Unsere Bestürzung war groß, und während des ganzen Wegs zur Seehalde drehte sich das Gespräch um diesen Trauerfall, welcher Scheffel ganz besonders schmerzlich zu erregen schien.

Stets von neuem gedachte er des unheimlichen, spukhaften Traums und setzte zuletzt leise und nachdenklich hinzu: »Wenn es wahrlich nur ein Traum gewesen.«

Mit Mühe gelang es, während des Mittagsmahls die alten Geister der Heiterkeit und des Frohsinns zu citieren. Der Altmeister hörte mich so gern lachen und behauptete, ›selbes Lachen stecke ihn unrettbar an!‹ Heute mußte es sich bewahrheiten, und es glückte mir auch, tagsüber die trüben Gedanken von ihm fern zu halten.

Als wir aber abends in Scheffels Arbeitszimmer saßen und der Seewind kalt und seufzend um die Fenster strich, da stützte Meister Josephus die Stirn abermals traurig sinnend in die Hand und sagte ganz unvermittelt: »Also Sie auch, Fräulein Nataly! Es ist ganz wunderbar, just als ob wir armes Dichtervölklein dazu auserlesen wären, mehr zu sehen und zu erleben als der andern Schulweisheit sich träumen läßt! Mag's die besonders lebhafte Phantasie, das äußerst erregte und wohl auch stärker ausgebildete, vielleicht auch überstraff gespannte Nervensystem der Poeten sein, daß sie mit ihren Gedanken in fremde Welten hineinragen und unbewußt durch das Schlüsselloch der Ewigkeit lugen, ich weiß es nicht! Aber wundersam ist's, daß auch Sie, fröhliches, sechzehnjähriges Kind, solch ernste Vorahnungen haben! Just als ob's die Geister besonders gern mit der Jugend hielten – ich war ja damals auch noch ein lebensfrohes Bürschchen, als ich etwas Ähnliches, unerklärlich Seltsames erlebte –, nachher, im späteren Leben, habe ich nie wieder Geister geschaut.«

Er sprach leise, wie in Gedanken, und atemlos vor Überraschung starrte ich ihn an. »Sie selber haben einmal etwas Übernatürliches erlebt? O bitte, bitte, bester Meister, erzählen Sie!«

Sein Blick richtete sich ernst, beinahe forschend auf mein Gesicht. »Ich habe nie gern darüber gesprochen, Fräulein Nataly, die Leute lachen über die Gespensterseher, und wer nicht selber 'mal ein Ähnliches erlebt hat, der glaubt gar, man wolle ihm ein Märlein auftischen.«

»Habe ich denn nicht soeben noch den Beweis geliefert, daß ich Ähnliches erlebte?«

Er lächelte. »Wohl wahr, darum wäre ich wohl gar im stande, Ihnen mit gleichem Spuk aufzuwarten, bin heute just in der Stimmung dazu! Die Gedanken an damals kommen mir immer wieder – wie die Mückenschwärme, welche man auch vergeblich scheucht! Nun – und Sie lieber Major, werden auch nicht allzu ketzerisch über den alten Poeten herziehen, wenn Ihr Husarenherz auch nicht mit dem des ehemaligen Studentleins in einem Takte schlagen wird.«

Vater versicherte, daß wohl der heutige Tag dazu angethan sei, jeden Zweifel an Absonderlichem verstummen zu lassen, und so füllte Scheffel noch einmal die Gläser, lehnte sich nachdenklich in den Sessel zurück und strich mit der Hand über den Kinnbart. Die Augen wie in weite Fernen geradeaus gerichtet, mit einem Gesichtsausdruck, welcher sein sonst so frisch blickendes, liebenswürdig heiteres Antlitz vollständig veränderte, begann er mit gedämpfter Stimme:

 

Es war im Jahre 18**, als ich, ein junges, lebensfrohes Bürschchen, die Akademie zu H. bezog. Das Allzuviel der Freundschaft war mir nie sympathisch gewesen, darum beschränkte ich meinen Verkehr auf nur wenige, aber desto liebere und treuere Gesellen, von welchen namentlich der eine mir besonders nahe trat. Nennen wir ihn jetzt Karl – der Name thut ja nichts zur Sache, und falls Fräulein Nataly die Geschichte später einmal der Welt erzählt, so möge Diskretion walten.

Besagter Karl war mir wohl so angenehm im Verkehr, weil er in allen Dingen das ganz direkte Gegenteil von mir war.

Dieweil bei mir Lebenslust und Frohsinn fast überschäumten und ich die Studienzeit durch die rosigen Brillen des Gaudeamus anschaute, war Freund Karl ein stiller, beinahe etwas kopfhängerischer Bursch, dem das Arbeiten und Lernen als heilige Pflicht erschien und welcher wohl in unseren Augen als ärgster und verächtlichster Philister gegolten haben würde, hätten wir nicht den Grund zu seinem altväterischen Wesen allzugut gekannt.

Er war krank.

So gut ihn die frischen, roten Wangen kleideten, wußten wir doch, was ihre hektische Art besagen wollte, wenn wir den armen Jungen husten hörten.

Dazu kamen Verhältnisse, welche seine empfindsame Seele schon seit Jahren schwer belasteten.

Er war das einzige Kind einer Witwe, welche der früh verstorbene Gatte, ein Ministerialbeamter, in geordneter, aber nicht allzu glänzender Vermögenslage zurückgelassen hatte.

Karls ganzes Streben und unermüdliches Lernen galt der Zukunft der Mutter.

Er wußte, daß er die schwere Krankheit des Vaters geerbt, und er sagte sich, daß er nicht allzulange Zeit habe, der unglücklichen Frau eine Stütze zu sein.

Daher sein philisterhaft solides Leben, sein großer, heiliger Ernst dem Studium gegenüber. Ich hatte eine tiefe, herzliche Verehrung für den vortrefflichen jungen Mann, und manch' traute, wohl einflußreiche Stunde verlebte ich in der kleinen Wohnung der Frau Rat, welche selbstverständlich mit dem Sohn zusammenlebte.

Was wir übermütigen Gesellen Freuden und Vergnügungen nannten, Pauken, Biertrinken, Kommerse und lustige Scholarenfahrten ins Land, das existierte nicht für den kranken Genossen, nur eine einzige Erheiterung gönnte er sich – er besuchte die Studentenbälle und Tanzkränzchen, welche wir des öfteren veranstalteten.

Da ich das Tanzen für einen Lungenkranken als recht schädlich erachtete, erstaunte ich über diesen Leichtsinn des Freundes gewaltig, bis ich ihn nach schärferer Beobachtung zu deuten wußte. Karl tanzte nur einen einzigen Tanz, den Walzer nach dem Abendessen, und diejenige, mit welcher er tanzte und soupierte, war stets dieselbe.

Ein herziges, frisches, junges Mädchen, sanft und lind wie ein Frühlingshauch, herzensgut und freundlich wie ein Schutzengel, welcher mit holdem Antlitz Genesung in die Seele des Kranken lächelt. Einmal habe ich Karl mit Fräulein Gretchen geneckt, dann nicht wieder.

 

II.

Er sah mich mit seinen schwermütigen Augen so unbeschreiblich an, daß es mir durch Mark und Bein ging.

»Ich habe sie lieb, Joseph!« sagte er leise, »du bist mein Freund, ich will kein Geheimnis vor dir haben!« Und er legte meinen Arm in den seinen und schritt langsam mit mir im Zimmer auf und ab.

Dabei that er mir sein Herz auf, sein junges, liebewarmes Herz, welches so zuversichtlich auf das Glück hoffte.

Die Liebe und Hoffnung erhielten ihn gesund und stählten seinen Körper und seine Seele zur Arbeit, so wähnte er. Gretchen wußte um seine Gefühle und teilte sie, auch die Mutter hütete im Herzen voll stillen Glücks das Geheimnis ihres Sohnes.

Noch ein paar Jahre Geduld, noch ein paar Jahre schaffen und streben, und er wird die Geliebte als trautes Weib in ein bescheidenes Nestchen heimführen.

Bei dem nächsten Tanzkränzchen beobachtete ich voll wehmütiger Rührung diesen jungen Liebeslenz, auf dessen Knospe schon ein so herber unbarmherziger Rauhreif schwerer Sorge fiel.

Neben dem Ofen befand sich ein stilles Plätzchen zu zwei Sitzen, welches die Liebenden ständig zu dem ihren erwählten. Da saßen sie während des Tanzes, ungestört und unbeobachtet, und schwelgten in dem süßen Glück ihres geheimen Herzensbundes.

Der Winter kam, rauher und stürmischer wie je zuvor, und Karl hustete mehr denn je, und eines Tages blieb sein Platz im Kolleg leer.

Ich eilte sofort in die Wohnung der Frau Rat und fand die alte Frau

zwar in Sorge, aber doch ganz zuversichtlich und vertrauensvoll.

Karl lag an starker Erkältung zu Bett. Ein tüchtiger Schnupfen und Husten, sonst nichts. In der Nacht trat Fieber auf und währte etliche Tage, da seine Höhe aber nicht beängstigend war, und es am vierten Tage wieder schwand, so nahmen wir die Erkrankung nicht allzu schwer.

Karl fühlte sich auch nach acht Tagen wieder leidlich wohl, verließ das Bett und saß behaglich plaudernd im Lehnstuhl am Ofen, als ich zum gewohnten Besuch wieder bei ihm eintrat.

»Hurra! Der Dachs hat den Bau wieder verlassen!« rief er mir sehr heiter gelaunt entgegen, »ich hoffe übermorgen schon wieder ausgehen zu können!«

»Wenn das gelinde Wetter anhält, mein Junge«, wandte Frau Rat lächelnd ein, »du weißt, was der Doktor gesagt hat!«

»Doktorenweisheit! Wehe dem, welcher sich zu ihrem Sklaven macht!« rief der Kranke mit beinahe übermütigem Ton. »Nein, nein, Mutterchen, ich lasse mich nicht eine Stunde lang unnötig einsperren! Und nun laßt uns Kaffee trinken, Josephus muß die Kehle anfeuchten, sonst erzählt er schlecht!«

Die alte Dame verließ das Zimmer, und kaum, daß die Thür sich hinter ihr geschlossen, faßte Freund Karl jählings meine Hand und stammelt:

»Ist es wahr, daß am nächsten Samstag das erste Tanzkränzchen stattfindet?«

Ich nickte. »Willst du etwa leichtsinnigerweise bei demselben erscheinen?«

»Und ob ich es will! Ach, Joseph, ich habe meiner kleinen Margaret so viel zu sagen wegen des Onkels, weißt du? Hat er mich wahrlich zum Erben eingesetzt, kann ich ja schon als Referendar heiraten! Und siehst du, des Samstags wegen freue ich mich doppelt, daß es mir wieder so viel besser geht.«

»Hast du Fräulein Gretchen bereits engagiert?«

»Das habe ich ein für allemal. Der Tischtanz ist mein. Laß uns wieder zusammen eine Ecke bilden während des Essens, arrangiere alles wie sonst, Joseph, ich werde mich diesmal nicht viel darum kümmern können!«

Ich versprach, und das Gespräch nahm eine andere Wendung, als Frau Rat mit dem Kaffee erschien.

Es war dies an einem Dienstag! Freitag wollte Karl das Kolleg wieder besuchen und Samstag mit seiner Margaret tanzen.

Vergeblich schaute ich Freitag in der Universität nach ihm aus, und von böser Ahnung erfüllt begab ich mich sogleich in seine Wohnung.

Ich fand den armen Freund erschreckend bleich und matt auf dem Sofa liegend und erfuhr durch seine Mutter, daß ganz plötzlich wieder ein heftiger Bluthusten aufgetreten sei.

So gut ich es bei meiner Bestürzung vermochte, tröstete ich die weinende Frau und versuchte alsdann den sehr niedergeschlagenen Karl ein wenig aufzuheitern.

Er schüttelte wehmütig den Kopf.

»Ich werde morgen abend nicht bei euch sein können; hast du schon eine Dame zum Tischwalzer engagiert?«

Ich verneinte.

Da umschloß er mit fieberheißer Hand die meine.

»Dann thu mir den Gefallen und tanze mit Gretchen!« bat er. »Dir vertraue ich sie am liebsten an! Du wirst ihr von mir und dem Onkel erzählen; alles was ich dir jetzt auftragen werde, – ja?«

Da kam mir der Schalk. »Höre«, sprach ich, »die kleine Margaret ist ein herziges Wesen und gefällt auch anderen Leuten gut! Zum Teufel mit der Freundschaft! – Ich werde einmal im trüben fischen und dir dein Bräutchen abspenstig machen, gar so abgeneigt ist sie mir längst nicht!«

Ich hatte lachend und im Scherz gesprochen, aber ich erschrak über die Wirkung meiner Worte. Glühende Röte stieg in Karls leichenblasse Wangen, sein Blick flammte so drohend und leidenschaftlich auf, wie ich ihn nie zuvor gesehen.

»Joseph! – Mensch!« flüsterte er mit heiserer Stimme. »Wenn du zum Verräter an mir werden würdest! – Bei meiner ewigen Ruhe – ich schwöre dir's – bei dem ersten Wort, welches du in deinem Interesse zu ihr sprichst, stehe ich zwischen euch – und sollte ich aus dem Grabe steigen!«

Ich lachte hell auf und versicherte ihm so heiter meine absolute Ungefährlichkeit, daß er sich schnell beruhigte.

»Nun höre, was du ihr sagen sollst«, fuhr er leise fort, nachdem ein heftiger Hustenanfall ihn minutenlang geschüttelt, und mit kurzen, abgerissenen Sätzen informierte er mich.

Ich war damals jung und sorglos, ich hielt Karl für krank, aber nicht für todkrank, dieser Gedanke lag uns allen noch sehr, sehr fern.

Der Samstag kam.

Karls Wohnung lag in derselben Straße wie unser Tanzlokal, nur wenige Häuser von demselben entfernt.

Ich sprach zuerst noch einmal bei dem Kranken vor und fand ihn überraschend wohl. Er schritt im Zimmer auf und nieder und blickte mir mit seltsam schalkhaftem Lächeln entgegen.

Als ich wieder ging, drohte er mir scherzend mit dem Finger: »Daß du ihr nicht den Hof machst! Ich drehe dir den Hals um! – Verstanden?«

Ich zuckte übermütig die Achseln. »Ich beschwöre nichts!« rief ich lachend und stürmte die Treppe hinab.

Der Tischtanz kam. Ich hatte mich während des Essens ganz nach Vorschrift mit Fräulein Gretchen unterhalten und nun führte ich sie in den Saal und flog nach den Walzerklängen mit ihr dahin. Dann führte ich sie zu dem Ofeneckchen.

»Es muß alles ganz so sein wie sonst!« lachte ich, »nun werde ich versuchen, ob ich Ihnen ebenso die Cour machen kann, wie Karl!«

Sie ward rot und sah in diesem Augenblick reizender aus wie je. Ganz unwillkürlich rückte ich ihr ein wenig näher und hub an, sie zu necken:

»Wissen Sie auch, Fräulein Gretchen, daß ich Karl angedroht habe, ich wolle Ihnen heute gewaltig den Hof machen? Wie wär's, wenn ich Wort hielte?«

Kaum hatte ich die Worte über die Lippen gebracht, fühlte ich einen heftigen Schlag auf die Schulter, und als ich mich jählings umwandte, entfuhr ein leiser Schrei der Überraschung meinem Munde.

Hinter mir stand mein Freund Karl, die weit aufgerissenen Augen starr auf mich geheftet.

»Karl«, stammelte ich, »du hier?!« und dann fiel mein Blick auf seine Gestalt und ein Schrei des Schreckens rang sich abermals von meinen Lippen.

Wie sah er aus. Im Ballanzug, dem Rock und der weißen Weste, stand er vor mir, aber Weste und und Vorhemdchen waren von Blut überströmt, und über seine Lippen sickerten die dunklen Tropfen unaufhörlich weiter.

»Allmächtiger Gott – Karl!«

Aber was war das? – Vor meinen Augen zerrann die Gestalt des Freundes und statt seiner drängten näherstehende Herren und Damen herzu, lachten hell auf und riefen mich staunend an:

»Haben Sie Visionen, Scheffel? – Mit wem in aller Welt sprechen Sie denn?«

Ich stand wie gelähmt. »War soeben nicht Karl X. hier?« rang es sich von meinen Lippen.

»Unsinn! Kein Mensch war hier!«

Aufs höchste erregt, wandte ich mich zu meiner Tänzerin. »Aber Sie haben ihn doch auch gesehen, Fräulein Gretchen?«

Das arme Kind sah leichenblaß aus.

»Nein – ich sah niemand – es war keiner da, zu dem Sie sprachen!«

Ich ward sehr erregt. »Unsinn! Ich soll mystifiziert werden! Ihr alle steckt hinter dem Komplott! Aber jetzt Scherz beiseite, saht ihr nicht, wie der Unglückliche aussah? Er war über und über von Blut überströmt!«

An den Blicken der Umstehenden sah ich jetzt, daß man mich für verrückt oder betrunken hielt; ehe aber ein weiteres Wort fiel, drängte sich ein Kellner durch die Tanzenden und rief mir mit bestürzter Miene zu:

»Ach, Herr Scheffel! Die Frau Rätin X. läßt dringend bitten, einmal herüber zu kommen, es ist ein Unglück passiert!«

Wie ich über die verschneite Straße und die Stiegen emporgekommen bin, weiß ich selber nicht mehr. Als ich in Karls Zimmer trat, lag der Unglückliche vor mir auf dem Fußboden, ganz wie ich ihn soeben als spukhafte Erscheinung vor mir gesehen, im Ballanzug, von Blut überströmt.

Später, nachdem wir den teuern Toten zur ewigen Ruhe gebettet, gab mir die beklagenswerte Mutter Aufschluß über das Seltsame.

Karl hatte sich an dem unglückseligen Samstag so auffallend wohler gefühlt, daß er beschloß, einen kleinen Scherz auszuführen.

Alles Flehen und Bitten der Mutter half nichts.

»Ich tanze ja nicht! Ich will sie nur in der Ofenecke überraschen und Joseph ›eins versetzen‹, wenn er galant wird!«

In großer Hast hatte er sich angekleidet, und mag es eine heftige Bewegung oder die Aufregung veranlaßt haben, ein Blutsturz trat plötzlich ein, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß der Kranke inmitten des Zimmers zusammenbrach.

Die schwache, alte Frau vermochte nicht, ihn auf das Bett zu schaffen; sie kniete neben ihm und hielt seinen Oberkörper in den Armen.

Da habe sich der Sterbende noch einmal. »Jetzt – jetzt – hörst du … er sitzt neben ihr sagt ihr …« und dann sei sein Körper steif und eiskalt geworden, er habe die Hand wie zum Schlag erhoben – sekundenlang geradeaus gestarrt und wäre hierauf mit einem tiefen Seufzer tot vornüber gesunken.

Es war der Augenblick, als ich auf solch unerklärliche Weise den unglücklichen Freund im Ballsaal vor mir sah.

Scheffel machte tief atmend eine Pause und strich mit Hand über Stirn und Augen.

»Das ist eine wahre Begebenheit, ein Spuk, welchen ich selbst erlebte, und ich hatte nicht geträumt.«


Ich verhehle nicht, daß die Erzählung aus dem Munde dieses Gewährsmannes tiefen Eindruck auf mich machte, und die Unterhaltung begreiflicherweise längere Zeit bei diesem Thema festhielt

Scheffel bekundete viel Interesse dafür. »Ich bin so garnicht phantastisch und hellseherisch beanlagt«, sagte er »habe auch während meines ganzen Lebens nichts Übernatürliches wieder geschaut oder gehört, darum ist mir jenes zweite Gesicht, welches ich im Ballsaal hatte, doppelt unbegreiflich. Man wird vielleicht sagen, ein Poet ist schon von Natur ein viel sensibler und einbildungsreicher beanlagtes Wesen wie andere Sterbliche, dem aber kann ich ein anderes Vorkommnis, welches ein guter Freund von mir erlebte, entgegenstellen. Sein Wort bürgt mir für die absolute Wahrheit seiner Erzählung, denn Freund S. ist eine Persönlichkeit, welche jedweden Zweifel ausschließt. Eine Soldatennatur par excellence, sehr realistisch, nüchtern und ehrlich denkend, geradezu bis zur Derbheit, leicht mißtrauisch jedem gemachten Wesen gegenüber, von echter Landsknechtsfrömmigkeit, welche nicht viel Worte macht, und keinen Kultus zur Schau trägt, und im rechten Moment doch ein Stoßgebetlein aus tiefstem Herzensgrunde stammelt.«

S. war Kavallerist, und zwar während des Feldzugs 1870/71 besonders viel kommandiert, Jagd auf Franctireurs zu machen.

Seine Umsicht, Kaltblütigkeit und ein oft an Tollkühnheit grenzender Mut befähigten ihn ganz besonders zu diesem aufreibenden und gefährlichen Dienst.

Später erzählte er mir persönlich folgendes Ereignis:

»Es war eine warme, mondhelle Nacht, als ich mit etlichen, besonders zuverlässigen Leuten meiner Schwadron das Wagstück unternahm, die Stellung des Feindes auszukundschaften.

Das Terrain war uns nur in großen Strichen bekannt; wir wußten, daß sich vor uns ein mäßig großer Wald, hinter demselben freie Wiesen und Ackerland und angrenzend an dieses ein Gehöft befand, in welchem wir den Hauptschlupfwinkel und die Munitionskammern der Franctireurs vermuteten.

Der Wald erwies sich jedoch tiefer und beschwerlicher passierbar als wir dachten, und obwohl wir die menschenmöglichsten Vorsichtsmaßregeln beobachteten, wurden wir doch öfters durch Geräusche und Wahrnehmungen beunruhigt, als ob wir vom Feind umschlichen und beobachtet würden.

Wir überlegten schon, ob es unter diesen Verhältnissen ratsam sei, bei dem hellen Mondlicht das schützende Waldesdunkel zu verlassen, als ein heraufsteigendes Wetter den Himmel überzog und alles Licht in tiefste Finsternis tauchte.

Wir hatten die Lisière Waldrand, Lichtung. erreicht und hielten einen Augenblick ratlos still, auf die grabesstille, stockdunkle Ebene hinausblickend.

Der Wind fuhr rauschend durch die Baumkronen und jagte heulend über das flache Land, Regentropfen klaschten hernieder und Nachtvögel strichen mit heiserem Schrei über uns hinweg.

Man sah nicht mehr die Hand vor Augen und es schien eine Unmöglichkeit, den Weg nach dem Gehöft aufzufinden. Schon wollte ich mich mißmutig entschließen, den Rückweg anzutreten, als plötzlich in ziemlicher Entfernung ein Licht aufblitzte.

›Das Haus! – Hurra – dort liegt das Haus!‹ raunte mir ein Gefreiter zu, und ich nahm das Fernglas und forschte eifrig nach der Wahrheit.

Richtig, das Licht schien durch Glas, – die Fensterscheibe, und verdunkelte sich zeitweise, als ob Schatten vor demselben hin und her glitten.

Die Stube war sicherlich von Feinden besetzt.

Wir frohlockten. Das dunkle Wetter begünstigte unsere Annäherung, Sturm und Regen übertönten die Hufschläge, wir hatten die beste Aussicht, uns unbemerkt heranpirschen zu können.

So ritten wir los, erst vorsichtig prüfend, dann, als sich der Boden als hochbegraste, sammetweiche Wiese zeigte, dreister werdend und schärfer ausgreifend.

So ging es eine gute Weile leise und schnell vorwärts, dann ward der Boden plötzlich härter und knirschte hie und da wie loses Geröll.

Dennoch ritten wir scharf zu, denn das Licht rückte näher und näher und mußte nach unserer Berechnung in spätestens zehn Minuten erreicht sein.

Auffällig schien es, daß weder Gartenland, noch Acker oder Zäune die Nähe des Gehöftes anmeldeten, doch war es wohl möglich, daß sich diese Anzeichen nach der entgegengesetzten Seite befanden, während die Front des Hauses nach der freien Heide hinausblickte.

Das Licht stand unbeweglich und brannte inmitten des sausenden Sturmes ruhig und hell.

Ich ritt als erster meinen Leuten voran, den Blick starr auf die Flamme gerichtet, deren heller Schein noch mehr gegen die Dunkelheit blendete.

Plötzlich schrak ich zusammen, und zwar so jäh, daß ich ganz unwillkürlich mein Pferd zurückriß und dadurch auch die mir nachfolgenden Reiter aufhielt.

Mit weit aufgerissenen Augen, die Haare in jähem Grausen gesträubt, starrte ich auf eine weiße Frauengestalt, welche jäh aus der Finsternis auftauchte und die Arme in angstvoller Abwehr nach mir ausstreckte, – meine Mutter!

Wahrlich und leibhaftig meine Mutter, welche schon seit drei Jahren daheim auf deutschem Friedhof schlummerte.

Ich sah sie genau – jeden Zug ihres lieben, trauten Gesichts, ihre Augen, ihren Mund, ihre Gestalt in dem weißen Totenhemd, ganz so wie ich sie zum letztenmal voll verzweifelnden Schmerzes angeschaut, ehe der Sarg für immer geschlossen ward.

Und nun plötzlich stand sie vor mir in stockdunkler Nacht – im fernen Feindesland, auf einsamer Heide.

›Mutter!‹ schrie ich auf – ›Mutter!‹ Der Gefreite faßte mich entsetzt am Arm: ›Um Himmels willen – Herr Rittmeister –‹

Da zerrann die wundersame Erscheinung vor meinen Augen. Noch einmal winkte sie mir mit allen Zeichen großer Angst zu: ›Zurück! Zurück!‹ und dann umgähnte mich abermals die schwarze Finsternis.

Keines Wortes mächtig saß ich im Sattel. Ich fühlte, wie das Pferd unter mir zitterte und aufschnaufend zurückdrängte.

›Herr Rittmeister …‹

›Hackert, haben Sie nichts gesehen?‹ rang es sich endlich keuchend von meinen Lippen.

›Nein, Herr Rittmeister! … was …?‹

›Und ihr anderen saht auch nichts?‹

›Nein, Herr Rittmeister!‹ flüsterte es betroffen im Kreise.

Ich richtete mich entschlossen auf. ›Halt! – Keinen Schritt weiter! – Es droht uns eine Gefahr. – Hackert, halten Sie mein Pferd!‹ Ich sprang zur Erde. ›Lassen Sie mich ein paar Schritte vorgehen!‹

Unter meinen Sohlen knirschte loses Steinicht, es bröckelte ab, und ich hörte wie ein Stück fortrollte und dann polterte, als stürze es einen tiefen Abgrund hinab.

Was war das?

Als ich unschlüssig stehe und zaudere, noch einen Schritt vorwärts zu thun, bricht der Mond mit hellem Strahl durch das Gewölk, und ich blicke vor mir nieder in die gähnenden Tiefen eines Steinbruchs, während drüben, am jenseitigen Rand desselben eine Laterne aufgehängt ist.

Eine Falle, welche uns die Franctireurs gestellt haben.

Einen Augenblick rinnt es wie kaltes Grauen durch meine Glieder, – noch zwei Schritt weiter und wir lagen zerschmettert in der Tiefe.

Ich sprang zurück auf mein Pferd. – ›Kehrt! Wir sind an Steinbrüchen!‹ rufe ich leise, und meine wackeren Reiter, welche das Entsetzliche gleich mir geschaut, reißen die Pferde herum.

Da knattert es jenseits des Steinbruchs. Kugeln pfeifen über uns hinweg, meinem Gefreiten schlägt die eine gegen den Karabiner, dennoch hat er denselben schon an der Backe und gibt gleich uns Feuer.

Zweimal schießen wir die Dunkelheit hinein, der Mond versteckt sich wieder, wir sehen keinen Feind mehr und jagen nun durch Sturm und Regen dem schützenden Wald wieder zu.

Erst später, als wir wieder wohlbehalten bei den Unsern angelangt sind, überkommt mich die Erinnerung an das soeben Erlebte mit elementarer Gewalt Ich öffne meine Brusttasche, blicke auf das Bildchen meiner lieben seligen Mutter, presse das Antlitz darauf und weine wie ein Kind.

Eine Erklärung für die rätselhafte gespenstische Erscheinung habe ich nie gefunden, nur die, daß ich schon während der Mutter stets ihr Sorgenkind gewesen, über welches sie ganz besonders treu und liebevoll schützend ihre Hände gebreitet!«

Soweit mein Freund, ein Mann der nie gelogen hat, und welchem ich dieses Erlebnis Wort für Wort glaube. Möglicherweise habe ich es Ihnen nicht mit der vollen, militärischen Genauigkeit erzählt, lieber Major, – ich bin kein Soldat! – aber die Hauptsache gab ich wohl wahrheitsgetreu wieder; sie hat mich oft beschäftigt in Gedanken, und ich habe mich der seligen Bestätigung gefreut, daß auch das Grab der Mutterliebe noch keine Schranken setzt; unter vielen Tausenden ist aber wohl nur einer, dem sich solches in Stunden höchster Gefahr und Not offenbart!

* * *

Jahre sind vergangen, seit Meister Scheffel mir in der Seehalde gegenübersaß und das Haupt sinnend in die Hand stützte mit der grüblerischen Frage: War's ein Spuk? – und gibt es wahrlich auserwählte Menschen, welche schon mit irdischen Augen Dinge sehen, vor denen, andern gegenüber – noch die Schatten des Todes lagern? – Ist das Grab eine Thüre – und wohin führt dieselbe? Zuvor in eine Zwischenwelt, oder allsogleich vor das Angesicht des ewigen Gottes?

Cypressen rauschen über der Gruft des teuern Meisters; er durchschritt die Todespforten und erhielt Antwort auf seine Fragen.



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