Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Der Kaiser und das Fräulein

              Hoch am Septimer, dem Kaiserpasse
– Denn die Kaiser pflegten nach Italien
Über dieses Bergesjoch zu reiten –
Hielt ich unter steilen Sonnenstrahlen
Mittagsrast. Mir gegenüber wand sich
Um den Felsen noch ein Stück des alten
Saumwegs, schwebend über jähem Abgrund.
Mittag ist des Berges Geisterstunde.
In die Sonne blinzelt ich. Ein Hornruf!
Banner flattern. Schwert und Bügel klirren.
Fraun und Ritter gleiten aus den Sätteln.
Sorglich leiten Säumer scheue Rosse.
Die gestrenge Kais'rin seh ich schreiten,
Ein versteinert Weib mit harten Zügen.
Hinter ihr die Fräulein. Einer Zarten
Schwindelt plötzlich. Ihre Knie wanken.
Sich entfärbend lehnt sie an die Bergwand ...
Rasch ein Held – er trägt das Kaiserkrönlein
Um die Kappe – fängt in seinen mächtgen
Armen auf das wanke Kind und trägt es
An die Brust gedrückt. Das Mädchen schwebte
Sicher überm Abgrund, und er raubt ihr
Einen flüchtgen Kuss. Da schwand das Blendwerk.
Weiter pilgernd rätselt ich ein Weilchen:
War es einer der Ottonen oder
Wars ein Heinrich oder wars ein Friedrich,
Der die wehrlos Schwebende geküsst hat?

 


 


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