Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Blutstropfen

            Zur Zeit der Lese wars im Winzerhaus.
Des Herdes goldne Flamme prasselte,
Die Fensterscheiben überhauchten sich
Und draussen scholl das Evoe geisterhaft
Aus Nebeldämmer. Becher klangen. Jung
Und alt empfand die bacchische Gewalt.
Mit einem zarten Schimmer röteten
Selbst ihr die Wangen sich, die unser Gast
Und dieser Erde Gast nicht lange war,
Ein stilles, scheues, ungezähmtes Kind.
Zum Reigen rief Lyäus. Jene schlich
Sich weg. Ins Freie blickte sie hinaus
Durchs Fenster. Dann beschrieb sie träumerisch
Die ganz sich unbeachtet Wähnende
Die Scheibe mit dem Finger. Weh! umstellt,
Belauert wurde sie von einem Schwarm
Und überfallen. Rasch in Trümmer schlug
Das Antlitz glutbedeckt, die Scheibe sie
Sich selbst verwundend. Dieses Tüchlein hier
Das als Reliquie mir im Schreine liegt
Fing, über die verletzte Hand gelegt
Das Quellen eines Tropfen Blutes auf
Der warm ihr eben erst im Herzen rann.

Jung schwand sie hin, und kein Lebendger weiss,
Was dort geschrieben auf der Scheibe stand –
Als dieser bleiche Tropfen Bluts vielleicht.

 


 


 << zurück weiter >>