Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Flut und Ebbe

          In einem fernen, umbrandeten Land
Spielen die Mädchen ein Spiel an dem Strand
Schreiten im Reigen, heiter gesinnt,
Wann zu steigen die Flut beginnt
Weichen zurück in gemessner Flucht
Aus der schwellenden Meeresbucht.
In den Gewässern ruhigklar
Werden sie krause Gestalten gewahr,
Rollt eine Woge, sie sehen ein Ross,
Sehn einen Reiter, bis er zerfloss.
»Schauet den Meermann! Garstig Gesicht!
Grinsende Larve, du haschest mich nicht!«
Aber das Meer es wächst und naht –
»Fliehet, ihr Schwestern! Sonst wirds zu spät!«
Alle sie stürzen in hastigem Lauf,
Gleiten und reissen die Strauchelnden auf
Bis zu der Bank, wo die Ebbe beginnt
Wo, wie sie wissen, das Wasser zerrinnt.
Dort ist gelagert der flüchtige Chor,
Zieht an dem Felsen die Füsse empor
Fleht in den Himmel mit brünstigem Schein:
»Götter! ihr lasset die Unschuld allein?«
Aber die Flut, da den Raub sie berührt
Hat das Verhängnis des Ebbens gespürt,
Und, wie erschreckt durch das maidliche Ach
Gleitet sie nieder und fällt gemach! –
Gegen die Ziehnde mit drohendem Arm
Hebt sich verfolgend der blühende Schwarm:
»Höhnet die Feigen! Sie fliehn aus dem Krieg!
Kränzet die Locken und feiert den Sieg!«

Also vergnügt sich das sterbliche Heer
Mit dem gelassnen, dem ewigen Meer.

 


 


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