Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Die kleine Blanche

            An dem kleinen Hofe von Navarra
War das Leben eine lose Fabel,
Eine drohnde oder heitre Maske
Eine überraschende Novelle,
Ein phantastisch wahrheitsloses Schauspiel. –
Der am Hofe war auf kurzen Urlaub,
Hauptmann Duplessis sass vor der Bühne,
Drauf ein Mädchen an verratner Liebe
Starb. Im letzten Akte lag sie marmorn
Auf dem Grabmal als ihr eigen Bildnis,
Schluchzend rang die Hände der Verräter,
Sieh! da hob sie sachte sich und lebte.
Andern Tages wandelte der Hauptmann
In des Schlosses irrsam dunkeln Gärten,
An die zarte kleine Blanche denkend,
Die er schnell geküsst und schnell verraten –
Etwas sieht er schimmern durch Zypressen:
Auf dem Grabmal liegt die kleine Blanche
Marmorn. An dem Sockel ist zu lesen:
»Blanche schlummert nach verratner Liebe.«
»Heb dich, kleine Blanche!« ruft der Hauptmann,
»Wickle dich aus deinen weissen Tüchern!
Spiel nicht mit dem Tode, kleine Blanche!«
Doch der Marmor fühlte nichts. Es fühlte
Nichts, die drunter schläft. Sie starb im Ernste.

 


 


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