Jacob Burckhardt
Die Kultur der Renaissance in Italien
Jacob Burckhardt

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Im Reiche der freien geistigen Schilderung empfangen uns zunächst die grossen Dichter des 14. Jahrhunderts.

Wenn man aus der ganzen abendländischen Hof- und Ritterdichtung der beiden vorhergehenden Jahrhunderte die Perlen zusammensucht, so wird eine Summe von herrlichen Ahnungen und Einzelbildern von Seelenbewegungen zum Vorschein kommen, welche den Italienern auf den ersten Blick den Preis streitig zu machen scheint. Selbst abgesehen von der ganzen Lyrik gibt schon der einzige Gottfried von Strassburg mit »Tristan und Isolde« ein Bild der Leidenschaft, welches unvergängliche Züge hat. Allein diese Perlen liegen zerstreut in einem Meere des Konventionellen und Künstlichen, und ihr Inhalt bleibt noch immer weit entfernt von einer vollständigen Objektivmachung des innern Menschen und seines geistigen Reichtums.

Auch Italien hatte damals, im 13. Jahrhundert, seinen Anteil an der Hof- und Ritterdichtung durch seine Trovatoren. Von ihnen stammt wesentlich die Canzone her, die sie so künstlich und schwierig bauen als irgendein nordischer Minnesänger sein Lied; Inhalt und Gedankengang sogar ist der konventionell höfische, mag der Dichter auch bürgerlichen oder gelehrten Standes sein.

Aber schon offenbaren sich zwei Auswege, die auf eine neue, der italienischen Poesie eigene Zukunft hindeuten und die man nicht für unwichtig halten darf, wenn es sich schon nur um Formelles handelt.

Von demselben Brunetto Latini (dem Lehrer des Dante), welcher in der Canzonendichtung die gewöhnliche Manier der Trovatoren vertritt, stammen die frühsten bekannten Versi sciolti, reimlose HendekasyllabenMitgeteilt von Trucchi, Poesie italiane inedite I, p. 165, s. her, und in dieser scheinbaren Formlosigkeit äussert sich auf einmal eine wahre, erlebte Leidenschaft. Es ist eine ähnliche bewusste Beschränkung der äussern Mittel im Vertrauen auf die Kraft des Inhaltes, wie sich einige Jahrzehnde später in der Freskomalerei und noch später in der Tafelmalerei zeigt, indem auf die Farben verzichtet und bloss in einem hellern oder dunklern Ton gemalt wird. Für jene Zeit, welche sonst auf das Künstliche in der Poesie so grosse Stücke hielt, sind diese Verse des Brunetto der Anfang einer neuen RichtungDiese reimlosen Verse gewannen später bekanntlich die Herrschaft im Drama. Trissino in seiner Widmung der Sofonisba an Leo X. hofft, dass der Papst diese Versart erkennen werde als das, was sie sei, als besser, edler und weniger leicht als es den Anschein habe. Roscoe, Leone X, ed. Bossi VIII, 174..

Daneben aber, ja noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, bildet sich eine von den vielen strenggemessenen Strophenformen, die das Abendland damals hervorbrachte, für Italien zu einer herrschenden Durchschnittsform aus: das Sonett. Die Reimstellung und sogar die Zahl der Verse schwanktMan vgl. z. B. die sehr auffallenden Formen bei Dante, Vita nuova, p. 10 und 12. noch hundert Jahre lang, bis Petrarca die bleibende Normalgestalt durchsetzte. In diese Form wird anfangs jeder höhere lyrische und kontemplative, später jeder mögliche Inhalt gegossen, so dass Madrigale, Sestinen und selbst die Canzonen daneben nur eine untergeordnete Stelle einnehmen. Spätere Italiener haben selber bald scherzend, bald missmutig geklagt über diese unvermeidliche Schablone, dieses vierzehnzeilige Prokrustesbett der Gefühle und Gedanken. Andere waren und sind gerade mit dieser Form sehr zufrieden und brauchen sie viel tausendmal, um darin Reminiszenzen und müssigen Singsang ohne allen tiefern Ernst und ohne Notwendigkeit niederzulegen. Deshalb gibt es sehr viel mehr unbedeutende und schlechte Sonette als gute.

Nichtsdestoweniger erscheint uns das Sonett als ein ungeheurer Segen für die italienische Poesie. Die Klarheit und Schönheit seines Baues, die Aufforderung zur Steigerung des Inhaltes in der lebhafter gegliederten zweiten Hälfte, dann die Leichtigkeit des Auswendiglernens, mussten es auch den grössten Meistern immer von neuem lieb und wert machen. Oder meint man im Ernst, dieselben hätten es bis auf unser Jahrhundert beibehalten, wenn sie nicht von seinem hohen Werte wären durchdrungen gewesen? Nun hätten allerdings diese Meister ersten Ranges auch in andern Formen der verschiedensten Art dieselbe Macht äussern können. Allein weil sie das Sonett zur lyrischen Hauptform erhoben, wurden auch sehr viele andere von hoher, wenn auch nur bedingter Begabung, die sonst in einer weitläufigen Lyrik untergegangen wären, genötigt, ihre Empfindungen zu konzentrieren. Das Sonett wurde ein allgemeingültiger Kondensator der Gedanken und Empfindungen, wie ihn die Poesie keines andern modernen Volkes besitzt.

So tritt uns nun die italienische Gefühlswelt in einer Menge von höchst entschiedenen, gedrängten und in ihrer Kürze höchst wirksamen Bildern entgegen. Hätten andere Völker eine konventionelle Form von dieser Gattung besessen, so wüssten wir vielleicht auch mehr von ihrem Seelenleben; wir besässen möglicherweise auch eine Reihe abgeschlossener Darstellungen äusserer und innerer Situationen oder Spiegelbilder des Gemütes und wären nicht auf eine vorgebliche Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts verwiesen, die fast nirgends ernstlich geniessbar ist. Bei den Italienern erkennt man einen sichern Fortschritt fast von der Geburt des Sonettes an; in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bilden die neuerlichTrucchi, a. a. O. I, p. 181, s. so benannten »Trovatoridella transizione« in der Tat einen Uebergang von den Trovatoren zu den Poeten, d. h. zu den Dichtern unter antikem Einfluss; die einfache, starke Empfindung, die kräftige Bezeichnung der Situation, der präzise Ausdruck und Abschluss in ihren Sonetten u. a. Gedichten kündet zum voraus einen Dante an. Einige Parteisonette der Guelfen und Ghibellinen (1260 bis 1270) tönen schon in der Art wie seine Leidenschaft, anderes erinnert an das Süsseste in seiner Lyrik.

Wie er selbst das Sonett theoretisch ansah, wissen wir nur deshalb nicht, weil die letzten Bücher seiner Schrift »von der Vulgärsprache«, worin er von Balladen und Sonetten handeln wollte, entweder ungeschrieben geblieben oder verloren gegangen sind. Praktisch aber hat er in Sonett und Canzone die herrlichsten Seelenschilderungen niedergelegt. Und in welchen Rahmen sind sie eingefasst! Die Prosa seiner »Vita nuova«, worin er Rechenschaft gibt von dem Anlass jedes Gedichtes, ist so wunderbar als die Verse selbst und bildet mit denselben ein gleichmässig von der tiefsten Glut beseeltes Ganzes. Rücksichtslos gegen die Seele selbst konstatiert er alle Schattierungen ihrer Wonne und ihres Leides und prägt dann dies alles mit fester Willenskraft in der strengsten Kunstform aus. Wenn man diese Sonette und Canzonen und dazwischen diese wundersamen Bruchstücke des Tagebuches seiner Jugend aufmerksam liest, so scheint es, als ob das ganze Mittelalter hindurch alle Dichter sich selber gemieden, er zuerst sich selber aufgesucht hätte. Künstliche Strophen haben Unzählige vor ihm gebaut; aber er zuerst ist in vollem Sinne ein Künstler, weil er mit Bewusstsein unvergänglichen Inhalt in eine unvergängliche Form bildet. Hier ist subjektive Lyrik von völlig objektiver Wahrheit und Grösse; das meiste so durchgearbeitet, dass alle Völker und Jahrhunderte es sich aneignen und nachempfinden könnenDiese Canzonen und Sonette sind es, die jener Schmied und jener Eseltreiber sangen und entstellten, über welche Dante so böse wurde. (Vgl. Franco Sacchetti, Nov. 114, 115.) So rasch ging diese Poesie in den Mund des Volkes über.. Wo er aber völlig objektiv dichtet und die Macht seines Gefühles nur durch einen ausser ihm liegenden Tatbestand erraten lässt, wie in den grandiosen Sonetten Tanto gentile usw. und Vede perfettamente usw., glaubt er noch sich entschuldigen zu müssenVita nuova, p. 52.. Im Grunde gehört auch das allerschönste dieser Gedichte hieher: das Sonett Deh peregrini che pensosi andate etc.

Auch ohne die Divina Commedia wäre Dante durch diese blosse Jugendgeschichte ein Markstein zwischen Mittelalter und neuer Zeit. Geist und Seele tun hier plötzlich einen gewaltigen Schritt zur Erkenntnis ihres geheimsten Lebens.

Was hierauf die Commedia an solchen Offenbarungen enthält, ist vollends unermesslich, und wir müssten das ganze grosse Gedicht, einen Gesang nach dem andern, durchgehen, um seinen vollen Wert in dieser Beziehung darzulegen. Glücklicherweise bedarf es dessen nicht, da die Commedia längst eine tägliche Speise aller abendländischen Völker geworden ist. Ihre Anlage und Grundidee gehört dem Mittelalter und spricht unser Bewusstsein nur historisch an; ein Anfang aller modernen Poesie aber ist das Gedicht wesentlich wegen des Reichtums und der hohen plastischen Macht in der Schilderung des Geistigen auf jeder Stufe und in jeder WandlungFür Dantes theoretische Psychologie ist Purgat. IV, Anfang, eine der wichtigsten Stellen. Ausserdem vgl. die betreffenden Partien des Convito..

Fortan mag diese Poesie ihre schwankenden Schicksale haben und auf halbe Jahrhunderte einen sogenannten Rückgang zeigen – ihr höheres Lebensprinzip ist auf immer gerettet, und wo im 14., 15. und beginnenden 16. Jahrhundert ein tiefer, originaler Geist in Italien sich ihr hingibt, stellt er von selbst eine wesentlich höhere Potenz dar als irgendein ausseritalischer Dichter, wenn man Gleichheit der Begabung – freilich eine schwer zu ermittelnde Sache – voraussetzt.

Wie in allen Dingen bei den Italienern die Bildung (wozu die Poesie gehört) der bildenden Kunst vorangeht, ja dieselbe erst wesentlich anregen hilft, so auch hier. Es dauert mehr als ein Jahrhundert, bis das Geistig-Bewegte, das Seelenleben in Skulptur und Malerei einen Ausdruck erreicht, welcher demjenigen bei Dante nur irgendwie analog ist. Wie viel oder wenig dies von der Kunstentwicklung anderer Völker giltDie Porträts der Eyckschen Schule würden für den Norden eher das Gegenteil beweisen. Sie bleiben allen Schilderungen in Worten noch auf lange Zeit überlegen., und wie weit die Frage im ganzen von Werte ist, kümmert uns hier wenig. Für die italienische Kultur hat sie ein entscheidendes Gewicht.

Was Petrarca in dieser Beziehung gelten soll, mögen die Leser des vielverbreiteten Dichters entscheiden. Wer ihm mit der Absicht eines Verhörrichters naht und die Widersprüche zwischen dem Menschen und dem Dichter, die erwiesenen Nebenliebschaften und andere schwache Seiten recht emsig aufspürt, der kann in der Tat bei einiger Anstrengung die Lust an seinen Sonetten gänzlich verlieren. Man hat dann statt eines poetischen Genusses die Kenntnis des Mannes in seiner »Totalität«. Nur schade, dass Petrarcas Briefe so wenigen avignonesischen Klatsch enthalten, woran man ihn fassen könnte, und dass die Korrespondenzen seiner Bekannten und der Freunde dieser Bekannten entweder verloren gegangen sind oder gar nie existiert haben. Anstatt dem Himmel zu danken, wenn man nicht zu erforschen braucht, wie und mit welchen Kämpfen ein Dichter das Unvergängliche aus seiner Umgebung und seinem armen Leben heraus ins Sichere brachte, hat man gleichwohl auch für Petrarca aus den wenigen »Reliquien« solcher Art eine Lebensgeschichte zusammengestellt, welche einer Anklageakte ähnlich sieht. Uebrigens mag sich der Dichter trösten; wenn das Drucken und Verarbeiten von Briefwechseln berühmter Leute in Deutschland und England noch fünfzig Jahre so fort geht, so wird die Armesünderbank, auf welcher er sitzt, allgemach die erlauchteste Gesellschaft enthalten.

Ohne das viele Künstliche und Gesuchte zu verkennen, wo Petrarca sich selber nachahmt und in seiner eigenen Manier weiterdichtet, bewundern wir in ihm eine Fülle herrlicher Seelenbilder, Schilderungen seliger und unseliger Momente, die ihm wohl eigen sein müssen, weil kein anderer vor ihm sie aufweist, und welche seinen eigentlichen Wert für die Nation und die Welt ausmachen. Nicht überall ist der Ausdruck gleichmässig durchsichtig; nicht selten gesellt sich dem Schönsten etwas für uns Fremdartiges bei, allegorisches Spielwerk und spitzfindige Sophistik; allein das Vorzügliche überwiegt.

Auch Boccaccio erreicht in seinen zu wenig beachteten SonettenAbgedruckt im XVI. Bande seiner Opere volgari. eine bisweilen höchst ergreifende Darstellung seines Gefühles. Der Wiederbesuch einer durch Liebe geweihten Stätte (Son. 22), die Frühlings-Melancholie (Son. 33), die Wehmut des alternden Dichters (Son. 65) sind von ihm ganz herrlich besungen. Sodann hat er im Ameto die veredelnde und verklärende Kraft der Liebe in einer Weise geschildert, wie man es von dem Verfasser des Decamerone schwerlich erwarten würdeIm Gesang des Hirten Teogapen, nach dem Venusfeste, Parnasso teatrale, Lipsia 1829, p. VIII.. Endlich aber ist seine »Fiammetta« ein grosses, umständliches Seelengemälde voll der tiefsten Beobachtung, wenn auch nichts weniger als gleichmässig durchgeführt, ja stellenweise unleugbar beherrscht von der Lust an der prachtvoll tönenden Phrase; auch Mythologie und Altertum mischen sich bisweilen unglücklich ein. Wenn wir nicht irren, so ist die Fiammetta ein weibliches Seitenstück zur Vita nuova des Dante, oder doch auf Anregung von dieser Seite her entstanden.

Dass die antiken Dichter, zumal die Elegiker und das vierte Buch der Aeneide, nicht ohne EinflussDer berühmte Lionardo Aretino als Haupt des Humanismus zu Anfang des 15. Jahrhunderts meint zwar: che gli antichi Greci d'umanità e di gentilezza di cuore abbino avanzato di gran lunga i nostri Italiani, allein er sagt es am Eingang einer Novelle, welche die weichliche Geschichte vom kranken Prinzen Antiochus und seiner Stiefmutter Stratonice, also einen an sich zweideutigen und dazu halbasiatischen Beleg enthält. (Abgedruckt u. a. als Beilage zu den cento novelle antiche.) auf diese und die folgenden Italiener blieben, versteht sich von selbst, aber die Quelle des Gefühls sprudelt mächtig genug in ihrem Innern. Wer sie nach dieser Seite hin mit ihren ausseritalischen Zeitgenossen vergleicht, wird in ihnen den frühsten vollständigen Ausruck der modernen europäischen Gefühlswelt überhaupt erkennen. Es handelt sich hier durchaus nicht darum zu wissen, ob ausgezeichnete Menschen anderer Nationen nicht ebenso tief und schön empfunden haben, sondern wer zuerst die reichste Kenntnis der Seelenregungen urkundlich erwiesen hat.


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