Jacob Burckhardt
Die Kultur der Renaissance in Italien
Jacob Burckhardt

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Venedig erkannte sich selbst als eine wunderbare, geheimnisvolle Schöpfung, in welcher noch etwas anderes als Menschenwitz von jeher wirksam gewesen. Es gab einen Mythus von der feierlichen Gründung der Stadt: am 25. März 413 um Mittag hätten die Uebersiedler aus Padua den Grundstein gelegt am Rialto, damit eine unangreifbare, heilige Freistätte sei in dem von den Barbaren zerrissenen Italien. Spätere haben in die Seele dieser Gründer alle Ahnungen der künftigen Grösse hineingelegt; M. Antonio Sabellico, der das Ereignis in prächtig strömenden Hexametern gefeiert hat, lässt den Priester, der die Stadtweihe vollzieht, zum Himmel rufen: »Wenn wir einst Grosses wagen, dann gib Gedeihen! Jetzt knien wir nur vor einem armen Altar, aber wenn unsere Gelübde nicht umsonst sind, so steigen Dir, o Gott, hier einst hundert Tempel von Marmor und Gold empor!«Genethliacon, in seinen carmina. – Vgl. Sansovino, Venezia, fol. 203. – Die älteste venezian. Chronik, bei Pertz, Monum. IX, p. 5, 6, verlegt die Gründung der Inselorte erst in die longobardische Zeit und die vom Rialto ausdrücklich noch später. – Die Inselstadt selbst erschien zu Ende des 15. Jahrhunderts wie das Schmuckkästchen der damaligen Welt. Derselbe Sabellico schildert sie als solchesDe situ venetae urbis. mit ihren uralten Kuppelkirchen, schiefen Türmen, inkrustierten Marmorfassaden, mit ihrer ganz engen Pracht, wo die Vergoldung der Decken und die Vermietung jedes Winkels sich miteinander vertrugen. Er führt uns auf den dichtwogenden Platz vor S. Giacometto am Rialto, wo die Geschäfte einer Welt sich nicht durch lautes Reden oder Schreien, sondern nur durch ein vielstimmiges Summen verraten, wo in den PortikenDiese ganze Gegend wurde dann durch die Neubauten des beginnenden 16. Jahrhunderts verändert. ringsum und in denen der anstossenden Gassen die Wechsler und die Hunderte von Goldschmieden sitzen, über ihren Häuptern Läden und Magazine ohne Ende, jenseits von der Brücke beschreibt er den grossen Fondaco der Deutschen, in dessen Hallen ihre Waren und ihre Leute wohnen, und vor welchem stets Schiff an Schiff im Kanal liegt; von da weiter aufwärts die Wein- und Oelflotte und parallel damit am Strande, wo es von Facchinen wimmelt, die Gewölbe der Händler; dann vom Rialto bis auf den Marcusplatz die Parfümeriebuden und Wirtshäuser. So geleitet er den Leser von Quartier zu Quartier bis hinaus zu den beiden Lazaretten, welche mit zu den Instituten hoher Zweckmässigkeit gehörten, die man nur hier so ausgebildet vorfand. Fürsorge für die Leute war überhaupt ein Kennzeichen der Venezianer, im Frieden wie im Kriege, wo ihre Verpflegung der Verwundeten, selbst der feindlichen, für andere ein Gegenstand des Erstaunens warBenedictus: Carol. VIII., bei Eccard, Scriptores, II, Col. 1597, 1601, 1621. – Im Chron. Venetum, Murat. XXIV, Col. 26, sind die politischen Tugenden der Venezianer aufgezählt: bontà, innocenza, zelo di carità, pietà, misericordia.. Was irgend öffentliche Anstalt hiess, konnte in Venedig sein Muster finden; auch das Pensionswesen wurde systematisch gehandhabt, sogar in betreff der Hinterlassenen. Reichtum, politische Sicherheit und Weltkenntnis hatten hier das Nachdenken über solche Dinge gereift. Diese schlanken, blondenViele Nobili schoren sich kurz; Erasmi Colloq. ed. Tigur. a. 1553, pag. 215, miles et carthusianus. Leute mit dem leisen, bedächtigen Schritt und der besonnenen Rede unterschieden sich in Tracht und Auftreten nur wenig voneinander; den Putz, besonders Perlen, hingen sie ihren Frauen und Mädchen an. Damals war das allgemeine Gedeihen, trotz grosser Verluste durch die Türken, noch wahrhaft glänzend; aber die aufgesammelte Energie und das allgemeine Vorurteil Europas genügten auch später noch, um Venedig selbst die schwersten Schläge lange überdauern zu lassen: die Entdeckung des Seeweges nach Ostindien, den Sturz der Mameluckenherrschaft von Aegypten und den Krieg der Liga von Cambray.

Sabellico, der aus der Gegend von Tivoli gebürtig und an das ungenierte Redewerk der damaligen Philologen gewöhnt war, bemerkt an einem andern OrteEpistolae, lib. V, fol. 28. mit einigem Erstaunen, dass die jungen Nobili, welche seine Morgenvorlesungen hörten, sich gar nicht auf das Politisieren mit ihm einlassen wollten: »Wenn ich sie frage, was die Leute von dieser oder jener Bewegung in Italien dächten, sprächen und erwarteten, antworten sie mir alle mit Einer Stimme, sie wüssten nichts.« Man konnte aber von dem demoralisierten Teil des Adels trotz aller Staatsinquisition mancherlei erfahren, nur nicht so wohlfeilen Kaufes. Im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts gab es Verräter in den höchsten BehördenMalipiero, Ann. Veneti, Archiv. stor. VII, I, p. 377, 431, 481, 493, 530. II, p. 661, 668, 679. – Chron. venetum, bei Murat. XXIV, Col. 57. – Diario Ferrarese, ib. Col. 240.; die Päpste, die italienischen Fürsten, ja ganz mittelmässige Condottieren im Dienst der Republik hatten ihre Zuträger, zum Teil mit regelmäßiger Besoldung; es war so weit gekommen, dass der Rat der Zehn für gut fand, dem Rat der Pregadi wichtigere politische Nachrichten zu verbergen, ja man nahm an, dass Lodovico Moro in den Pregadi über eine ganz bestimmte Stimmenzahl verfüge. Ob das nächtliche Aufhenken einzelner Schuldigen und die hohe Belohnung der Angeber (z. B. sechzig Dukaten lebenslängliche Pension) viel fruchteten, ist schwer zu sagen; eine Hauptursache, die Armut vieler Nobili, liess sich nicht plötzlich beseitigen. Im Jahr 1492 betrieben zwei Nobili einen Vorschlag, der Staat solle jährlich 70 000 Dukaten zur Vertröstung derjenigen armen Adligen auswerfen, welche kein Amt hätten; die Sache war nahe daran, vor den grossen Rat zu kommen, wo sie eine Majorität hätte erhalten können – als der Rat der Zehn noch zu rechter Zeit eingriff und die beiden auf Lebenszeit nach Nicosia auf Cypern verbannteMalipiero, im Arch. stor. VII, II, p. 691. Vgl. 694, 713 und I, 535.. Um diese Zeit wurde ein Soranzo auswärts als Kirchenräuber gehenkt, und ein Contarini wegen Einbruchs in Ketten gelegt; ein anderer von derselben Familie trat 1499 vor die Signorie und jammerte, er sei seit vielen Jahren ohne Amt, habe nur 16 Dukaten Einkünfte und 9 Kinder, dazu 60 Dukaten Schulden, verstehe kein Geschäft und sei neulich auf die Gasse gesetzt worden. Man begreift, daß einzelne reiche Nobili Häuser bauten, um die armen darin gratis wohnen zu lassen. Der Häuserbau um Gottes willen, selbst in ganzen Reihen, kommt in Testamenten als gutes Werk vorMarin Sanudo, Vite de' Duchi, Murat. XXII, Col. 1194..

Wenn die Feinde Venedigs auf Uebelstände dieser Art jemals ernstliche Hoffnungen gründeten, so irrten sie sich gleichwohl. Man könnte glauben, daß schon der Schwung des Handels, der auch dem Geringsten einen reichlichen Gewinn der Arbeit sicherte, dass die Kolonien im östlichen Mittelmeer die gefährlichen Kräfte von der Politik abgelenkt haben möchten. Hat aber nicht Genua, trotz ähnlicher Vorteile, die sturmvollste politische Geschichte gehabt? Der Grund von Venedigs Unerschütterlichkeit liegt eher in einem Zusammenwirken von Umständen, die sich sonst nirgends vereinigten. Unangreifbar als Stadt, hatte es sich von jeher der auswärtigen Verhältnisse nur mit der kühlsten Ueberlegung angenommen, das Parteiwesen des übrigen Italiens fast ignoriert, seine Allianzen nur für vorübergehende Zwecke und um möglichst hohen Preis geschlossen. Der Grundton des venezianischen Gemütes war daher der einer stolzen, ja verachtungsvollen Isolierung und folgerichtig einer stärkern Solidarität im Innern, wozu der Hass des ganzen übrigen Italiens noch das Seine tat. In der Stadt selbst hatten dann alle Einwohner die stärksten gemeinschaftlichen Interessen gegenüber den Kolonien sowohl als den Besitzungen der Terraferma, indem die Bevölkerung der letztern (d. h. der Städte bis Bergamo) nur in Venedig kaufen und verkaufen durfte. Ein so künstlicher Vorteil konnte nur durch Ruhe und Eintracht im Innern aufrechterhalten werden – das fühlte gewiss die übergrosse Mehrzahl, und für Verschwörer war schon deshalb hier ein schlechter Boden. Und wenn es Unzufriedene gab, so wurden sie durch die Trennung in Adlige und Bürger auf eine Weise auseinandergehalten, die jede Annäherung sehr erschwerte. Innerhalb des Adels aber war den möglicherweise Gefährlichen, nämlich den Reichen, eine Hauptquelle aller Verschwörungen, der Müssiggang, abgeschnitten durch ihre grossen Handelsgeschäfte und Reisen und durch die Teilnahme an den stets wiederkehrenden Türkenkriegen. Die Kommandanten schonten sie dabei, ja bisweilen in strafbarer Weise, und ein venezianischer Cato weissagte den Untergang der Macht, wenn diese Scheu der Nobili, einander irgend wehe zu tun, auf Unkosten der Gerechtigkeit fortdauern würdeChron. Venetum, Mur. XXIV, Col. 105.. Immerhin aber gab dieser grosse Verkehr in der freien Luft dem Adel von Venedig eine gesunde Richtung im ganzen. Und wenn Neid und Ehrgeiz durchaus einmal Genugtuung begehrten, so gab es ein offizielles Opfer, eine Behörde und legale Mittel. Die vieljährige moralische Marter, welcher der Doge Francesco Foscari (+ 1457) vor den Augen von ganz Venedig unterlag, ist vielleicht das schrecklichste Beispiel dieser nur in Aristokratien möglichen Rache. Der Rat der Zehn, welcher in alles eingriff, ein unbedingtes Recht über Leben und Tod, über Kassen und Armeebefehl besass, die Inquisitoren in sich enthielt, und den Foscari wie so manchen Mächtigen stürzte, dieser Rat der Zehn wurde alljährlich von der ganzen regierenden Kaste, dem gran consiglio, neu gewählt, und war somit der unmittelbarste Ausdruck derselben. Grosse Intrigen mögen bei diesen Wahlen kaum vorgekommen sein, da die kurze Dauer und die spätere Verantwortlichkeit das Amt nicht sehr begehrenswert machten. Allein vor diesen und andern venezianischen Behörden, mochte ihr Tun noch so unterirdisch und gewaltsam sein, flüchtete sich doch der echte Venezianer nicht, sondern er stellte sich; nicht nur weil die Republik lange Arme hatte und statt seiner die Familie plagen konnte, sondern weil in den meisten Fällen wenigstens nach Gründen und nicht aus Blutdurst verfahren wurdeChron. Venetum, Murat. XXIV, Col. 123, s. und Malipiero, a. a. O. VII, I, p. 175, s. erzählen den sprechenden Fall des Admirals Antonio Grimani.. Ueberhaupt hat wohl kein Staat jemals eine grössere moralische Macht über seine Angehörigen in der Ferne ausgeübt. Wenn es z. B. Verräter in den Pregadi gab, so wurde dies reichlich dadurch aufgewogen, dass jeder Venezianer in der Fremde ein geborner Kundschafter für seine Regierung war. Von den venezianischen Kardinälen in Rom verstand es sich von selbst, dass sie die Verhandlungen der geheimen päpstlichen Konsistorien nach Hause meldeten. Kardinal Domenico Grimani liess in der Nähe von Rom (1500) die Depeschen wegfangen, welche Ascanio Sforza an seinen Bruder Lodovico Moro absandte, und schickte sie nach Venedig; sein eben damals schwer angeklagter Vater machte dies Verdienst des Sohnes öffentlich vor dem gran consiglio, d. h. vor der ganzen Welt geltendChron. Ven. l. c. Col. 166..


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