Jacob Burckhardt
Die Kultur der Renaissance in Italien
Jacob Burckhardt

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Zweiter Abschnitt

Entwicklung des Individuums

In der Beschaffenheit dieser Staaten, Republiken wie Tyrannien, liegt nun zwar nicht der einzige, aber der mächtigste Grund der frühzeitigen Ausbildung des Italieners zum modernen Menschen. Daß er der Erstgeborne unter den Söhnen des jetzigen Europas werden musste, hängt an diesem Punkte.

Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewusstseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgend einer Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges IndividuumMan beachte die Ausdrücke uomo singolare, uomo unico für die höhere und höchste Stufe der individuellen Ausbildung. und erkennt sich als solches. So hatte sich einst erhoben der Grieche gegenüber den Barbaren, der individuelle Araber gegenüber den andern Asiaten als Rassenmenschen. Es wird nicht schwer sein nachzuweisen, daß die politischen Verhältnisse hieran den stärksten Anteil gehabt haben.

Schon in viel frühern Zeiten gibt sich stellenweise eine Entwicklung der auf sich selbst gestellten Persönlichkeit zu erkennen, wie sie gleichzeitig im Norden nicht so vorkommt oder sich nicht so enthüllt. Der Kreis kräftiger Frevler des 10. Jahrhunderts, welchen Liutprand schildert, einige Zeitgenossen Gregors VII., einige Gegner der ersten Hohenstaufen zeigen Physiognomien dieser Art. Mit Ausgang des 13. Jahrhunderts aber beginnt Italien von Persönlichkeiten zu wimmeln; der Bann, welcher auf dem Individualismus gelegen, ist hier völlig gebrochen; schrankenlos spezialisieren sich tausend einzelne Gesichter. Dantes grosse Dichtung wäre in jedem andern Lande schon deshalb unmöglich gewesen, weil das übrige Europa noch unter jenem Banne der Rasse lag; für Italien ist der hehre Dichter schon durch die Fülle des Individuellen der nationalste Herold seiner Zeit geworden. Doch die Darstellung des Menschenreichtums in Literatur und Kunst, die vielartig schildernde Charakteristik wird in besondern Abschnitten zu besprechen sein; hier handelt es sich um die psychologische Tatsache selbst. Mit voller Ganzheit und Entschiedenheit tritt sie in die Geschichte ein; Italien weiss im 14. Jahrhundert wenig von falscher Bescheidenheit und von Heuchelei überhaupt; kein Mensch scheut sich davor, aufzufallen, anders zu sein und zu scheinenIn Florenz gab es um 1390 deshalb keine herrschende Mode der männlichen Kleidung mehr, weil jeder sich auf besondere Weise zu tragen suchte. Vgl. die Canzone des Franco Sacchetti: contro alle nuove foggie, in den Rime, publ. dal Poggiali, p. 52. als die andernAm Ende des 16. Jahrhunderts zieht Montaigne (Essais, L. III, chap. 5, vol. III, p. 367 der Pariser Ausgabe von 1816) u. a. folgende Parallele: «ils (les Italiens) ont plus communement des belles femmes, et moins des laides qe nous; mais des rares et excellentes beautéz j'estime que nous allons à pair. Et (je) en juge autant des esprits: de ceux de la commune façon ils en ont beaucoup plus et evidemment; la brutalité y est sans comparaison plus rare: d'âmes singulières et du plus hault estage, nous ne leur en debvons rien.».

Zunächst entwickelt die Gewaltherrschaft, wie wir sahen, im höchsten Grade die Individualität des Tyrannen, des CondottiereAuch wohl die ihrer Gemahlinnen, wie man im Hause Sforza und in verschiedenen oberitalischen Herrscherfamilien bemerkt. Man vgl. in den Clarae mulieres des Jacobus Bergomensis die Biographien der Battista Malatesta, Paola Gonzaga, Orsina Torella, Bona Lombarda, Riccarda von Este und der wichtigern Frauen der Familie Sforza. Es ist mehr als eine wahre Virago darunter und auch die Ergänzung der individuellen Entwicklung durch hohe humanistische Kultur fehlt nicht. selbst, sodann diejenige des von ihm protegierten, aber auch rücksichtslos ausgenützten Talentes, des Geheimschreibers, Beamten, Dichters, Gesellschafters. Der Geist dieser Leute lernt notgedrungen alle seine innern Hülfsquellen kennen, die dauernden wie die des Augenblickes; auch ihr Lebensgenuss wird ein durch geistige Mittel erhöhter und konzentrierter, um einer vielleicht nur kurzen Zeit der Macht und des Einflusses einen grösstmöglichen Wert zu verleihen.

Aber auch die Beherrschten gingen nicht völlig ohne einen derartigen Antrieb aus. Wir wollen diejenigen ganz ausser Berechnung lassen, welche ihr Leben in geheimem Widerstreben, in Verschwörungen verzehrten, und bloss derer gedenken, die sich darein fügten, reine Privatleute zu bleiben etwa wie die meisten Städtebewohner des byzantinischen Reiches und der mohammedanischen Staaten. Gewiss wurde es z. B. den Untertanen der Visconti oft schwer genug gemacht, die Würde des Hauses und der Person zu behaupten, und Unzählige mögen durch die Knechtschaft am sittlichen Charakter Einbusse erlitten haben. Nicht so an dem, was man individuellen Charakter nennt, denn gerade innerhalb der allgemeinen politischen Machtlosigkeit gediehen wohl die verschiedenen Richtungen und Bestrebungen des Privatlebens um so stärker und vielseitiger. Reichtum und Bildung, soweit sie sich zeigen und wetteifern durften, in Verbindung mit einer noch immer grossen munizipalen Freiheit und mit dem Dasein einer Kirche, die nicht, wie in Byzanz und in der islamischen Welt, mit dem Staat identisch war – alle diese Elemente zusammen begünstigten ohne Zweifel das Aufkommen individueller Denkweisen, und gerade die Abwesenheit des Parteikampfes fügte hier die nötige Musse hinzu. Der politisch indifferente Privatmensch mit seinen teils ernsten, teils dilettantischen Beschäftigungen möchte wohl in diesen Gewaltstaaten des 14. Jahrhunderts zuerst vollkommen ausgebildet aufgetreten sein. Urkundliche Aussagen hierüber sind freilich nicht zu verlangen; die Novellisten, von welchen man Winke erwarten könnte, schildern zwar manchen bizarren Menschen, aber immer nur in einseitiger Absicht und nur soweit dergleichen die zu erzählende Geschichte berührt; auch spielt ihre Szene vorwiegend in republikanischen Städten.

In diesen letztern waren die Dinge wieder auf andere Weise der Ausbildung des individuellen Charakters günstig. Je häufiger die Parteien in der Herrschaft abwechselten, um soviel stärker war der einzelne veranlaßt, sich zusammenzunehmen bei Ausübung und Genuss der Herrschaft. So gewinnen zumal in der florentinischen GeschichteFranco Sacchetti, in seinem Capitolo (Rime, publ. dal Poggiali, p. 56) zählt um 1390 über hundert Namen von bedeutenden Leuten der herrschenden Parteien auf, welche bei seinen Gedenkzeiten gestorben seien. So viele Mediokritäten darunter sein mochten, so ist doch das Ganze ein starker Beleg für das Erwachen der Individualität. Ueber die »Vite« des Filippo Villani s. unten. die Staatsmänner und Volksführer ein so kenntliches persönliches Dasein wie sonst in der damaligen Welt kaum ausnahmsweise einer, kaum ein Jacob von Arteveldt.

Die Leute der unterlegenen Parteien aber kamen oft in eine ähnliche Stellung wie die Untertanen der Tyrannenstaaten, nur dass die bereits gekostete Freiheit oder Herrschaft, vielleicht auch die Hoffnung auf deren Wiedergewinn ihrem Individualismus einen höhern Schwung gab. Gerade unter diesen Männern der unfreiwilligen Musse findet sich z. B. ein Agnolo Pandolfini (+ 1446), dessen Schrift »vom Hauswesen«Trattato del governo della famiglia. Es gibt eine neuere Hypothese, wonach diese Schrift von dem Baumeister L. B. Alberti verfasst wäre. Vgl. Vasari IV, 54, Nota 5, ed. Lemonnier. – Ueber Pandolfini vgl. Vespas. Fiorent., p. 379. das erste Programm einer vollendet durchgebildeten Privatexistenz ist. Seine Abrechnung zwischen den Pflichten des Individuums und dem unsichern und undankbaren öffentlichen WesenTrattato p. 65, s. ist in ihrer Art ein wahres Denkmal der Zeit zu nennen.

Vollends aber hat die Verbannung die Eigenschaft, dass sie den Menschen entweder aufreibt oder auf das höchste ausbildet. »In all unsern volkreichern Städten«, sagt Gioviano PontanoJov. Pontanus, de fortitudine, L. II. Siebzig Jahre später konnte Cardanus (de vita propria, Cap. 32) bitter fragen: Quid est patria, nisi consensus tyrannorum minutorum ad opprimendos imbelles timidos, et qui plerumque sunt innoxii?, »sehen wir eine Menge Leute, die freiwillig ihre Heimat verlassen haben; die Tugenden nimmt man ja überall hin mit.« In der Tat waren es bei weitem nicht bloss förmlich Exilierte, sondern Tausende hatten die Vaterstadt ungeheissen verlassen, weil der politische oder ökonomische Zustand an sich unerträglich wurde. Die ausgewanderten Florentiner in Ferrara, die Lucchesen in Venedig usw. bildeten ganze Kolonien.

Der Kosmopolitismus, welcher sich in den geistvollsten Verbannten entwickelt, ist eine höchste Stufe des Individualismus. Dante findet, wie schon erwähnt wurde (S. 105), eine neue Heimat in der Sprache und Bildung Italiens, geht aber doch auch darüber hinaus mit den Worten: »Meine Heimat ist die Welt überhauptDe vulgari eloquio, Lib. I, cap. 6. – Ueber die italienische Idealsprache cap. 17. Die geistige Einheit der Gebildeten cap. 18. – Aber auch das Heimweh in der berühmten Stelle Purg. VIII, 1 u. ff. und Parad. XXV, 1.!« – Und als man ihm die Rückkehr nach Florenz unter unwürdigen Bedingungen anbot, schrieb er zurück: »Kann ich nicht das Licht der Sonne und der Gestirne überall schauen? nicht den edelsten Wahrheiten überall nachsinnen, ohne deshalb ruhmlos, ja schmachvoll vor dem Volk und der Stadt zu erscheinen? Nicht einmal mein Brod wird mir fehlenDantis Alligherii Epistolae, ed. Carolus Witte, p. 65.!« Mit hohem Trotz legen dann auch die Künstler den Akzent auf ihre Freiheit vom Ortszwang. »Nur wer alles gelernt hat«, sagt GhibertiGhiberti, secondo commentario, cap. XV. (Vasari, ed. Lemonnier, I, p. XXIX.), »ist draussen nirgends ein Fremdling; auch seines Vermögens beraubt, ohne Freunde, ist er doch der Bürger jeder Stadt und kann furchtlos die Wandelungen des Geschickes verachten.« Aehnlich sagt ein geflüchteter Humanist: »Wo irgend ein gelehrter Mann seinen Sitz aufschlägt, da ist gute HeimatCodri Urcei vita, vor dessen Opera. – Freilich grenzt dies schon an das: Ubi bene, ibi patria. – Die Masse neutralen geistigen Genusses, der von keiner Oertlichkeit abhängt, und dessen die gebildeten Italiener mehr und mehr fähig wurden, erleichterte ihnen das Exil beträchtlich. Uebrigens ist der Kosmopolitismus ein Zeichen jeder Bildungsepoche, da man neue Welten entdeckt und sich in der alten nicht mehr heimisch fühlt. Er tritt bei den Griechen sehr deutlich hervor nach dem peloponnesischen Kriege; Platon war, wie Niebuhr sagt, kein guter Bürger und Xenophon ein schlechter; Diogenes proklamierte vollends die Heimatlosigkeit als ein wahres Vergnügen und nannte sich selber απολις, wie man beim Laertius liest.


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