Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Das Schicksal dementiert sich

Die steinerne Maske machte allgemeinen Eindruck, wurde aber durchaus falsch aufgefaßt.

»Nicht so zu Herzen nehmen!« meinte Prinz Assi.

»Ich begreife Ihre Depression vollkommen,« sagte Graf Pfründten, »aber Sie müssen die Flinte nicht gleich ins Korn werfen.«

»Du Ärmster!« flüsterte die verliebte Gräfin, »laß dirs doch nicht so nahe gehen. Es ist ja ein Glück.«

– Kein Mensch versteht mich, dachte sich Felix und fühlte sich sehr geschmeichelt.

Aber es war ihm doch eine Genugtuung, daß der gnädigste Herr ihn verstand, als er die erbetene Audienz in Sachen Hermann Honrader gewährt erhalten hatte.

Felix erschien in Zivil, und das feierliche Schwarz hob die steinerne Maske entschieden.

Der Fürst sah aschfahl und abgemagert aus. Die Hand, die er Felix reichte, war kalt und ihr Druck kaum fühlbar. Er saß zurückgelehnt in einem breiten Armstuhl, die aufgeschlagene Bibel im Schoß, und ließ Felix sich ganz nahe zur Seite setzen.

»Bin sehr geplagt jetzt,« sagte er leise; »friere, friere, friere. Ein abscheuliches Gefühl. Und alles starrt mich an. Es ist ein Lauern ringsum. Sie warten und flüstern, Weiber, Propheten, Erben und Diener. Die schwarze Fahne liegt bereit. Aber noch ist die alte Dame nicht auf den Balkon getreten um die Mitternacht und hat das historische dreimalige Ach gestöhnt. Sie wissen doch, die Gräfin Warrenbach, die links angetraute, die von den Pfaffen vergiftet worden ist. Sie muß an meinem Schlafzimmer vorüber, wenn sie zum Balkon will. Ich werde sie hören, wenns so weit ist, denn ich weiß nicht mehr, wie schlafen tut. Eine Maus würd ich hören. Böse Nächte. Aber das geht vorüber. Ich weiß es. Ich will es. Die fatale Gräfin braucht sich meinetwegen noch nicht zu inkommodieren. – Aber das ist dummes Zeug. Gut, daß Sie da sind. Reden wir von bessern Dingen. Sie sehen ernst aus wie nach einem wichtigen Entschlusse. Das gefällt mir. Auch, daß Sie nicht in Uniform gekommen sind. Was bringen Sie Neues?«

Felix referierte, was er getan hatte.

– »Brav! Brav! Lesen Sie mir vor, was der Dichter geantwortet hat.«

– »Es sind einige Stellen in dem Briefe, die vielleicht...«

– »Nicht doch. Gerade darum. Ich höre gerne, was man sich einbildet, mir verschweigen zu müssen.«

Felix las den Brief vor. Der Fürst hörte mit aufgemunterten Blicken aufmerksam zu.

– »Hat mich sehr interessiert. Bringen Sie mir gleich morgen das letzte Buch des Dichters und schreiben Sie ihm, daß ich auf seinen Besuch rechne. Inoffiziell!«

Er lächelte und fuhr fort; es war ein hastiges Flüstern: »Schreiben Sie ihm, daß ich einer der alten Art Fürsten bin, die noch Zeit hatten, inoffiziell zu sein, wenigstens Künstlern gegenüber. Ach, ich habe die Kunst ja gerade deswegen geliebt, weil sie das Gebiet ist, wo ein Fürst wirken kann als Mensch zum Menschen, aus reiner Menschlichkeit für reine, höchste Menschlichkeit, wo es all dieses offizielle Drum und Dran nicht gibt, diese Einschachtelung, diese Gitter aus goldenem Stacheldraht, hinter denen wir eingesperrt sind. Langweilig. Langweilig. – Wenn ich mir nicht sagen dürfte, daß ich diese tödliche, alberne, stockige Langeweile zeit meines Lebens so oft durchbrochen habe, als es nur irgend möglich war, so würde ich mein Leben bedauern, ja verwünschen.

Die Gefahren der Kronen liegen heute nicht mehr im Heroischen, sondern im Trivialen. Ihr Dichter hat recht: aus dem Volke ist Publikum geworden, und dieses Publikum wünscht bürgerliche Komödien, in denen der Fürst den Helden nur markiert. Da das Leben nicht mehr imstande ist, der Dichtung Stoff zu Heldentragödien zu liefern, so muß die Dichtung große, heroische Gefühle ins Leben tragen. Pathos, lieber Graf! Pathos!«

Der Fürst sank in sich zusammen, schmiegte den Kopf schräg gegen die Lehnenwange des Stuhls und ergriff Felixens Rechte mit seiner linken Hand, sie auf die Armlehne legend und streichelnd. Er schien völlig erschöpft und atmete in kurzen, flachen Zügen. Es trat eine Pause ein, während der Felix ihn aufmerksam betrachten konnte, denn der Fürst hatte mit einem Male die Augen geschlossen. Ein Schreck durchfuhr den Betrachter: Wenn er jetzt stürbe! Er hätte aufstehen und den Kammerdiener herbeirufen mögen. Aber seine Rechte war von der Hand des Kranken wie von einer kalten Handschelle umschlossen.

– Es geht zu Ende mit ihm, dachte er sich; – und was wird dann aus mir?

Da schlug der Fürst die Augen auf.

»Ich habe mir überlegt,« sagte er, ganz ruhig einsetzend, »was wir zusammen noch tun könnten, ehe die alte Dame kommt. Wenn Sie mir morgen das Buch Ihres Dichters bringen, wird Gelegenheit sein, darüber eingehend zu reden. Diese Nacht werde ich schlafen. Ich fühle es. Und morgen werde ich frisch und klar sein...«

Er schloß wieder die Augen und sprach, ohne sie zu öffnen: »Sorgen Sie immer für schöne Stimmen. Schöne, volle, warme Stimmen. Und für Jugend. Denken Sie an König David und die junge Abisag von Sunem. Er war alt und fror wie ich. Da sprachen seine Knechte zu ihm: ›Laßt sie meinem Herrn Könige eine Dirne suchen, eine Jungfrau, die vor dem Könige steht und seiner pflege, und schlafe in seinen Armen und wärme meinen Herrn und König.‹ Ja, Jugend macht warm und jung. – Denken Sie: Er sitzt in seiner Loge und friert; nur Jugend kann ihn wärmen... Die Luft des Theaters... O...« Das abgespannte Antlitz lächelte. »Odeur de femme... Warm erregtes Leben... Glanz auf Augen und Mund... Volle Stimmen und zärtliche Blicke... Noch, wenn der Vorhang sich senkt, schlägt eine warme Welle hinauf... Pathos und Liebe... Wollust und Ideal... Thalia mit den goldenen Lippen...«

Seine rechte Hand hob sich müde zu einem weiten Bogen. Dann sank sie wie leblos aufs Knie. – Jetzt schlief er wohl?... Plötzlich richtete er sich auf und sah irre um sich: »Wer war hier!?«

– »Es ist niemand...«

– »Schon gut! Ich will nicht Bathseba und Nathan, Zadok und Benaja. Rufen Sie es aus und sagen Sie es jedermann: Ich bin gesund. – Morgen werde ich ausfahren. Mit Ihnen. Auf den Schloßberg und zum alten Intendanten. Sagen Sie es jedermann: Ich fühle mich völlig wohl.«

Er erhob sich von Felix gestützt, mühsam. Die Bibel glitt auf den Boden. Felix hob sie auf.

»Sie hat auf mir gelegen wie eine Decke,« sagte der Fürst; »Luther hat recht, sie ist ein sehr großer weiter Wald mit allerhand Bäumen, und jeder findet Früchte auf ihnen. Aber man kann sich darin verlaufen. Nur alte Leute finden sich in diesem Walde zurecht. – Die Bibel ist das einzige von meinen Lieblingsbüchern, aus dem ich mir nie habe vorlesen lassen.«

Er lächelte sonderbar und geleitete Felix ein paar Schritte. Im nächsten Stuhle ließ er sich wieder müde nieder: »Ich will schlafen. Sagen Sie es draußen. Niemand soll mich stören. Und zu Friedrich: Morgen nachmittag um drei Uhr Ausfahrt mit Ihnen.«

Als Felix an der Tür seine letzte Verbeugung machte, sah er, daß der Kopf des Fürsten vornübergesunken war und hörte ihn leise röcheln.

Im Korridor schon empfingen ihn flüsternde Fragen. Er setzte ihnen sein steinernes Gesicht entgegen und antwortete, wie ihm befohlen worden war.

In ihm aber stießen sich Unsicherheit, Angst und Hoffnung.

Er hatte das Gefühl, einen Sterbenden verlassen zu haben, aber die Zuversicht zu seinem Sterne drängte es heftig zurück.

Unmöglich! sagte er sich, es kann nicht sein! Es wäre sinnlos. Und wenn es ein Wunder wäre: es wird geschehen! Ich werde morgen mit ihm zum Intendanten fahren.

Als er in seinen Wagen steigen wollte, sah er den Prinzen über das Rondell kommen und ihm zuwinken.

– »Wie stets oben? Böse Gerüchte überall. Wollte eben ins Schloß. Nachfragen.«

– »Er schläft.«

– »Nun, – und?«

– »Ich bin beauftragt, zu erklären, daß er sich wohl fühle. Hat mich auf morgen zur Ausfahrt befohlen.«

– »Ausfahrt? Also bloß leeres Gerede gewesen. Gottlob. Russische und englische Verwandtschaft wieder mal falsch berichtet. Na ja. – Und sonst? Quant à vous? Richtig: Ausfahrt! Müssen mir erzählen.«

Er stieg zu Felix in den Wagen und überredete ihn, mit in die Weinstube zu kommen, wo sich die Offiziere zu treffen pflegten.

Auch dort war man überrascht, von Felix zu hören, daß der höchste Herr sich wohl befinde. Die ganze Stadt war voll von Berichten über Ohnmachtsanfälle, Fieberdelirien, Agonie des Fürsten. Sogar »die ächzende Gräfin« sollte tatsächlich bereits gesehen und gehört worden sein.

»Das ganze Schloß ist verrückt,« sagte der Oberst. »Jeder weiß was anderes. Von den obersten Hofschargen bis zum letzten Küchenjungen sind alle wie besessen. Frau von Senkenberg schwört, die Ächzende selber gesehen zu haben.«

»Das kommt davon, wenn man Eau de Cologne für ein Getränk hält,« meinte ein Major.

»Nee, es ist die Hoflust,« erklärte der Oberst. »Ich habe schon öfter die Beobachtung gemacht, und nicht bloß hier: wenn ein regierender Herr auch nur den Schnupfen hat, so kriegt alles, was um ihn herum ist, mindestens das Grippenfieber. Und nun gar, wenn, wie diesmal, der Regierende ein paar Tage niemand zu sich läßt außer dem Kammerdiener, und wenn dieser Würdenträger erklärt, der höchste Herr sehe schlecht aus, – dann braucht nur eine Kammerfrau in der Nacht mal wohin zu müssen, und am nächsten Tage hat der ganze Hof das Schloßgespenst gesehen. Danken wir unserm Schöpfer, daß wir Soldaten sind, meine Herren.«

»Ich an Ihrer Stelle, Graf,« wandte er sich zu Felix, »würde es mir noch sehr überlegen, die Reiteruniform auszuziehen und den gestickten blauen Frack anzutun. Den schwarzen haben Sie ja jetzt schon an...«

Felix fühlte, daß das keine Huldigung für sein Zivil bedeutete, und er hielt es für angebracht, zu lügen: »Es war der Wunsch Seiner Hoheit, daß ich so erschiene, und ich würde mich auch nur auf seinen bestimmten Wunsch hin dazu bereitfinden, die Uniform an den Nagel zu hängen. Und, weiß Gott, nicht mit Begeisterung.«

Diese Antwort gefiel sehr, und der Oberst erwiderte: »Bravo, Graf. So spricht ein Offizier. Jammerschade, daß Sie schließlich doch wohl genötigt sein werden, die Reitstiefel auszuziehen. Diese Audienz hat am Ende schon die Entscheidung gebracht?«

– »Doch nicht, Herr Oberst. Ich habe um die Erlaubnis gebeten, Gegenbedenken zu äußern, mit der Bitte, mich wenigstens noch eine Reihe von Jahren im Sattel zu lassen. Morgen soll die Entscheidung fallen. Ob freilich nach dem Wunsche meines Herzens, wage ich nicht mit Bestimmtheit zu hoffen. Aber, wie sie auch fallen möge: ich werde bemüht sein, an jeder Stelle meine Pflicht zu tun. Ich meine, auch damit als Offizier zu handeln, der sich nie fragen darf, ob ihm ein Kommando gefällt oder nicht.«

Felix sagte dies mit so schönem soldatischem Ernste, daß jeder seiner Kameraden von dem Gefühle durchdrungen war, Töne einer schmerzlichen Resignation vernommen zu haben, männlich gefestet durch echt militärischen Geist. Man bedauerte und bewunderte ihn gleichzeitig. Er konnte sich keinen besseren Abgang wünschen und war auch selbst recht ergriffen von seinen Worten.

In diese schöne Szene brach der Herr Hoftraiteur Schulze, genannt das dicke Moselblümchen, mit den asthmatisch hervorgestoßenen Worten ein: »Am Schloß ist die schwarze Fahne aufgezogen!«

Alles sprang auf. Nur Felix blieb sitzen.

Er saß noch da, als sämtliche Offiziere das Zimmer verlassen hatten.

Er saß und starrte vor sich hin. Wie ein Niedergebrochener. Es war ihm, als wäre er genarrt, verhöhnt, entblößt, gedemütigt worden.

»Bin ich denn verrückt?!« sagte er plötzlich laut.

Er stand auf und lief auf die Straße. Lief zum Schlosse. Sah die Fahne.

Er mußte sich mit Aufgebot aller Kraft davon zurückhalten, den Wachtposten zu fragen: Ist das dort eine schwarze Fahne?

Eine Reihe fürstlicher Equipagen stand vor dem Schlosse. Er sah, wie der einen die lange schmale ihm wohlbekannte Gestalt des russischen Großfürsten entstieg, der seit einer Woche hier weilte. Ein junger Prinz von Großbritannien entstieg einer andern.

– Und ich?! hätte er schreien mögen. Ich? Wo bleibe ich?

– »Bin ich auf einmal ein Nichts? Ein Leutnant? Ich, der ich morgen...«

»Ja, morgen!« murmelte er höhnisch und stieg, endlich einmal angeekelt von sich selbst, in seinen Wagen, der hinter ihm hergefahren war.


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