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Als Henfel vom Reiten nach Hause kam, überraschte er Frau Klara durch etwas, was sie durchaus nicht erwartet hatte: durch leidenschaftliche Reue, die offenbar ernst war.
Er warf sich ihr an den Hals und schluchzte mehr, als daß er sprach: »Ich habe mich erbärmlich betragen. Ich bin gemein gewesen. Ich bin nicht wert, daß du mich ansiehst. Hermann hat ein Recht, mich zu verachten. Ich bewundere ihn und weiß jetzt, wie tief ich unter ihm stehe. Ich bin ein Nichts neben ihm. O, wie froh bin ich, daß ich das fühle! Wie froh bin ich, daß ich zu mir gekommen bin! Ich möchte zu ihm rennen und ihm sagen, daß er mein Meister ist, mein Besieger, und daß er mich ins Gesicht schlagen soll.«
Frau Klara schwieg erstaunt. Sie sah ihm in die Augen, ob etwas Falsches darin wäre. Nein: es war nichts in ihrem Ausdruck, als leidenschaftliche Ergriffenheit. Scham, Schmerz.
»Wie ist dir das gekommen, Henfel?« fragte sie ihn.
Er antwortete: »Ich weiß nicht. Ich sprang aufs Pferd, wütend beleidigt, auf Rache sinnend. Ich war so niederträchtig gemein, mir auszudenken, wie ich die Sache Papa beibringen und ihn bitten wollte, seine Hand von Hermann abzuziehen. Hungern soll er, verrecken! – verzeih Mama, – verzeih –, aber ich muß dir alles sagen: verrecken, wie ein räudiger Hund, knirschte ich vor mir hin, während ich durch den Englischen Garten galoppierte. Ich stellte ihn mir vor, wie er bettelnd ankäme und nach meiner Hand haschte, um Verzeihung winselnd. Und ich malte mir aus, wie ich vor ihm ausspucken würde. Und ich suchte die scheußlichsten, höhnischsten Beleidigungen zusammen, mit denen ich ihn fortjagen würde. Eine Geldbörse wollte ich hinter ihm herwerfen und dazu rufen, wie man einen Hund zum Apportieren bringt: Allez! Such! – Da, mit einem Male, scheute der Braune und blieb wie in die Erde gerammt stehen, so daß ich beinahe über seinen Kopf weg einen Salto geschlagen hätte. Aber na, du weißt ja, reiten kann ich: ich saß gleich wieder fest. Was wars? Ein weißes Truthahnkücken – wir waren schon im wilden Teil des Gartens – lag blutend und zappelnd mitten auf der Straße, offenbar von einem Fuchs angegriffen, der nun die Flucht ergriffen hatte. Du kennst mich. Ein solcher Anblick erregt mich sonst nicht weiter. Aber, ich weiß nicht, wie es kam, kurz: Ich empfand fast schreckhaft ein furchtbares Mitleid mit dem zerrissenen Tiere. Ich sprang vom Pferd und gab ihm den Gnadenstoß. Nicht einmal die Augen offenbehalten konnte ich, wie ich zustieß. Aber ich stieß gut zu. Das kleine Tier regte sich nicht mehr. Jetzt lauert der Fuchs irgendwo im Gebüsch, dachte ich mir, und, wenn ich weg bin, schleicht er her und holt sich seinen Fraß. Soll ich ihn hindern? Nein, denn gewiß, ihn hungert. Und nun hatt ich mit ihm Mitleid. Ich stieg ganz sachte aufs Pferd und ritt im Trabe weiter. Hermann hatte ich völlig vergessen. Ich fragte mich nur immerzu: Wie kam es, daß der Anblick des leidenden Tieres mir wehe getan hat? Ich weiß doch, daß Mitleid Schwäche und Unvernunft ist, und daß der Starke seinen Blick über fremdes Leid wegrichten muß. Was wird Papa dazu sagen, dacht ich mir, wenn ich ihm davon berichte? Wird er mich nicht verachten? Denn, schließlich, wenn ich nicht einmal einen jungen Truthahn leiden sehen kann, wie soll ich mich dann über größeres Leid von Wesen, die mir näher stehen, hinwegsetzen? Bin ich nicht am Ende ebenso sentimental, wie Hermann? Hermann! Es gab mir einen Ruck, und ich war wieder bei der Sache. Aber aller Groll, alle Wut war weg. – Ich glaube nicht, daß das im direkten Zusammenhange mit dem kleinen Erlebnis stand. Jedenfalls ist mir kein Zusammenhang bewußt. Denn ich empfand nicht etwa Mitleid mit Hermann, sondern mit mir. Ganz unvermittelt fühlte ich mich schauderhaft klein und elend. Erst gab ich mich diesem Gefühle wütend hin. Ich war wie geschüttelt. Dann regte sich in mir der Gedanke: das ist die Strafe für die Weichheit! Papa hat recht: Mitleid ist eine Schwäche, die noch schwächer macht, ist Abzehrung des Gefühls für alles Starke. – Aber dieser Gedanke verfing nicht. Das Gefühl meiner Kleinheit und Jämmerlichkeit begann mir wohlzutun. Ich stellte mir alles, was geschehen war, vor und erkannte nur immer deutlicher, wie gemein ich gewesen war, und wie hoch Hermann über mir steht. Und, je klarer ich das erkannte, mit dem Gefühl, weißt du, und deshalb so unbestreitbar sicher, um so wohler wurde mir. – Ich ging wieder in Galopp über und schrie, querfeldein über die Stoppeln da draußen jagend, vor mich hin: Du Elender du, du Nichtswürdiger du, freue dich, du hast deinen Meister gefunden. Der soll dein Freund und Führer werden, wenn du seiner einmal würdig sein wirst. So sei es! So sei es! Hurra! Hurra! So sei es!«
»Ja, Henfel, so soll es sein!« rief Frau Klara aus und küßte ihn auf den Mund. »Wie bin ich froh, daß du so zurückgekommen bist! Wie würde sich Hermann freuen, wenn er dich so sprechen hörte!«
– »Soll ich jetzt gleich zu ihm rennen?«
– »Es wäre vielleicht gut, Henfel, aber nein, – es geht nicht. Du weißt, Papa wünscht es nicht, daß du... Aber schreib ihm! Schreib ihm gleich! Ganz, wie dirs ums Herz ist, schreib ihm! Vielleicht kommt er dann auch wieder zu uns.«
– »O, Mama, ganz gewiß kommt er! Du sollst sehen, wie ich ihm schreibe!«
Henfel rannte, ganz Kind, mit mutwilligen Sätzen in sein Studierzimmer hinauf, warf Reitpeitsche, Hut und Handschuhe in eine Ecke und setzte sich an den Schreibtisch. Aus dem Stoße seiner schönsten, größten und dicksten Briefbogen zog er einen hervor und schrieb mit großen Zügen darauf:
An meinen Meister Hermann!
Nein! :rief er aus, wie er das geschrieben hatte, und zerriß den Bogen.
Und er schrieb:
Meinem herzlich geliebten Freunde und Meister Hermann!
Aber auch das war noch nicht genug. Auch dieser Bogen flog in den Papierkorb. Eine Pause. Dann schrieb er, gewaltig dick und dreimal unterstrichen:
Meinem Freunde, Meister und Herzog!
Er stand auf und ging an den Spiegel, lachte und grimassierte hinein, steckte sich die Zunge heraus und rief: Aff!
Setzte sich wieder in den Schreibstuhl und las laut und zufrieden vor, sehr betont und feierlich: Meinem Freunde, Meister und Herzog! – Und setzte die Feder zu einem schwungvoll ausgemalten H an und schrieb weiter (den Namen aus lauter Initialen):
HERMANN, den ich beleidigt, mein Freund und Meister und Herzog! Tief erfüllt es mein Herz: ich habe schmachvoll gefehlet, Denn mit geiferndem Zahne verwundete das edelste Herz ich. |
Pause. Henfel klopfte mit dem Finger den letzten Hexameter ab und überzeugte sich, daß er einen Fuß zuviel hatte.
Weg mit dem Bogen! Nochmals abgeschrieben und aus dem »verwundete« ein »zerriß« gemacht. »Zerriß ist auch bedeutend besser«, dachte er bei sich, »denn ich habe sein Herz nicht bloß verwundet, sondern zerrissen.«
Und fuhr fort zu schreiben:
Deins! – Doch dein edles Herz verzeiht die Bosheit des Jungen.
»Jungen?«... Henfel runzelte die Stirne. »Nicht lieber: Knappen? Ja, Knappen ist edler!«
Den Bogen zerrissen, weggeworfen und abgeschrieben. Also:
Deins! – Doch dein edeles Herz vergißt die Bosheit des Knappen, Der von nun an stets in deinem Gefolge will reiten, Stolz auf dich, seinen Freund (wenn du willst) und Meister und Herzog!« |
Wieder an den Spiegel und das ganze rezitiert (er wußte es schon auswendig).
»Eigentlich wärs genug«, meinte er bei sich selber. »Es hat antike Kürze. Aber nein! Nicht genug! Ich muß um Verzeihung bitten!«
Und schrieb weiter:
Nimm mich gnädiglich an! Ich beuge die Kniee und flehe: Nimm mich gnädiglich an zum Zeichen deiner Verzeihung, Die ich gebeugten Haupts aufrichtigen Herzens erbitte. |
Das zweimal gnädiglich gefiel ihm so sehr, daß er die drei Verse sich immer wieder vorlesen mußte. Aber, je öfter er sie sich vorlas, um so weniger schienen sie ihm geeignet, den Schluß zu bilden. Und er fügte in einem Zuge hinzu:
Denn ich könnte fortan nicht leben ohne die Liebe Meines Meisters und Freunds und erhabenen Herzogs Hermann!!! |
»Ja: drei Ausrufezeichen! Und ›Meisters‹ und ›Freunds‹ und ›Herzogs‹ doppelt unterstrichen!«
Henfel setzte noch seinen oft geübten, genial unleserlich wie hingebürsteten Namenszug »Henry Felix Hauart« darunter und sprang mit seinem Werke die Treppe hinab zu Frau Klara.
Diese wunderte sich zwar nicht wenig über die rhythmische Form und die überschwängliche Ausdrucksweise des »Briefes«, und es erschien ihr das Ganze im ersten Augenblicke in seiner Vermummung des Gefühls etwas bedenklich, so daß sie den Blick prüfend von dem Bogen zu Henfels Gesicht erhob. Aber ihre Augen überzeugten sich, daß der junge Versifex hier eine durchaus unbewußte Gefühlsmaskerade getrieben hatte, und sie sagte sich, so kindisch sie sich ausnahm, daß doch auch gerade in ihr etwas Liebenswürdiges lag: das Bestreben, den Gefühlsausdruck durch eine Art von Leistung zu steigern. Die Gedichte Hermanns, dachte sie bei sich, würden wohl von anderer Art sein, keine Verkleidungen des Gefühls, sondern Gestaltungen, aber immerhin: auch in dem Henfelschen Opus war wohl ein gewisser, wenn nicht dichterischer, so doch künstlerischer Trieb am Werke gewesen. Und sie freute sich dessen. Vielleicht, dachte sie weiter, muß ich hier ansetzen, um Henfel mehr zu sich selbst zu leiten. Und sie strich ihm die Backen und sagte: »Sieh mal an! Ein kleiner Poet! Das freut mich, Henfel! Hast du sonst schon Verse geschrieben?«
Henfel wurde rot. »Ach ja, Mama, aber das da sind entschieden meine besten... Findest du sie gut genug, daß ich sie Hermann schicken kann?«
»Ich glaube, daß sie gut und ehrlich gemeint sind, Henfel... Das ist in diesem Falle die Hauptsache.«
»Wird er nicht womöglich darüber lachen?« meinte Henfel und nahm schon wieder einen bedenklichen Ausdruck an.
– »Ach Unsinn! Wie kannst du so was denken? Höchstens wird er in seiner Bescheidenheit finden, daß du des Guten zu viel getan hast bei seinem Preise.«
»Er soll nicht so bescheiden sein! Deshalb habe ich ja gerade die Ausdrücke so gewählt!« sagte Henfel und log sich etwas vor. Aber seine Empfindung dabei war ganz echt. Sein Herzog sollte in der Tat stolz sein und nicht bescheiden. Übrigens war er mit dem Maße der Anerkennung nicht ganz zufrieden und zeigte bald die Merkmale einer deutlichen Abkühlung.