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Als er am nächsten Tage aus der Schule nach Hause kam, immer noch das Herz voller Gnaden, fand er Frau Sanna in seinem Zimmer.
Sie machte ein bekümmertes Gesicht und sprach: »Ich habe dich hier erwartet, weil ich mich unmöglich vor dem Onkel aussprechen kann. Es gäbe ein Unglöck!«
Henry erschrak fürchterlich. Entsetzlich! Bertas Besuch bei ihm war entdeckt worden!
Fassungslos stammelte er: »Um Gottes willen, Tante, du denkst doch nichts Schlimmes!? Es war ja nur...« Er griff, wie hilfesuchend, nach ihrer Hand.
Sie überließ sie ihm, sagte aber doch mit strengem Tone: »Es ist onentscholdbar. Nun bist du fast vier Jahre in einem christlichen Hause, hast dich auch immer wie ein rechter Christ aufgeführt, und wir haben wirklich geglaubt, du seiest einer. Und nun aufs neue dieser heidnische Greuel...!«
Ist sie verrückt geworden durch die Entdeckung? dachte sich Henry; es ist doch direkt blödsinnig, hier von Christentum und Heidentum zu reden!
Da bemerkte er, daß ihre Augen mit unverstelltem Abscheu auf der blau-weiß-goldenen Madonna ruhten. Er verstand und mußte laut auflachen, indem er schleunigst Frau Sannas Hand losließ.
Nun wurde die aber gewaltig bös: »Du lachst?! Du... Du hast dieses Götzenbild also in der bestimmten Absicht aufgerichtet, mir einen Schabernack anzutun? Das soll dir übel bekommen!«
So sehr sie in letzter Zeit geneigt war, Henry gegenüber die Milde zu spielen, so unfähig war sie zu dieser Rolle, wo es sich nach ihrem Gefühle um eine Verhöhnung der gereinigten Lehre handelte. Sie bebte.
Aber Henry außer sich vor Glück, daß das Entsetzliche offenbar nicht geschehen war, mußte diesem Gefühle der Erleichterung freien Lauf lassen. Er lachte unablässig weiter. Der kleine Raum erdröhnte unter seinem schallenden Gelächter.
Das war zuviel. Frau Sanna, genau dort stehend, wo in der vergangenen Nacht Berta gestanden hatte, als Henry ihr das Halsband entgegenreichte, fühlte den ganzen Zorn Gottes in sich, und dieser schrie nach Zerschmetterung des heidnischen Greuels. Sie stürzte nach dem Tisch, ergriff die Madonna und machte Miene, sie zum Fenster hinauszuwerfen.
Wie Henry das sah, brach sein Gelächter jäh und schrill ab. Eine ungeheure, wilde Wut packte ihn. Er umpreßte Frau Sannas Handgelenk und brüllte: »Hinstellen!«
»Nein!« kreischte Frau Sanna auf, obwohl sie vor seinen hervorgetretenen, rot unterlaufenen Augen erschrak, und bemühte sich, durch Kratzen mit der linken Hand seine Rechte von ihrem Handgelenk loszukriegen.
Aber gegen die Mutter war Henry von standhafterer Kraft, als gegen die Tochter.
Er brach ihr fast das Handgelenk und zwang sie die Figur loszulassen.
Sie fiel auf den Tisch und zerbrach.
Jetzt war die Reihe, zu lachen, an Frau Sanna. Jedoch sehr zur Unzeit. Denn dieses höhnische Gelächter steigerte die Wut Henrys ins Maßlose.
»Du hast mir meine Madonna vernichtet?!« brüllte er, »du?! du?! du?! das sollst du mir büßen! Das ist das Letzte! Alles andere kann ich vergessen, aber das nicht! Denn diese Madonna war meine Mutter, meine gestorbene Mutter, und meine Braut, meine lebendige Braut! Soll ich sie dir zeigen? Jetzt!? Auf der Stelle? Komm mit! Komm hinunter! Sie sollst du um Verzeihung bitten, sie! Denn sie hast du beleidigt, du christliches Greuel!«
Frau Sanna fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und stürzte mit dem Schreckensrufe ab: »Er ist verröckt geworden! Er ist verröckt geworden! Jeremias! der Katholische ist verröckt geworden!«
Da kam Henry zur Besinnung.
Was hatte er da gesagt! Um Gottes willen: was hatte er da gesagt! Wenn sie nun Sinn und Richtung seiner Worte verstanden hatte! Und überhaupt: nun war ja alles vorbei! Nach dieser Szene würde sie nie einwilligen... Er hatte mit seiner tierischen Wut alles zunichte gemacht, was gestern nacht sich so herrlich entfaltet hatte! – Es gab nur ein Mittel, er mußte den Kranken spielen, den Überarbeiteten.
Er warf schnell die Scherben in die Kommode, legte sich ins Bett und verlangte nach dem Arzt.
Durch die offene Türe hörte er noch eine Weile Tante Sanna kreischen und wimmern; dann ließ ihn die Stimme Bertas erschauern, und es wurde still.
Nach einer Weile kam der Arzt und mit ihm Onkel Jeremias. Merkwürdig: der machte ja gar keine Unheilsaugen? Nannte ihn vielmehr »lieber Junge«? Erkundigte sich sorglich beim Doktor, ob die Sache auch wirklich nichts auf sich habe? Und ging ab, ohne eine zornmütige Rede gehalten zu haben?
Was ist denn das? dachte sich Henry; das verstößt doch gegen die Naturgesetze? Ich muß doch mindestens »schmachbeladene Kreatur« genannt werden?
Da hörte er draußen hüsteln und sah, wie er nach der Türe blickte, daß ein Zettel durch die Schwellenglinze geschoben wurde.
Er war wie der Wind bei der Türe und nahm den Zettel auf. O, du himmlische Güte und Seligkeit! Er war von Berta.
Henry küßte ihn schnell; dann las er:
»Ich habe Mama nicht anders beruhigen können, als durch allerhand Andeutungen und ›Geständnisse‹, als ob wir uns ›heimlich verlobt‹ hätten. Sie hält Dich nicht mehr für verrückt und auch nicht mehr für einen heimlichen Katholiken. Sie schiebt alles auf die ›heimliche Verlobung‹, gegen die weder sie noch Papa etwas einzuwenden haben, wie es scheint, wenn sie auch nichts ›davon wissen wollen‹. Du verstehst mich hoffentlich? Du darfst ja nicht merken lassen, daß Du weißt, daß die Eltern wissen, und die Eltern wissen überhaupt nichts. Sie erklären alles für Narrheit und haben mir verboten, je wieder allein mit Dir zu reden, – bei Strafe sofortigen Abschubs in die französisch-reformierte Schweiz. Mama hat mich ein ›schändliches Mädchen‹ genannt, Papa verstieg sich zu dem Ausdruck ›hinterlistiges und unbesonnenes Geschöpf‹. Wenn es ihnen aber ernst wäre, wärs ganz anders gekommen, zumal bei der ungeheuren Wut, in die Du Mama versetzt hast. Sie macht Bleiwasserumschläge um ihr Handgelenk. Soviel Kraft hätte ich Dir gar nicht zugetraut. – Schweig um Gottes willen gegen Karl! Mit ihm muß ich reden. Nur ich! – Bleibe noch eine Woche im Bett liegen! Es ist besser so. – Streichle die Opale und denke an
Berta.«
Als ob Henry daran hätte erinnert werden müssen!
Dieser Brief hob ihn auf den Gipfel des Glücks.
Jetzt war er wirklich »heimlich verlobt«. Dieser Brief war ein Dokument und ein Amulett. Er steckte ihn in dasselbe Säckchen, in dem er früher die Hundertmarkscheine getragen hatte, und ließ es auch im Bette nicht von der Brust. Desgleichen kam das Opalhalsband nicht von seiner Bettdecke.
Er war so glücklich, daß ihm selbst Onkel Jeremias und Tante Sanna wie zwei gute, liebe Menschen erschienen, die es immer aufs herzlichste und beste mit ihm gemeint hatten. Nicht mehr Rachedurst erfüllte ihn gegen sie, sondern Reue und der feste Entschluß, alle seine gedachten und begangenen Schändlichkeiten einstmals gutzumachen.
Er war überhaupt ganz voller Reue, vergleichbar einem Schwamme, der Essig gesogen hat.
Sein ganzes Leben war doch eigentlich ein einziger Unflat. Wie konnte man mit einem Engel zusammen wohnen und dabei Häuser der Sünde besuchen?
Obwohl er gar nicht krank war, spielte er nicht bloß vor den anderen, sondern auch vor sich selbst den Schwerleidenden. Er fand, daß er büßte, und diese Buße, da sie doch eigentlich nur in Bettruhe bestand, tat ihm innig wohl. Wirklich schmerzlich war nur das eine, daß kein zweiter Brief Bertas den Weg über die Schwelle fand.