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Henry kam in einem Zustande zu Hause an, der von Tobsucht nicht allzuweit entfernt war.
Er hatte entschieden vor, seine Wut an Karl auszulassen, dem er die Hauptschuld an dem erlittenen Schock beimaß, denn wer anders als Karl war es gewesen, der ihn überredet hatte, sich mit einer Person dieser impertinenten Art einzulassen? – Aber jetzt wollte er es ihm einmal sagen, daß er sich auf diesem Gebiete Ratschläge verböte! Er kümmere sich ja auch nicht um des Vetters erotische Bedürfnisse und Geschmacksneigungen. – Gott behüte ihn davor! Sie seien ihm zu sonderbar.
Und er gedachte, dem erhabenen Herrn jetzt nichts zu schenken, mochte kommen, was da wollte! Er hatte das Bedürfnis, jetzt jemand sich am Boden winden zu sehen.
Aber Karls Türe war verschlossen und wurde nicht geöffnet, obwohl Henry schließlich mit den Füßen dagegen stieß.
– »Laß mich in Ruhe! Ich habe zu tun!«
– »Hast du vielleicht – Damenbesuch?«
– »Schweig! Ich arbeite!«
– »Mit – wem denn?«
– »Laß das unsinnige Gefrage! Ich bin mit einer großen Sache beschäftigt.«
– »Ich glaube schon, daß es etwas Sächliches ist.«
– »Was soll das! Ich verstehe dich nicht! Du bist, scheints, betrunken!«
– »Ich kann mich auch deutlicher ausdrücken.«
– »Bitte: später! – In ein paar Stunden lege ich dir die Sache vor. Sie kann auch für dich Folgen haben. Es ist eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit, die für unsere Zukunft entscheidend sein kann.«
Es war etwas im Tone Karls, das Henry zwang, stille zu sein, – wenigstens ihm gegenüber. Dafür verübte er in seinen Zimmern einen um so höllischeren Lärm.
Zuerst warf er sämtliche, in kostbaren Bronzerahmen auf seinem Schreibtische stehenden Bilder Lianens gegen einen großen Wandspiegel. Dann feuerte er alles, was zur Hand war, gegen die Wände und Türen. Eine Bronzenachbildung der Statue Lianens, die ihren Schöpfer berühmt gemacht hatte, flog durch die Glasfüllung einer Türe dem würdigen John an den Kopf, der vor Schmerz seine dignitäre Haltung verlor und laut aufbrüllte.
»Schweigen Sie!« herrschte ihn, die Tür aufreißend, Henry an, »und werfen Sie das Ding auf den Kehrichthaufen! Dann packen Sie unsere Koffer, aber schnell! Und nehmen Sie Billetts nach London! Lassen Sie die Rechnung bringen. Schnell! Schnell! Himmelherrgotts-Donnerwetter, Sie verfluchter traniger Lümmel, so stehen Sie doch nicht so untätig da!«
John riß beide Augen zur Weite von Eierbechern auf und murmelte: »Ich bitte um meine Entlassung!«
– »Scheren Sie sich zum Teufel!«
– »Ich bin eine solche Behandlung nicht gewöhnt.«
– »Dann werden Sie Präsident der Republik, oder gewöhnen Sie sich daran. Das Leben ist ein Karussellfahren. Aber vorher besorgen Sie, was ich Ihnen befohlen habe.«
Henry warf sich in ein Fauteuil und stieß mit beiden Füßen nach dem davorstehenden großen runden Tische, daß er umfiel und den Boden mit zerbrochenen Gläsern, Karaffen, Vasen übersäte.
Aber auch der Kosak fiel mit hinunter.
Das brachte Henry augenblicklich zur Besinnung. Er sprang auf, zu sehen, ob seinem Heiligtume nichts passiert sei. Nein, die Erzeugnisse aus russischem Phosphoreisen vertragen einen Puff. Aber das goldene Kästchen darunter, mit dem Briefe Papa Hauarts, hatte eine Einbeulung erfahren.
Henry stellte den Tisch wieder auf und setzte den Kosaken in die Mitte. Er starrte ihn ausdruckslos an und versank in ein Gewühle von dumpfen Empfindungen. Wut kämpfte mit Ekel. Erst wars nur Wut auf Liane, Ekel über seine klägliche Haltung ihr gegenüber. Dann wandte sich Wut und Ekel gegen sich selbst, gegen sein ganzes Leben, und der übliche Umschlag kam: Selbstanklagen, jämmerliche Verzweiflung, dumpfes Sichselbstsinkenlassen. Liane erschien hoch, königlich: eine römische Kaiserin. Was sein Blick während der Szene vorhin beim Tee leer gestreift hatte, sah er jetzt in aller Majestät himmlischer Fülle und Schönheit.
»Verloren! Verloren! Weg!« brüllte er auf. »Hätte sie mich doch geschlagen, gepeitscht, getreten!«
Er bohrte sich wollüstig in diese Vorstellung ein, malte sie sich aus, sah und fühlte Hieb auf Hieb, Tritt auf Tritt, und wimmerte keuchend vor sich hin in einer scheußlichen Entzücktheit und Verlorenheit.
So traf ihn Karl an, als er nach zwei Stunden seit Henrys Heimkunft ins Zimmer trat. Er trug in der linken Hand einen vierarmigen brennenden Leuchter, in der rechten eine mit altem japanischen Goldbrokat überzogene Mappe, war in Frack und weißer Halsbinde, und sah sich aufs äußerste erstaunt um, als er nach und nach gewahrte, in welchem verwüsteten Zustande sowohl das Zimmer, wie sein Bewohner war.
»Du hast, scheints, einen kleinen Wahnsinnsanfall gehabt,« sagte er ruhig; »nun, du kannst dirs leisten. Einem weniger Bemittelten würde ich vorschlagen, eine Gummizelle zu beziehen. Vandalismus ist heutzutage ein kostspieliger Sport. John ist übrigens auch nicht mehr ganz und dürfte nur gegen ein Schmerzenstrinkgeld von tausend Frank zu bewegen sein, in deinen etwas lebensgefährlichen Diensten zu bleiben. Ich rate dir, ihm das Pflaster zu spenden, denn, da du plötzlich nach London willst, werden wir ihn brauchen können.«
Henry schwieg und stöhnte bloß.
Karl sah mit Vergnügen, wie tief unter der Normallinie des Selbstbewußtseins sich sein vor zwei Stunden noch so üppiger Vetter befand, und hatte die höchst wohltuende Empfindung, es mit entschieden pathologischer Stimmungslabilität zu tun zu haben.
»Du wolltest mir doch«, fuhr er fort, »einige Andeutungen weiter aufklären, die du vorhin gemacht hast. Ich bin bereit, sie jetzt entgegenzunehmen, ehe ich dir die Sache mitteile, von der ich gesprochen habe.«
Ach, Henry war dazu jetzt nicht fähig. Er hatte das Gefühl, morsch bis ins Innerste der Knochen zu sein und statt Blut irgend etwas Kaltwässeriges in den Adern zu haben.
»Also später!« sagte Karl gleichgültig. »Ich will nicht in dich dringen. Auch habe ich augenblicklich ein lebhafteres Interesse daran, daß du mir jetzt aufmerksam zuhörst, als daß du mir Mitteilungen machst. Ich hoffe doch, daß du wenigstens zuhören kannst!«
»John soll Chateau d'Yquem und russische Eier bringen!« sagte Henry.
»Ja, und für mich Madeira,« fügte Karl hinzu. »Ich freue mich, zu bemerken, daß du die Wichtigkeit des Moments ahnst.«
Er läutete und gab dem ganz düster gewordenen John die Befehle.
Dann, als der Wein und die Platte mit den kaviargefüllten Eiern auf dem Tische standen, begann Karl, seine Idee einer kulturprogrammatisch poetischen Begrüßung des neuen Kaisers zu entwickeln. – Es handele sich natürlich nicht um ein dichterisches Erzeugnis für den großen Büchermarkt. Man müsse ein Exemplar auf Pergament drucken und es in einer Hülle aus kostbarstem alten Renaissancebrokat dem Hofmarschallamt in Berlin übersenden, – für den Kaiser. Im übrigen genüge eine Auflage von etwa fünfhundert Stück, wovon man vierhundert an die vornehmsten Tagesblätter, an die literarischen Revuen und an prominente Vertreter des Geistes, sowie an eine Anzahl hervorragender Persönlichkeiten schicken müsse, die durch ihre Stellung im Staate und in der Gesellschaft einflußreich seien. Die übrigen hundert könne man einer vornehmen Verlagsanstalt zum Vertriebe überlassen. Das Ganze müsse schon äußerlich ein Kunstwerk sein, gedruckt natürlich in einer englischen Offizin von Rang, weil sonst nirgendwo auf etwas auch nur halbwegs Anständiges zu rechnen sei. Nur die größte Antiquatype, womöglich alten holländischen Schnittes, entspreche der Monumentalität des Inhaltes und seiner Bestimmung. Dementsprechend müsse ein ganz außergewöhnlich großes Format gewählt werden, doppeltes Lexikonformat etwa oder noch umfangreicher. Und dadurch ergäbe sich die Notwendigkeit eines überaus starken, fast kartonartig starken Papiers. Zum Glück habe er ein solches von unbeschreiblicher Schönheit bei einem großen Importeur von Japanwaren gefunden, ein Papier, das edel sei wie Elfenbein und von einem karessanten Reize wie Seide. Er habe sich nie so etwas Köstliches träumen lassen. Selbst alte Büttenpapiere vornehmster Herkunft wirkten dagegen barbarisch. Es trage mit Recht den Namen kaiserliches Papier, denn es entstamme der kaiserlich japanischen Papiermanufaktur. – Schwer sei es, einen Umschlag zu finden, der dieses wunderbaren Stoffes würdig wäre. Gesteiftes Pergament mit nur wenig Hellgoldpressung neben reichlicherer Blindstempelornamentierung sei wohl das einzige, das man wählen könne. Die Bindung müsse natürlich mit dicken Seidenschnüren geschehen und zwar von dunkelgelber Farbe.
Karl schwelgte sichtlich in Vorstellungen, die ihn hoch entzückten, als er dies vortrug. Aber Henry hörte nur mit geringem Interesse zu. Es fehlte ihm jeder Sinn für einen Luxus, der noch nicht Mode war, und von dem er sich daher auch keine Vorstellung machen konnte. Er hatte nur die Empfindung von etwas Prächtigem, Besonderem, und da begriff er eigentlich nicht, warum das Ding nicht einfach in möglichst dick vergoldetes Maroquinleder gebunden und etwa gold auf schwarz gedruckt werden sollte. Da er gerne mitredete, auch wenn ihn etwas nicht eigentlich interessierte, so schlug er das mit dem Tone tiefer Überlegung vor.
»Ach Gott, ja,« meinte Karl darauf, »es gibt noch eine Menge Möglichkeiten, Pracht und Originalität zu entfalten. So könnte man das Gedicht z. B. auf roten Sofaplüsch einbrennen und in handbemalte Ofenkacheln binden lassen. – Übrigens ist auch mein Vorschlag schon kostspielig und für heutige Verhältnisse ausschweifend genug. Hab keine Angst: man wird die Hände zusammenschlagen über den Verschwender, der diese Publikation bezahlt hat. Das wirst du schon auf dich nehmen müssen. Dafür wirst du aber auch an dem Erfolg partizipieren, die der Inhalt dieser poetischen Urkunde einer neuen Kultur haben wird. – Und nun höre besser zu, als du es bisher getan hast. Ich lese dir jetzt das erhabenste Gedicht vor, das seit 1832 in deutscher Sprache geschrieben worden ist, ein römisches Gedicht in deutscher Sprache, das erste Manifest einer neuen Poesie, mit der sich das dichterische Deutschland an die Spitze der Nationen setzen wird.«
Und er las. Leise, mit einer vor innerer Erregung heiseren Stimme, abgehackt, höchst kunstlos. Zuweilen wurde es ein Murmeln, manchmal klang es, dem Tone nach, wie ein scharf betont vorgetragenes Referat, dann kamen wieder Stellen, bei denen die Stimme in eine Art pathetischer Fistellage geriet, und oftmals war es wie ein bloßes Hauchen.
Aber selbst Henrys Stumpfheit wurde hingerissen, wie ein jeder hingerissen worden wäre, der diese wundervoll mächtig gebauten, aber bis ins Kleinste mit feinster Wortgoldschmiedekunst behandelten Strophen angehört hätte, auch wenn ihr Geist ihm zuwider gewesen wäre: dieser Geist einer kalten, durch kein herzliches Gefühl getrübten Klarheit über die eine Wahrheit, die das Gedicht in leuchtenden Bildern immer wieder als die einzige Grundlage höherer Kultur aussprach: daß alles wesentlich Edle, alles Große und Hohe, alle Gewalt des Geistes und der Seele, und der schranken- und hüllenlose Genuß sinnlicher Schönheit ein Vorrecht und die ausschließliche Pflege weniger sein müsse unter dem Schutze der Macht, die diese höchsten Kulturgüter zu bewahren und zu mehren habe selbst auf Kosten der vollen Bewegungsfreiheit und Emanzipationstriebe der Masse.
Karl war totenbleich, als er die Vorlesung beendet hatte, aber in seinen Augen war das Feuer des von sich selbst ergriffenen Genies, das die innigste menschenmögliche Wollust an sich erfahren hatte, sein Tiefstes, Ganzes künstlerisch bewältigt in lebendiger Form so aus sich herauszustellen, daß es als eine neue Welt und Wahrheit dastand, neben, in, über aller anderen Welt und Wahrheit, souverän und unantastbar im eigensten Gesetz.
Henry ahnte dieses Außerordentliche, – er ahnte es, weil er im Banne der persönlichen geistigen Atmosphäre dieses Inspirierten stand. Und er wurde Karl wieder einmal untertan.
Wenn er jetzt die Abreise nach London aufs hastigste betrieb, so war er selbst aufrichtig davon überzeugt, daß es nur geschah, um Karls Werk, dort so schnell als möglich drucken und binden zu lassen.